Dave Stockton, Infomail 1169, 13. November 2021
Einem Bericht an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zufolge sind 400.000 Menschen in der äthiopischen Bundesprovinz Tigray von einer regelrechten Hungersnot bedroht und weitere sieben Millionen Personen in Nordäthiopien benötigen dringend Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Hilfe. Schätzungsweise 2,2 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern geflohen. Die Zahl der Todesopfer ist zwischen den Kriegsparteien heftig umstritten, dürfte aber inzwischen mehrere Tausend betragen. Darunter wird auch von Massakern an unbewaffneten Jugendlichen und Frauen berichtet. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, denn die Gräueltaten drohen die Rachegefühle nur noch weiter anheizen.
Trotz des Ausmaßes an Leid werden internationale Hilfsorganisationen wie UNICEF und ÄrztInnen ohne Grenzen durch den jahrelangen Krieg daran gehindert, Hilfsgüter nach Tigray zu schicken; die Regierung hat sogar FahrerInnen dieser Organisationen festgenommen. Dieser „BürgerInnenkrieg“ wird zwischen der Zentralregierung unter der Führung des Premierministers und Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed Ali auf der einen Seite und der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) unter dem Kommando von Debretsion Gebremichael auf der anderen Seite geführt.
Eine große Zahl von Flüchtlingen ist über die Grenze in den Sudan geflohen, in dem sich bereits viele Menschen befinden, die durch einen internen Krieg und Massaker vertrieben wurden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat über Vergewaltigungen in großem Stil berichtet, die von beiden Seiten begangen wurden.
Der Krieg begann am 4. November 2020, als die Äthiopischen Nationalen Verteidigungsstreitkräfte (ENDF), einer der größten Militärverbände des afrikanischen Kontinents, einen Großangriff auf Tigray starteten, angeblich als Vergeltung für einen Angriff der TPLF auf ihre nördliche Kommandobasis in der tigrayischen Hauptstadt Mekelle. Ahmed erklärte, wie sich herausstellte zu früh, den Sieg über die TPLF, nachdem seine Streitkräfte die Stadt am 28. November 2020 besetzt hatten.
Mit 112 Millionen EinwohnerInnen ist Äthiopien, gemessen an der Bevölkerungszahl, der zweitgrößte Staat in Afrika. Die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird von der Landwirtschaft erwirtschaftet, und zwar in zwei Sektoren: Subsistenzlandwirtschaft auf kleinen Parzellen von bis zu 2,5 Hektar und Anbau von Kaffee und Zuckerrohr für den Exportmarkt.
Die moderne Industrie, hauptsächlich Textilien für den heimischen Markt, trägt nur 10 Prozent zum BIP bei. Vor der Covid-Pandemie und dem Krieg gehörte die Wirtschaft zu den am schnellsten expandierenden in der Region und wuchs nach Angaben der Weltbank in den zehn Jahren bis 2019 um durchschnittlich 10 Prozent pro Jahr. Das Land wurde als „Wirtschaftswunder“ gefeiert, obwohl es gemessen am Pro-Kopf-BIP das drittärmste der Welt war und mehr als 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten. Doch die nationalen und regionalen Eliten des Landes haben dieses „Wunder“ (für einige) zu einem erschütternden Absturz gebracht. Im August erklärte der UN-Generalsekretär António Guterres, die Kämpfe hätten „über eine Milliarde Dollar aus den Kassen des Landes abgezogen“.
Der Krieg ist das Ergebnis langjähriger Rivalitäten zwischen den ethnisch geprägten militärischen und politischen Eliten, die das Land nach dem Sturz des Derg-Militärregimes unter der Führung von Mengistu Haile Mariam im Jahr 1991 regierten (Derg: Koordinationskomitee der Streitkräfte, Polizei und Territorialarmee). Das Derg-Regime, das sich auf junge MilitäroffizierInnen stützte und von einer radikalen StudentInnenbewegung unterstützt wurde, hatte praktisch die gesamte Wirtschaft verstaatlicht und auch die feudalen GroßgrundbesitzerInnen enteignet, die die Bauern und Bäuerinnen ausgebeutet hatten.
Dies veranlasste viele StalinistInnen dazu, es als „sozialistische Revolution“ zu bezeichnen, und selbst einige TrotzkistInnen (wie Ted Grant) begrüßten es als „deformierten ArbeiterInnenstaat“, wie sie es in Birma (Burma; heute: Myanmar) und Syrien getan hatten. In der Tat entwickelten viele der ethnischen Gruppen Äthiopiens ab den 1960er Jahren Guerillabewegungen, die sich als marxistisch-leninistisch definierten, wobei sie sich im Allgemeinen eher von Enver Hoxha aus Albanien als von Peking inspirieren ließen.
