Arbeiter:innenmacht

Documenta fifteen und der Antisemitismusvorwurf

Baummapper, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons

Jonathan Frühling, Infomail 1193, 19. Juli 2022

Im Sommer 2022 findet in Kassel über einen Zeitraum von 100 Tagen die fünfzehnte Ausgabe einer der größten und wichtigsten Ausstellungen für moderne Kunst weltweit statt: die documenta. Dieses Jahr steht sie massiv in der Kritik. Doch was ist dieses Mal an ihr besonders und sind die Vorwürfe gegen sie berechtigt?

Die documenta fifteen

Dieses Jahr ist bei der documenta einiges anders. Statt einem/einer angesehenen Kurator:in, der/die fast immer aus der sogenannten „westlichen“ Welt kam, wird die Ausstellung in diesem Jahr von einem indonesischen Kollektiv namens Ruangrupa kuratiert. Auch die eingeladenen Künstler:innen unterscheiden sich fundamental von den vorherigen Ausstellungen. Statt vor allem die auf dem Kunstmarkt besonders angesehene Kunst auszustellen (und im Voraus schon ihren Verkauf durch große Galerien an finanzkräftige Kund:innen zu planen), kommen Künstler:innen vor allem aus dem globalen Süden zur Sprache.

Ein Filmstudio aus einem Slum in Uganda, Kunst von Dalits (Angehörigen der untersten Kaste) aus Indien, ein Verein, der Kunst und Sozialarbeit in einem Slum von Nairobi macht, ein Kollektiv queerer, indigener Menschen aus Neuseeland oder Voodoo-Kunst aus Müll und menschlichen Knochen aus Haiti, um nur wenige Beispiele zu nennen. Kaum einer dieser Menschen würde ihre oder seine Kunst sonst jemals in Europa auf die Bühne bringen können. Mit ihren Produktionen kommen natürlich auch ihre Geschichten, politischen Positionen und Forderungen. Kurz gesagt repräsentiert die Kunst auf der documenta weit mehr als jemals zuvor die Opfer von Rassismus und sozialer Ausbeutung, Angehörige unterdrückter Völker, Nationen, Kasten und Klassen auf der ganzen Welt.

Die Hetze im Vorfeld

Schon im Vorfeld wurde die documenta für ihr Konzept kritisiert. Kritik kam vor allem an der Einladung des Kollektivs „Question of funding“, da dieses aus Palästina stammt. Es war also abzusehen, dass sich in der Kunst auch Kritik an dem weißen und kolonialen Apartheidstaat Israel ausdrücken würde, da die tagtägliche brutale Unterdrückung für die Menschen vor Ort natürlich sehr bestimmend ist.

Bundespräsident Steinmeier machte auf der Eröffnung der documenta bereits klar, dass das Existenzrecht Israels in Deutschland nicht verhandelbar sei. Der Vorwurf des Antisemitismus stand mal wieder im Raum und wurde wie gewohnt mit Antizionismus gleichgesetzt, also mit der Kritik am Staat Israel bzw. dessen rassistischer Ideologie.

Kritisiert wurde zudem, dass keine Kulturschaffenden aus Israel eingeladen wurden. Ruangrupa argumentierte schlicht damit, dass es keine Verbindungen zu einem israelischen Kollektiv habe und sich nicht verpflichtet fühlte, von bestimmten Ländern Künstler:innen einzuladen.

Auch die Rechte machte, von bürgerlicher Politik und Presse motiviert, im Vorfeld mobil und brach in den Ausstellungsraum von „Question of funding“ ein, verwüstete ihn und beschmierte ihn mit rassistischen Graffitis. Schon vorher waren Sticker gegen den Islam und für den zionistischen Apartheidstaat aufgetaucht. Offensichtlich wurde dadurch, dass sich der deutsche Staat und die politische Rechte durch die Anwesenheit progressiver Künster:innen angegriffen fühlten.

Antisemitische Kunst auf der documenta

Kurz nach der Eröffnung kam dann der Supergau: Ein am zentralen Friedrichsplatz aufgehängten 8 x 12 m großes Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi, welches den Kampf gegen die US-gestützte rechte Militärdiktatur in Indonesien (1965 – 1998) symbolisierte, zeigte eine eindeutig antisemitische Figur. Zu sehen ist ein orthodoxer Jude mit spitzen Zähnen, bösen Augen, einer großen Nase und einer gespaltenen Schlangenzunge. Alles das sind gängige antisemitische Muster, wie sie vor allem im 20. Jahrhundert z. B. vom deutschen Faschismus genutzt wurden. Auf seinem Hut prangern SS-Runen, welches die Jüdinnen und Juden in die Ecke von Nazis stellen soll.

