Arbeiter:innenmacht

Solidarität mit den Flüchtlingen in Ellwangen

Paul Neumann, Infomail 1003, 14. Mai 2018

Deutschland ist in größter Gefahr! Heimatminister Seehofer poltert: „Der Rechtsfrieden ist aufs Ernsteste bedroht!“ Es handle sich um einen „Schlag ins Gesicht aller rechtstreuen Bürger.“ „Dieser empörende Sachverhalt muss mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden (…) hier wird das Gastrecht mit Füßen getreten“. Eine „Anti-Abschiebeindustrie“ aus Flüchtlingen, ihren RechtsanwältInnen und Flüchtlingsorganisationen sieht CSU-Landesgruppenchef Dobrindt gar am Werk, die „mit Klagen versucht, die Ausweisung krimineller und gewaltbereiter Flüchtlinge zu verhindern“ und „gegen den gesellschaftlichen Frieden“ arbeite.

Was ist geschehen? In der Landeserstaufnahme-Einrichtung (LEA) in Ellwangen, im Norden Baden-Württembergs, haben am Montag, den 30. April, gegen 2:20 Uhr, ca. 200 BewohnerInnen die Abschiebung eines togolesischen Geflüchteten verhindert. „Der Mann sollte entsprechend der Dublin-Verordnung, ohne inhaltliche Prüfung seines Asylantrages, nach Italien überstellt werden, wo bekanntlich eine menschenwürdige Unterbringung und soziale Versorgung oftmals nicht gesichert ist und selbst anerkannte Flüchtlinge an den Bahnhöfen sitzen und um Weißbrot betteln müssen. Auch in anderen europäischen Staaten, etwa in Bulgarien oder Ungarn, finden Geflüchtete oft keine menschenwürdige Lebensperspektive vor, mitunter kommt es von dort aus zu rechtswidrigen Rücküberstellungen in nicht EU-Staaten oder gar in die Herkunftsländer“ (Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, 04.05.2018)

Law and Order-Kampagne

Dieser verzweifelte Akt der Solidarität, sich gegen die menschenunwürdige Abschiebepraxis deutscher Behörden zu wehren, wird von dem offen rassistischen Teil der Bundesregierung als Steilvorlage für eine „Law and Order“–Kampagne genutzt, die dankbar von der breiten Öffentlichkeit, der Polizei und den Medien aufgegriffen wird, um weitere Hetze gegen Flüchtlinge zu mobilisieren. Die CSU-Heimattreuen stehen in vorderster Front, sind doch im Herbst Landtagswahlen in Bayern, und es gilt der rechten Konkurrenz von der AfD den Schneid abzukaufen. Wahrlich, dies ist ein Lehrstück über den bürgerlich demokratischen Kampf gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Dieser kommt nämlich zu den gleichen Ergebnissen wie der althergebrachte Nazi-Rassismus, ganz ohne allzu viel Volk-, Vaterland- und Nationalismus-Ideologie. Die steht heute einer europäischen Führungsmacht, die beansprucht, Exportweltmeister und ambitionierter „Globalplayer“ in Sachen Weltordnung zu werden, schlecht zu Gesicht. Die bürgerlichen Parteien, bis hinein in die SPD, die Grünen und Teilen der Linken rufen dann lieber nach dem „Rechtsstaat“ und dem Vollzug seiner rassistischen Gesetze. Weil demokratisch beschlossen, werden sie gewissermaßen als „sakral“ ausgegeben. Während die offenen RassistInnen geradezu euphorisch auf rechtstreues Umsetzen bestehen, reden sich grüne, sozialdemokratische und linke RegierungsvertreterInnen in Bund und Ländern eben auf ihre „Pflicht“ heraus, dass sie die Gesetze umsetzen müssten, wie andere Menschen Luft zum Atmen bräuchten. Diese „demokratische Rechtsstaatlichkeit“, mit ihren imaginierten hohen moralischen Werten, hat bekanntlich keine Probleme damit, jährliche tausende Menschen im Mittelmeer ersaufen zu lassen.

Kein rassistisches Stereotyp hat die reaktionäre Öffentlichkeit ausgelassen, um den „gewalttätigen“, „bedrohlichen“, „undankbaren“, auf „unsere“ Kosten lebenden „SchwarzafrikanerInnen“ zu bebildern und ein imaginiertes „Wir gegen die Fremden“–Szenario aufzubauen. CSU-Dobrindt bringt es fertig, in einem Interview 13 Mal (!) von „kriminellen und gewaltbereiten Asylbewerbern“ (heute-Show, 11. Mai) zu sprechen. JedeR brave deutsche KleinbürgerIn soll sich AsylbewerberInnen nur noch als kriminell und gewaltbereit denken.

