Urte March/Susanne Kühn, Infomail 1169, 11. November 2021
Tausende Geflüchtete hängen mittlerweile in der Grenze zwischen Belarus und den benachbarten EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen bei Kälte, ohne ausreichende Lebensmittel und ohne Gesundheitsversorgung fest. Sie leben faktisch im Niemandsland. Verzweifelt versuchen immer wieder größere Gruppen, das angeblich humanitäre Ufer der EU zu erreichen – und werden dort von den polnischen oder anderen Sicherheitskräften brutal abgefangen und zurückgetrieben. Polen hat einen massiven Grenzzaun zum Schutz der Festung Europa hochgezogen und entlang der Grenze einen drei Kilometer langen De-facto-Sperrstreifen gebildet. Selbst jene Menschen, die es mit größter Anstrengung bis nach Deutschland schaffen, sollen an den Grenzen abgefangen werden.
Folgt man der polnischen, lettischen oder deutschen Regierung, der EU-Kommission oder dem US-Präsidenten, liegt die Sache klar. Belarus führe mit Putins Unterstützung einen „hybriden Angriff“ auf die EU. Die Geflüchteten würden, so der für sich genommen durchaus zutreffende Vorwurf, von Lukaschenko missbraucht. Dessen Zynismus will die EU offenkundig selbst nicht nachstehen. Dass die Geflüchteten als politische Manövriermasse benutzt werden, reicht ihr als Vorwand dafür, selbst tausende Geflüchtete zurückzuschicken, ihnen jede elementare Versorgung zu verweigern und selbst die Reste des Asylrechts vorzuenthalten, indem etwaige Anträge erst gar nicht angenommen werden.
An der Grenze zwischen Weißrussland und seinen EU-Nachbarn Polen, Lettland und Litauen herrscht auf jeden Fall ein Krieg – nämlich der gegen die Flüchtlinge. Die Menschen aus dem globalen Süden werden wieder einmal als Spielfiguren in einem brutalen zwischenstaatlichen Machtkampf benutzt.
Seit dem Frühsommer berichten benachbarte EU-Länder und bürgerliche Medien von einer „Welle“ von Flüchtlingen, die versuchen, ihre Grenzen von Belarus aus zu überqueren, um Asyl zu beantragen. AugenzeugInnen und GrenzpolizistInnen bestätigen, dass belarussische Sicherheitskräfte den Transport zur Grenze organisieren und die Menschen mit dem Versprechen, sie nach Europa zu bringen, zur Überfahrt ermutigen.
Die MigrantInnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, wobei eine größere Anzahl von KurdInnen, SyrerInnen und AfghanInnen gemeldet wurde. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge keineswegs überwältigend ist (bis zu 10.000 in den drei Ländern), werden sie von einigen in diesen Staaten als eine große soziale Störung angesehen. Dies ist das Ergebnis eines starken Trends zum Ethnonationalismus, der irrationale Ängste über die Auswirkungen dieser MigrantInnen auf die „ethnisch homogenen“ Gesellschaften dieser Länder schürt.
Die Regierungen Polens, Lettlands und Litauens haben darauf mit einem unterschiedlichen Maß an Repression reagiert. Alle drei haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, darunter den Bau von Zäunen und eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, um die Grenzübertritte zu verhindern, und den Ausnahmezustand entlang der Grenze ausgerufen.
Polen ist auf diesem Weg am weitesten gegangen und hat Flüchtlinge, die die Grenze bereits überschritten haben, gewaltsam abgeschoben. Tausende MigrantInnen sitzen mittlerweile zwischen den Grenztruppen der beiden Länder fest, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkunft. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Recht, nach internationalem Gesetz Asyl zu beantragen, und wurde von Amnesty International und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert.
Am 25. August wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, MigrantInnen und Flüchtlingen an den Grenzen humanitäre Hilfe zu leisten, und erneuerte die Anordnung am 27. September. Polen ist der Anordnung des Gerichtshofs bisher nicht nachgekommen, und Menschenrechtsgruppen haben mindestens sechs Todesfälle festgestellt. Probleme mit der EU und einzelnen EU-Staaten braucht es dafür nicht zu fürchten, im Grunde sind die EU-Kommission, Deutschland und andere froh darüber, dass Polen die rassistische Drecksarbeit für sie verrichtet.
