Bernie McAdam, Workers Power, Infomail 1177, 29. Januar 2022
Am 30. Januar jährt sich der Bloody Sunday (Blutsonntag) zum 50. Mal. An diesem Tag im Jahr 1972 ermordete das britische Fallschirmjägerregiment 13 unbewaffnete BürgerrechtsdemonstrantInnen in Derry. Ein vierzehntes Opfer erlag kurz darauf seinen Verletzungen, und es gab weitere 15 Verletzte. Die Northern Ireland Civil Rights Association (Nordirische BürgerInnenrechtsvereinigung) hatte zu einem Protest gegen die Internierung aufgerufen, und der Marsch wurde auf Empfehlung der britischen Armee untersagt.
Das Massaker räumte endgültig mit dem Mythos auf, dass die britische Armee „den Frieden bewahrt“ und zwischen zwei sich bekriegenden Gruppierungen stehe, „um sie auseinanderzuhalten“. Es war ein entscheidender Moment, der die gesamte nationalistische Gemeinschaft im Norden Irlands entfremdete und ihnen bestätigte, dass Großbritannien es nicht ernst meinte mit der Reform des sektiererischen Gebildes des sechs Grafschaften umfassenden unionistischen Staates.
Nach dem Bloody Sunday nahm der Massenwiderstand im Norden zu. Katholische ArbeiterInnen in Hunderten von Fabriken traten in den sechs Grafschaften in den Streik und veranstalteten spontane Proteste. Die Provisional IRA (Provisorische Irisch Republikanische Armee) verstärkte ihre bewaffnete Kampagne und verzeichnete einen enormen Anstieg der Rekrutierung. In der Republik Irland kam es zu beispiellosen Protesten mit dreitägigen Streiks und Demonstrationen in Dörfern, Städten und Gemeinden auf der ganzen Insel. Die Proteste wurden häufig von den Gewerkschaftsräten organisiert, und es nahmen ganze Betriebskontingente an den Märschen teil. Die Aktionen gipfelten in einem Generalstreik am dritten Tag, an dem 12 der 13 Opfer vom 30. Januar begraben wurden.
Die britische Botschaft in Dublin wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und die Abgeordnete Bernadette Devlin, die auf einer BürgerInnenrechtsliste gewählt worden war, schlug dem Innenminister Reginald Maudling im Unterhaus ins Gesicht. Irische BauarbeiterInnen legten auch in London und Birmingham die Arbeit nieder. Auf internationaler Ebene gab es Proteste in vielen Städten, darunter New York, wo John Lennon als Unterstützer der irischen Bewegung zugegen war, San Francisco, Paris, Montreal und Neapel, um nur einige zu nennen. Zwei New Yorker GewerkschaftsführerInnen, die Transport- und HafenarbeiterInnen vertraten, kündigten einen Boykott britischer Exporte an.
Das diskreditierte Widgery-Tribunal, das unmittelbar nach dem Bloody Sunday stattfand, bildete 38 Jahre lang die Grundlage für die Reaktion der britischen Regierung. Der Bericht sprach die britischen Soldaten von jeglichem Fehlverhalten frei und behauptete, sie seien unter Beschuss geraten. Die Angehörigen der Ermordeten führten eine lange und entschlossene Kampagne, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. 2010 wurde schließlich eine neue Untersuchung, der Saville-Bericht, durchgeführt, der den Angehörigen Recht gab und die Tötungen für „ungerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen“ erklärte.
Nach 12 Jahren Untersuchung und 38 Jahre nach den Ereignissen bestätigte der Saville-Bericht die Unschuld der Opfer und bestätigte lediglich, was die Menschen in Derry bereits wussten. Aber es stellte einen Sieg für sie dar, dass Großbritannien endlich sein Verbrechen eingestehen musste. Sogar David Cameron, der Premierminister der Tories, sah sich gezwungen, sich im Unterhaus zu entschuldigen.
Der Saville-Bericht stellt fest, dass die Truppen nicht gewarnt haben, dass sie schießen würden, und: „Trotz der gegenteiligen Aussagen der Soldaten sind wir zu dem Schluss gekommen, dass keiner von ihnen als Reaktion auf Angriffe oder drohende durch Nagel- oder Benzinbomben geschossen hat.“ Der Befehl zum Schießen hätte nicht gegeben werden dürfen. Einige der Opfer waren vor den Militärs weggelaufen und wurden in den Rücken geschossen. Einige waren sogar dabei, anderen Verletzten zu helfen, und keine/r von ihnen war bewaffnet. In dem Bericht heißt es außerdem, dass die Soldaten bei den Ermittlungen „wissentlich falsche Angaben“ gemacht hätten.