Das verantwortliche Kollektiv Taring Padi entschuldigte sich für die Darstellung und übernahm gleichzeitig die Verantwortung. Es begründet die Darstellung damit, die Unterstützung des Staates Israel für Suhartos Militärdiktatur und die Ermordung von rund einer halben Million Mitglieder und Anhänger:innen der Indonesischen KP zeigen zu wollen.

Die Figur schockiert wohl alle, die die documenta gegen bürgerliche und rechte Kritik verteidigt haben. Sie zeigt außerdem, wie in der Gesellschaft, auch in sonst fortschrittlichen Zusammenhängen, plumper Antisemitismus weiterhin existieren kann.

Verschwiegen wird freilich in der bürgerlichen Berichterstattung zumeist die Selbstkritik des indonesischen Kollektivs. Das Banner wurde nach kurzer Zeit abgehängt. Ein Übermalen der entsprechenden Figur wäre zwar besser gewesen. Es hätte dafür gesorgt, das fortschrittliche Moment des Banners in der Öffentlichkeit zu halten, und gleichzeitig sichergestellt, dass die antisemitische Figur niemals mehr für irgendwen sichtbar wird.

Diskussion über Antisemitismus

Für alle bürgerlichen und reaktionären Kräfte war der Vorfall natürlich ein gefundenes Fressen. Die gesamte deutsche (und internationale) Presse berichtete über die Vorfälle und sah sich in ihren vorausgegangenen Anschuldigungen bestätigt. Seitdem wächst der Druck auf die documenta. Die Generaldirektorin Sabine Schormann ist bereits zurückgetreten, Besucher:innen bleiben fern.

Doch die Kritik der bürgerlichen Presse, von Politiker:innen wie Steinmeier, Roth und Co. zielt nicht auf ein Ausstellungsstück. Für sie geht es vielmehr darum, die berechtigte Kritik an einer plumpen, antisemitischen Darstellung zu missbrauchen, um die gesamte Ausrichtung der diesjährigen documenta, eigentlich die bisher politisch fortschrittlichste,  zu verunglimpfen und zu einem finanziellen Desaster zu gestalten.

In der Diskussion fällt auch eine Sache besonders auf, die oben schon angeschnitten wurde. Es findet eine totale Vermischung und Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus statt. Deren Zweck besteht darin, den progressiven Kampf des palästinensischen Volkes gegen Unterdrückung zu dämonisieren und damit die gesamte documenta anzugreifen. Genauso geht es in Deutschland tagtäglich linken Organisationen, die sich für die Befreiung unterdrückter Völker einsetzen!

Gegen jeden Antisemitismus!

Wir müssen jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Zugleich dürfen Internationalist:innen zu den Verbrechen des Staates Israel nicht schweigen. Ständiger Krieg, nationale Unterdrückung der Palästinenser:innen, rassistische Gesetze und ein enges Bündnis mit den USA oder mit Deutschland beweisen, dass er keinen Schutzraum für das jüdische Volk, sondern ein Instrument der imperialistischen Unterdrückung bildet. Wir unterstützen daher den Befreiungskampf der Palästinenser:innen, das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen und alle antizionistischen Kräfte in Israel gegen das System der Apartheid und den Kampf für einen gemeinsamen multinationalen Staat in Palästina/Israel, in dem alle Menschen gleichberechtigt leben können. Dies wird den Kampf gegen wachsenden Antisemitismus nicht schwächen, sondern vielmehr stärken.

Der Kampf gegen nationale Unterdrückung, Antisemitismus und Kapitalismus bildet letztlich eine Einheit. Die bürgerliche Presse, Steinmeier und ihre antideutschen und rechten Unterstützer:innen sind dabei nicht unsere Verbündeten. Die Künstler:innenkollektive, die auf der documenta ausstellen, dagegen bringen progressive Positionen zum Ausdruck. Wir verteidigen ihr Recht auf Freiheit der Kunst, ohne gleichzeitig zu ihren Fehlern zu schweigen. Doch diese sind keine Grund, die Ausstellung zu boykottieren oder unkritisch im Chor der bürgerlichen und rechten Kritik an der documenta mit zu heulen. Also kommt nach Kassel, schaut euch die Kunst an und kommt mit den Menschen über Politik ins Gespräch! Der Austausch und unsere Solidarität können die Kämpfe in ihren Ländern motivieren.

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