Da spielt es schon keine Rolle mehr, dass die Flüchtlinge in Ellwangen, sowohl am 30. April bei der Beschützung des Togolesen, als auch beim durch die Schwarz/Grüne Landesregierung angeordneten demonstrativen, bürgerkriegsähnlichen Großeinsatz am 4. Mai durch zwei, bis an die Zähne bewaffnete Hundertschaften, durchaus gewaltlos waren. Die anfänglich behaupteten „Angriffe auf Polizisten/innen“ und die „gehorteten Waffen“ gab es nicht. Von den behaupteten 3 verletzten PolizistInnen ist eine verletzte Polizistin übrig geblieben, aber ausdrücklich ohne „Fremdeinwirkung“, wie Deutschlandradio am 4. Mai berichtete.

Nicht gewalttätig? Selbstverständlich haben sich die Flüchtlinge mit ihrer Solidaritätsaktion strafbar gemacht! Widerstand gegen die Staatsgewalt heißt das Verbrechen, dessen sie jetzt angeklagt und weswegen einige Dutzend verhaftet wurden.

Um die Verzweiflung der Menschen in einer LEA zu verstehen, muss man wissen, welche Flüchtlingsgruppen dort untergebracht werden. Die meisten Einrichtungen wurden erst 2015/16 von den Ländern aufgebaut, weil die Kapazitäten der existierenden Landesaufnahmestellen (LAST) für den großen Zustrom an Geflüchteten nicht mehr ausreichend waren. Die LEA diente in dieser Phase der zentralen Aufnahme, Registrierung, Asylantragstellung und Verteilung auf die Stadt- und Landkreise der Länder. Mit der Abnahme des Zustroms der Geflüchteten und nach der Schießung der EU-Grenzen mit dem Türkei-Abkommen wurde die Selektion der Geflüchteten in Bleibeberechtigte und Nicht-Bleibeberechtigte von der CDU/SPD-Bundesregierung umgesetzt. Unter die Gruppe der vermeintlichen Nicht-Bleibeberechtigten fallen alle Geflüchteten vom Balkan, aus den nordafrikanischen Staaten (Maghreb-Staaten) und vor allen die Dublin-Flüchtlinge, also die, die vor ihre Einreise nach Deutschland über ein anderes EU-Land Transit genommen haben. Die vermeintlich Nicht-Bleibeberechtigten sollten nicht mehr auf die Stadt- und Landkreise verteilt werden, sondern in einer LEA verbleiben, um die Abschiebungen zu erleichtern. Zu diesem Zweck sollte diese Gruppe von Beginn an keinen Zugang zu Integrationsmaßnahmen wie Sprachkursen, Wohnung, Arbeitsgelegenheiten erhalten. Die LEA wurde zum Hort der Hoffnungslosen und Verzweifelten, zumal auch der Zugang zu RechtsanwältInnen, also zum Rechtsweg, den ja unser „Rechtsstaat“ so stolz vor sich herträgt, in der LEA erschwert wurde.

Aber unser Heimatminister Seehofer plant schon weiter: AnkER-Zentren will er schafften. AnkER steht hier nicht für „Anker-werfen, Bleiben“, sondern ist das Kürzel für „Ankunft-Entscheidung-Rückführung“. Alles unter einem Dach: bewachte Flüchtlingsunterkunft, BAMF-Außenstelle für die schnelle Ablehnung des Asylantrags, Polizei für die schnelle Abschiebung. Rechtsmittel können dann im Heimatland eingelegt werden. Der Zugang zu RechtsanwältInnen und Rechtsberatung soll weiter erschwert werden, ebenso soll die unabhängige Verfahrensberatung der Verbände in den Zentren einschränkt werden. Die Reduzierung des Rechtswegs wird von der CDU/CSU gefordert. So bekämpft der Staat die „Anti-Abschiebeindustrie“!

Für die ca. 500 Bewohner der LEA Ellwangen, zumeist AfrikanerInnen, die quotenmäßigen VerliererInnen der deutschen Asylpolitik, dürften nächtliche Abschiebungen zur Routine gehören. Regelmäßig werden einzelne Menschen aus ihrer Gemeinschaft gerissen, weil sie die Behörden für „ausreisepflichtig“ erklären. JedeR weiß, auch ihr/m steht die Abschiebung ins Ungewisse bevor. Dieser unmenschlichen eiskalten Routine haben sich die Asylsuchenden in der Nacht vom 30. April in den Weg gestellt.

