Arbeiter:innenmacht

„Wir werden sie zermürben“

Interview mit einem streikenden Rechtsanwalt, Alex Rutherford, Workers Power (Britannien), Infomail 1196, 20. August 2022

Während die industrielle Militanz in Großbritannien zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ansteigt, haben sich die Strafrechtsanwält:innen der Streikwelle angeschlossen. Workers Power sprach mit Saul Brody, einem streikenden Anwalt aus Manchester, über die Bedeutung des Streiks, die Probleme im Strafrechtssystem und die Auswirkungen dieser Probleme auf die Betroffenen. Eine ausführliche Analyse des Streiks wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

WP: Könntest du etwas zum Hintergrund des Streiks sagen und wie er bisher verlaufen ist?

SB: Der Streik ist das Ergebnis eines Streits über die Höhe der Gebühren für die Arbeit in der Strafrechtshilfe. Wir haben am 27. Juni mit den Streikmaßnahmen begonnen. Wir beteiligen uns an dem Streik als Einzelmitglieder der Criminal Bar Association (CBA).

In der ersten Woche haben wir am Montag nicht gearbeitet, dann haben wir den Streik um einen Tag pro Woche ausgeweitet. Als er fünf Tage erreicht hatte, begannen wir, jede zweite Woche eine ganze Woche lang zu streiken. Außerdem nehmen wir derzeit keine Rücksendungen an [1].

Einige Anhörungen werden noch durchgeführt, insbesondere solche, bei denen es um eine schutzbedürftige Person geht und es ungerecht wäre, sie nicht durchzuführen. Alle, sowohl die älteren als auch die jüngeren Anwält:innen, nehmen die Belastung gemeinsam auf sich. Wir werden so lange fünf Tage arbeiten, dann fünf aussetzen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Wir halten zusammen, um die Zukunft der Strafrechtsanwält:innen zu sichern.

WP: Welche Probleme haben zum Streik der Anwält:innen geführt?

SB: Der Streik ist eine Folge der chronischen Unterfinanzierung – die Mittel für das Strafrechtssystem wurden in den letzten 10 Jahren um 28 % gekürzt. Junioranwält:innen leiden am meisten darunter. In den ersten fünf Jahren liegt das Durchschnittsgehalt eines/r Anwält:in in Strafsachen bei nur 12.000 Pfund und damit unter dem Mindestlohn.

Die Anwaltskammer für Strafrecht hat im letzten Jahr 300 – 400 Juniorratgeber:innen verloren. Es gibt keine neuen Bewerber:innen – es gibt zwar viele, aber es sind nicht unbedingt die besten Leute. Viele der besten Anwält:innen gehen aufgrund der stark gestiegenen Honorare in den Wirtschaftsbereich. Einige Leute können immer noch im Strafrecht arbeiten, aber sie müssen entweder sehr engagiert oder sehr wohlhabend sein.

Einige Mainstreamzeitungen haben über diese Themen berichtet. Aber niemand berichtet über die ungerechtfertigten Verzögerungen für Opfer, Zeug:innen und Richter:innen – sie sind unzumutbar lang. Die Situation führt zu einem Chaos in den Gerichten. Prozesse, die 2018 begannen, sind noch immer nicht abgeschlossen. Es wird nicht besser, es wird schlimmer.

Dies ist nicht auf das COVID zurückzuführen, sondern auf den chronischen Mangel an Gerichten, Richter:innen und Verteidiger:innen. Das Justizministerium hält es nicht für vorrangig, die Gerichtsgebäude in Ordnung zu bringen, was das gesamte System weiter belastet.

Das gesamte Budget für Strafrechtshilfe ist winzig – weniger als 1 Milliarde Pfund pro Jahr. Vergleicht das mit den 17 Mrd., die durch Betrug verlorengehen. Diese werden in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt, so dass die Öffentlichkeit über die Effizienz des Strafrechtssystems belogen wird.