Nach dem Sturz des Derg dominierten die TigrayerInnen fast 18 Jahre lang die regierende Koalitionsregierung Äthiopiens, die Äthiopische Revolutionär-Demokratische Volksfront (EPRDF), obwohl sie nur 6 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dies begann sich 2018 rapide zu ändern, als Abiy Ahmed, ein Angehöriger der größten ethnischen Gruppe, der Oromo, deren Anteil an der Bevölkerung bei etwa 35,5 Prozent liegt, Verfassungsreformen einleitete, die den föderalen Charakter des Staates schwächten und der Zentralregierung erheblich mehr Befugnisse verliehen. Gleichzeitig trieb er die neoliberalen Reformen voran, auf die der Internationale Währungsfonds und die Vereinigten Staaten von Amerika drängten. Für seine Rolle bei der Unterzeichnung eines dauerhaften Friedensabkommens mit dem Nachbarland Eritrea wurde er mit dem Friedensnobelpreis 2019 ausgezeichnet. Damit befindet er sich in einer Reihe mit „VerfechterInnen“ von Frieden und Menschenrechten wie Henry Kissinger, Menachem Begin, Barack Obama und Aung San Suu Kyi.
Vor dem Ausbruch des Krieges, bei dem es sich im Wesentlichen um einen Konflikt zwischen der ehemals herrschenden TPLF und Ahmeds neuer Wohlstandspartei handelt, war es bereits seit Monaten zu Mobilisierungen gekommen. Die TPLF hatte gehofft, einen Tigrayaner zum Premierminister machen zu können, doch als Ahmed gewählt wurde, führte sie Regionalwahlen in Tigray durch. Ahmed weigerte sich daraufhin, diese anzuerkennen, und begann, Kräfte zu mobilisieren, um die „unrechtmäßige“ TPLF-Regierung abzusetzen. Diese Handlungen verstießen eindeutig gegen die Verfassung von 1995, in der Äthiopien zu einem föderalen Staat erklärt wurde, dessen Teile das Recht auf Selbstbestimmung haben, bis hin zur Abspaltung.
In Wirklichkeit wurde dieses demokratische Prinzip nie angewandt. Wäre es verwirklicht worden, hätte der Krieg vielleicht vermieden werden können. Die TPLF war jedoch nicht so sehr an der Unabhängigkeit interessiert, sondern vielmehr an der Wiederherstellung ihrer Vorherrschaft in Addis Abeba. Ebenso bestand Ahmeds Priorität darin, die Kontrolle über Tigray zu erlangen, unabhängig davon, was dessen Bevölkerung dachte oder wofür sie stimmte. Der Krieg ist also ein Produkt der völlig undemokratischen Politik zweier rivalisierender Militäreliten, die darauf aus sind, ihre eigenen Länder auszuplündern und zu diesem Zweck den ethnischen Chauvinismus unter den Völkern zu schüren.
In dem 11-monatigen Krieg kam es auf beiden Seiten zu entsetzlichen Massakern und Vergewaltigungen von Frauen. Zunächst zogen sich die tigrayanischen Streitkräfte aus den Städten zurück und führten einen Guerillakrieg, in dem sie sich rasch zu einer schlagkräftigen Kampftruppe reorganisierten. Im Frühjahr fügten sie den Regierungstruppen schwere Niederlagen zu, die schließlich aus Mekelle und anderen Städten vertrieben wurden. Nachdem die TPLF ein Bündnis mit den Oromo-Befreiungskräften und anderen VerfechterInnen der regionalen Autonomie gegen Ahmeds Zentralisierungsbestrebungen geschlossen hatte, erklärte sie, sie werde einen Vorstoß auf die Hauptstadt Addis Abeba anführen. Die Regierung rief bei großen Demonstrationen in der Metropole zu einer massenhaften Unterstützung der Armee auf, um die TPLF und ihre Verbündeten durch eine Gegenoffensive zurückzuschlagen.
Keine der beiden Kriegsparteien kann als fortschrittlich angesehen werden, die gewaltsame Aufrechterhaltung der Einheit Äthiopiens kann nur zu reaktionären Folgen führen. Andererseits hätte eine ethnische Balkanisierung des Landes, wie die Ereignisse in Jugoslawien in den 1990er Jahren gezeigt haben, ebenfalls tiefgreifende reaktionäre Folgen.
Nur wenn die ArbeiterInnen, StudentInnen, BäuerInnen und einfachen SoldatInnen sich gegen ihre kriminellen Führungen auflehnen, sie absetzen und Räte aus gewählten und abwählbaren Delegierten bilden, kann die Einheit des Landes auf einer demokratischen und wirklich föderalen Grundlage erreicht werden. Aber diese Demokratie darf nicht unter militärischer Vormundschaft oder der Vorherrschaft der reichen UnternehmerInnenklasse stehen, die ihrerseits ständig die rivalisierenden Imperialismen (China und die USA) oder die regionalen Mächte (Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) gegeneinander ausspielt. Ihre Verbündeten werden die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen des Sudan, Eritreas und Somalias sein.
In der Zwischenzeit müssen SozialistInnen und GewerkschafterInnen auf internationaler Ebene ein sofortiges Ende der Kämpfe und der Grausamkeiten fordern und die Regierungen Europas und der USA dazu zwingen, massive und bedingungslose Nahrungsmittellieferungen und medizinische Hilfe zu leisten.
Ein höchst sehenswerter Film über eine linke Widerstandskämpferin während der Zeit des Derg-Regimes:
https://www.afrikamera.de/finding-sally/