In den Pressemitteilungen der Armee am Abend des Massakers wurde behauptet, die Soldaten seien unter schwerem Beschuss gestanden, was jedoch eindeutig eine Lüge war. Hauptmann Michael Jackson, der an diesem Tag als zweiter Befehlshaber fungierte, wurde für seinen Vertuschungsbericht belohnt, indem er schließlich den höchsten Posten in der Armee übernahm. Seine „Schussliste“ entpuppte sich als Fälschung, da keine der darin beschriebenen Schussabgaben mit den tatsächlich abgegebenen Schüssen übereinstimmte.
Der Saville-Bericht hat die Unschuldigen entlastet, auch wenn er nicht die offensichtliche Schlussfolgerung zog, dass es sich um eine unrechtmäßige Tötung oder einen Mord handelte. Zwölf Jahre später und immer noch keine strafrechtliche Verfolgung dieser Soldaten! Es überrascht nicht, dass der Saville-Bericht die britische Regierung freisprach, denn er fand keine Verschwörung in der Regierung oder in den höheren Rängen der Armee, um tödliche Gewalt gegen DemonstrantInnen in Derry anzuwenden. Oberstleutnant Wilford, der für die Fallschirmjäger, die in die Bogside eindrangen (1. Bataillon des Regiments), verantwortlich war, wurde dafür kritisiert, dass er über seine Befehle hinausging, und die Studie kam zu dem Schluss, dass einige in den Einheiten die Selbstkontrolle verloren hatten, so dass für Saville alles auf ein paar faule Eier hinauslief!
Diese verlogene Theorie lenkt von der Rolle ab, die hochrangige VertreterInnen der Armee und der Regierung am Bloody Sunday und im gesamten Norden Irlands in dieser Zeit gespielt haben. Der Bericht hörte, wie Generalmajor Ford, Kommandeur der Landstreitkräfte im Norden, drei Wochen vor dem Blutsonntag ein Memo an General Tuzo schrieb: „Ich komme zu dem Schluss, dass das Minimum an Gewalt, das zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung erforderlich ist, die Erschießung ausgewählter RädelsführerInnen unter den jungen Hooligans von Derry ist, nachdem klare Warnungen ausgesprochen wurden.“
Premierminister Ted Heath erklärte vier Tage später gegenüber seinem Kabinett: „Eine Militäroperation zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung wäre eine große Operation, die zwangsläufig zahlreiche zivile Opfer fordern würde.“ Offensichtlich hatte die britische Regierung bereits vor dem Bloody Sunday über den BürgerInnenrechtsmarsch und ihre Reaktion ein Memorandum an ihre Botschaft in Washington geschickt, in der sie vor feindseligen Reaktionen warnte, sollte es in Derry zu Unruhen kommen. Darüber hinaus hatte dasselbe Fallschirmjägerregiment seine mörderischen Absichten bereits im August des Vorjahres kundgetan, als elf unbewaffnete ZivilistInnen, darunter ein Priester, im Ballymurphygebiet von Belfast im Rahmen einer Operation getötet wurden, bei der Hunderte von NationalistInnen ohne Prozess interniert wurden. In einem Bericht des Gerichtsmediziners aus dem Jahr 2021 wurde festgestellt, dass alle ZivilistInnen in dem als „Ballymurphymassaker“ bekanntgewordenen Fall unschuldig waren und „ohne Rechtfertigung“ getötet wurden.
Der Bloody Sunday war also kein einmaliger Vorfall oder eine Abweichung in der Politik, geschweige denn eine Frage von ein paar faulen Eiern in einer ansonsten großartigen Armee. Er kann nur im Zusammenhang mit der Besetzung eines Teils Irlands durch Großbritannien und dem sektiererischen Staat, den es seit 1921 mit aufgebaut und gestützt hat, verstanden werden. Der „nordirische“ Staat konnte nur durch die systematische soziale Unterdrückung der KatholikInnen überleben, die auf allen Ebenen diskriminiert wurden, auch bei der Vergabe von Wohnungen und Arbeitsplätzen sowie bei Wahlen. Im Jahr 1968 sagten die KatholikInnen schließlich, dass sie genug haben, und gingen in Scharen auf die Straße, um für BürgerInnenrechte und Gleichberechtigung zu kämpfen.