Viele Zeug:innen und Opfer werden mehrfach vor Gericht geladen und sagen: „Ich komme nicht wieder, ich war schon dreimal hier, habe mir Urlaub genommen und komme nicht wieder“. Der Regierung gefällt das, denn es führt dazu, dass die Strafverfolgung eingestellt wird, was den Druck auf das System verringert, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

Dies gilt vor allem für Vergewaltigungsfälle, bei denen die Opfer regelmäßig wegen Problemen mit dem System aussteigen.

Die Unterfinanzierung stellt auch eine Gefahr für die Vielfalt dar. Dies wirkt sich auf unterdrückte Minderheiten aus, die nicht die Möglichkeit haben, das Wagnis einzugehen, sich als Anwalt/Anwältin für Strafrecht zu bewerben. Dies führt unweigerlich zu einem Beruf voller weißer, männlicher Mittelschichtangehöriger.

Wir werden regelmäßig aufgefordert, auf Vielfalt zu achten, um Menschen zu gewinnen, die repräsentativ für die Gemeinschaft in diesem Land sind. Strafrecht kann nicht nur ein Hobby reicher Männer sein – wir brauchen Strafverteidiger:innen mit unterschiedlichem Hintergrund.

WP: Was sind die Forderungen des Streiks?

SB: Wir fordern eine Erhöhung der Gebühren für die Strafverteidigung um 25 %. Die Regierung bietet 15 % an, hat aber gesagt, dass dies nicht für den Rückstau an bestehenden Fällen gilt. Das würde bedeuten, dass niemand mehr alte Fälle anfassen will – die Gehaltserhöhung muss für alle Fälle von jetzt an gelten.

Strafverteidiger:innen opfern regelmäßig ihre Zeit, um das System zum Funktionieren zu bringen. Für vieles, was wir tun, werden wir nicht bezahlt. Die Vergütungssätze sind einfach so schlecht. Auf meiner Ebene gibt es einige gut bezahlte Fälle, die einen Ausgleich schaffen, aber die jüngeren Rechtsanwält:innen bekommen das nicht. Mir persönlich geht es gut, aber hier geht es um die Zukunft der Anwaltschaft.

Es ist eine furchtbare Situation, weil ich Mandant:innen habe, über die nicht verhandelt wird. Wir alle wollen arbeiten. Die CBA hat versucht, Justizminister Dominic Raab zum Zuhören zu bewegen, aber natürlich kann er jetzt einfach die Schuld für den Rückstand auf uns schieben, weil wir streiken.

WP: Wie kann der Streik eurer Meinung nach erfolgreich sein?

SB: Wir werden sie zermürben; wir werden nicht aufgeben. Die Lebenshaltungskostenkrise hat die Menschen an den Abgrund gebracht – viele müssen sich auf ihre Ersparnisse verlassen oder sich verschulden, um über die Runden zu kommen.

Die Wahrheit ist, dass es in der Strafgerichtsbarkeit nicht viele fett verdienende Anwält:innen gibt. Wir wenden uns an die breite Masse, nicht an die wenigen Spitzenleute.

Es hat einige Demonstrationen gegeben – ich habe bisher an zweien teilgenommen. Es gab einige Erwähnungen in der Presse und Unterstützung von einigen Abgeordneten. Wir befinden uns derzeit in einer sehr schwierigen Situation, weil keine/r der Politiker:innen in der Tory- (Konservative) oder sogar in der Labour-Partei sagen will, dass sie die Strafverteidiger:innen unterstützen. Die Wahl der Tory-Führung wird uns einen Haufen Idiot:innen bescheren, die nicht wissen, wie man das Land regiert. Wir werden schon etwas erreichen. Wir stecken derzeit in der Frage fest, ob das Gehaltsangebot für rückständige Fälle gelten wird. Wir brauchen auch ein indexiertes Gehaltssystem, das von einem unabhängigen Gremium kontrolliert wird, da unsere Gehaltserhöhungen im Moment vollständig von der Regierung kontrolliert werden. Die Lohnkürzungen sind zu weit gegangen.

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