Wir erklären und vorbehaltlos solidarisch mit den Geflüchteten in Ellwangen und anderswo

  • Stopp aller Abschiebungen in Deutschland!
  • Freilassung aller Verhafteten in Ellwangen und Einstellung der Verfahren!
  • Bleibe- und Arbeitsrecht für alle aus politischen, rassistischen, ethnischen, geschlechtlichen, sexistischen Gründen Verfolgten in Deutschland und der EU!
  • Keine Einschränkungen der Verfahrensberatung und des Rechtsweges von AsylbewerberInnen!
  • Freier Zugang von Verbänden und NGO’s zu den Flüchtlingsunterkünften!
  • Rücknahme der rassistischen Asylgesetze!
  • Weg mit der Dublin-Verordnung und dem EU-Grenzregime!
  • Offene Grenzen! Freier Zugang für alle Flüchtlinge nach Europa!

 

Dokument

Wir dokumentieren eine Stellungnahme von Bewohner*innen der Landeserstaufnahmestelle in Ellwangen zu den Ereignissen der letzten Woche.

Viel wurde über uns geredet, jetzt reden wir!

Stellungnahme von Geflüchteten in Ellwangen vom 5. Mai 2018

Wir, Bewohner*innen der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen laden für Mittwoch den 9. Mai 2018, um 17 Uhr zu einer Pressekonferenz ein und rufen ab 18 Uhr zu einer Demonstration auf. Zwischen 12 bis 18 Uhr findet auf dem Marktplatz in Ellwangen eine Mahnwache statt.

Die Pressekonferenz wird direkt vor der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen stattfinden. Dort wird auch die Demonstration beginnen. Wir rufen alle demokratisch gesinnten Menschen auf, sich an der Demonstration zu beteiligen und diese zu beschützen. Unterstützen sie unseren gerechten Protest und hören sie uns zu, was wir als Betroffene zu dem Polizeieinsatz zu sagen haben. Viele von uns sind durch den bürgerkriegsähnlichen Polizeieinsatz tief verunsichert.

Am Montag den 30. April gegen 2.30 Uhr sollte ein Togoer von der Polizei aus der Landeserstaufnahmeeinrichtung abgeholt werden. Der Protest entstand spontan. Einige Abschiebungen bei dem die Polizei laut und aggressiv vorgegangen ist, haben wir schon erlebt. Unser Protest war bestimmt, aber zu jedem Zeitpunkt friedlich. Vorwürfe, jemand sei gegen die Polizei mit Gewalt vorgegangen sind falsch und haben sich auch nicht bestätigt. Falsch ist auch, dass die Person die man abschieben wollte, bereits im Polizeiauto saß. Der Togoer stand entfernt neben uns in Handschellen. Die Polizei verließ während des Protests die Landeserstaufnahmeeinrichtung und gab einem dort beschäftigten Security-Mitarbeiter die Schlüssel für die Handschellen. Der Togoer war, nach dem die Polizei sich entfernt hatte, noch etwa eineinhalb Stunden in Handschellen, bis die Security ihm die Handschellen abnahm. Das ist die wesentliche Geschichte vom Montag. Der Betroffene ist auch nicht untergetaucht, wie behauptet wurde. Niemand ist bei dem spontanen politischen Protest zu Schaden gekommen.

Am Donnerstag den 3. Mai 2018 kam es in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr zu einem Polizeieinsatz an dem mehrere hundert Polizisten beteiligt waren. Auch ein Polizeihubschrauber war im Einsatz. Ziel waren drei Gebäude, wovon 292 Personen betroffen waren. In den Gebäuden positionierte sich die Polizei vor sämtlichen Türen und schlug zeitgleich alle Türen ein, obwohl man die Türen in der Einrichtung nicht abschließen kann. Wir waren alle im Bett. Die Polizei leuchtete mit Taschenlampen. Niemand durfte sich anziehen. Alle mussten die Hände in Höhe halten und wurden gefesselt. Die Zimmer wurden durchsucht. Viele wurden bei der Polizeiaktion verletzt. Wer Fragen stellte musste mit Gewalt rechnen. Wir dachten es handelt sich um eine großangelegte Abschiebeaktion. Wie wir später erfuhren, durften die Bewohner*innen der Nachbargebäude ebenfalls die Gebäude nicht verlassen. Die Polizei unterstellte in einer Pressemitteilung wir hätten Waffen und gefährliche Gegenstände. Nichts von dem ist wahr, nichts wurde bei den Durchsuchungen gefunden. Mehr dazu erfahren Sie am Mittwoch bei der Pressekonferenz.

Wer auch immer diesen Polizeieinsatz zu verantworten hat, er war politisch motiviert und inszeniert. Die bundesweite Berichterstattung und Diskussionen über eine nächtliche spontane, friedliche und politische Aktion, zeigt, wie stark dieses Land mit fremdenfeindlichen Ressentiments aufgeladen ist. Viel wurde in den letzten Tagen über uns geredet. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt. Am Mittwoch möchten wir über die Polizeiaktion und über unsere Situation in der Landeserstaufnahmeeinrichtung sprechen. Wir hoffen, es werden uns viele zuhören.

 

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