Sie wurden von der Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary (RUC) und LoyalistInnen brutal attackiert. Die überwiegend protestantische RUC wurde im August 1969 aus dem nationalistischen Bogsidebezirk in Derry vertrieben. Britische Truppen wurden stationiert, um die Kontrolle wiederherzustellen. Als die Truppen zunehmend auf die Straße gingen, wurde allen, die für BürgerInnenrechte kämpften, klar, dass die Armee und ihre Vorgesetzten in Whitehall keine ernsthaften Reformen des Staates zulassen würden, sondern dass ihre Priorität darin bestand, jeglichen Widerstand gegen ihn zu brechen.
Im August 1971 wurde die Internierung ohne Gerichtsverfahren eingeführt, um der Protestbewegung den Kopf abzuschlagen. Als Armee und Polizei rund 350 Personen festnahmen, wurden mehrere Fälle von Folter bekannt, insbesondere die 14 „Kapuzenmänner“, die in das „Folterzentrum“ der Armee in Ballykelly gebracht worden waren. Der Massenwiderstand wuchs. 8.000 ArbeiterInnen traten in Derry in einen eintägigen Streik. In der gesamten katholischen Gemeinde wurde ein Miet- und Gebührenstreik organisiert und es kam zu Tausenden von Angriffen auf Soldaten und PolizistInnen.
Die Internierung war nicht das einzige Mittel, das Großbritannien einsetzte. Die britische Armee verhängte Ausgangssperren, riegelte ganze Gebiete ab, führte Massenrazzien durch und schoss natürlich auch. Ballymurphy und der Blutsonntag waren Teil dieser allgemeinen Strategie der Unterdrückung, die sowohl von den Tory- als auch Labour-Regierungen betrieben wurde. Natürlich schickte Labour die Truppen und war ebenso eifrig wie die Tories, um den korrupten und bigotten Oranierstaat zu stützen.
Die Armee spielte also keine neutrale Rolle, sondern wurde von der britischen Regierung zur Zerschlagung des Widerstands gegen den Nordstaat eingesetzt. Der künstlich geschaffene Charakter des Staats, der der Minderheit der UnionistInnen im Nordosten der Insel zugutekommen sollte, konnte ohne ständige militärische Unterstützung und drakonische repressive Gesetze wie den Special Powers Act (Sonderermächtigungsgesetz), das vom südafrikanischen Apartheidsystem so bewundert wurde, nicht bestehen.
Die Teilung war Großbritanniens Antwort auf den Unabhängigkeitskrieg von 1921. Der damals gegründete Nordstaat wurde zu einem Gefängnis für KatholikInnen. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Existenz bestand in der systematischen sozialen Unterdrückung einer Minderheit aufgrund ihrer Identifikation mit dem irischen Nationalismus und einem geeinten Irland. Jede Anfechtung dieser institutionalisierten Diskriminierung würde unweigerlich einen nationalen Kampf auslösen. Der Bloody Sunday hat diesen Kampf beschleunigt und verschärft.
Heute, wo wir des Bloody Sundays als einer weiteren britischen Gräueltat gedenken, für die nie Gerechtigkeit geübt wurde, sind wir immer noch mit einem dysfunktionalen Staat konfrontiert, der durch britische Gewalt gestützt wird. Der permanente Krisenzustand Nordirlands, die rapide schwindende, wenn nicht sogar schon verschwundene Mehrheit der UnionistInnen, die anhaltende Farce einer Democratic Unionist Party/Sinn Fein-Exekutive und das Auflösen des Brexit auf einer Insel, die ihn nie gewollt hat, haben die Frage nach dem britischen Rückzug und einem vereinten Irland erneut aufgeworfen.
Der Kampf für eine ArbeiterInnenrepublik ist der beste Weg, um die mutigen BürgerInnenrechtsdemonstrantInnen zu rächen und ihrer zu gedenken, die an jenem schändlichen Tag in Derry von der britischen Regierung und ihrer Armee niedergemetzelt wurden. Das ist auch der einzige Weg, wie wir ein vereinigtes Irland aufbauen können, frei vom britischen Imperialismus, frei von kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden und im Besitz und unter Kontrolle der irischen ArbeiterInnen.