In Litauen werden diejenigen, die das Land betreten, in provisorischen Räumlichkeiten untergebracht. Da die bestehenden Migrationszentren nicht für die Aufnahme der neuen Menschen geeignet waren, wurden die MigrantInnen zunächst in Waldlagern oder stillgelegten Schulen aufgenommen und später in umfunktionierten öffentlichen Gebäuden, darunter auch ehemaligen Gefängnissen, einquartiert. In vielen dieser Einrichtungen wurde über mangelnde Hygiene, fehlendes Wasser und nicht funktionierende Heizung berichtet.
Die Rechtsgrundlage für die unbefristete administrative Inhaftierung aller GrenzgängerInnen ist zwar unklar, aber das kümmert die westlichen Regierungen nicht. BeamtInnen bemühen sich auch auf diplomatischer Ebene, MigrantInnen daran zu hindern, ihre Heimatländer überhaupt zu verlassen. Im August flogen litauische VertreterInnen nach Bagdad und handelten eine Einstellung der kommerziellen Flüge vom Irak nach Minsk aus. Nun sollen Sanktionen gegen Fluglinien erfolgen, die Menschen nach Belarus fliegen, die Flüchtlinge sein könnten!
Obwohl die EU den Anschein erwecken will dass sie die Menschenrechte durchsetzt, erweist sich dies täglich als mörderische Lüge. Ihr Hauptinteresse besteht darin, Lukaschenko und seinen russischen UnterstützerInnen zu zeigen, dass seine Politik mit einer aggressiven Reaktion begegnet wird. Die Klärung von Einzelfällen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden, wird Monate oder Jahre dauern. In der Zwischenzeit macht jeder Staat mit der Überwachung der Grenzen der Festung Europa weiter.
Obwohl in den internationalen Medien immer wieder von sozialer Unruhe die Rede ist, gab es auch vor Ort zahlreiche Solidaritätsbekundungen. In Litauen wurden eine Reihe von humanitären Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und religiöse Gruppen, von Freiwilligen und Spenden überschwemmt. Außerdem fanden am 17. Oktober große Demonstrationen statt, bei denen eine humanere Politik gegenüber den Flüchtlingen gefordert wurde. In Warschau versammelten sich schätzungsweise 3.000 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“.
Auch im Ausland hat es Solidaritätsaktionen gegeben. Am Sonntag, den 17. Oktober, versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor der polnischen Botschaft in London, um gegen die illegalen Rückschiebungen von MigrantInnen über die Grenze zu protestieren, die die Regierung vornimmt. Die Demonstration wurde von humanitären Organisationen wie Amnesty zusammen mit polnischen Gruppen wie Polish Migrants Organise organisiert.
Doch selbst bei denjenigen, die sich für humanitäre Hilfe engagieren, hält sich im öffentlichen Bewusstsein die Unterscheidung zwischen „legitimen“ Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, und „illegalen“ WirtschaftsmigrantInnen. Es gab auch nur wenige Versuche, die Logik der Grenzen und das Recht der Staaten, sie zu überwachen, in Frage zu stellen. Dies zeigt, dass das Gift des Rassismus in die ArbeiterInnenklasse eingedrungen ist und weiter wirkt. Die rassistische Ideologie wird von der herrschenden Klasse als Instrument verbreitet, um die ArbeiterInnen zu spalten und zu beherrschen und sie daran zu hindern, zu erkennen, dass ihr wahrer Feind nicht die ArbeiterInnen anderer Länder sind, sondern das System des globalen Kapitalismus, das alle ArbeiterInnen unterdrückt.
Auch andere europäische Staaten bereiten sich darauf vor, eine neue Welle von Flüchtlingen aus Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban abzuwehren. Griechenland hat kürzlich einen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei fertiggestellt. Der griechische Minister für Bürgerschutz, Michalis Chrisochoidis, sagte bei einem Besuch auf der Insel Evros: „Wir können nicht passiv auf die möglichen Auswirkungen warten. Unsere Grenzen werden unantastbar bleiben.“ Dies zeigt einmal mehr die Heuchelei der EU, die die Achtung der Menschenrechte von MigrantInnen fordert, während sie gleichzeitig ihre Grenzen verstärkt und zulässt, dass sich die Leichen von Geflüchteten an den Stränden des Mittelmeers stapeln.
Währenddessen sind es die MigrantInnen, die vor unvorstellbarer Armut und Krieg fliehen, die unter den Folgen dieses imperialistischen Schachspiels leiden. Die ArbeiterInnenbewegung, ob in Polen, Griechenland oder anderswo, muss an der Seite dieser MigrantInnen stehen und für eine Welt kämpfen, in der rassistische Grenzen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden, zusammen mit dem globalen kapitalistischem System, auf dem sie beruhen.