Svenja Spunck, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017
Der Kampf der kurdischen Frauen in Rojava erlangte vor allem durch die Verteidigung der Stadt Kobanê (Ain al-Arab) gegen den IS große Popularität. Selbst bürgerliche Medien präsentierten kämpferische Fotos von den Frauen der YPJ, die sich mit der Waffe in der Hand gegen Dschihadisten verteidigen. In diesen Berichten ging es eigentlich immer um die Feinde des Islamismus an sich und weniger um die Frauen. Man stelle sich einmal vor, es hätte bewaffnete Aufstände gegen das Abtreibungsgesetz in Polen oder die Herdprämie der Bundesregierung gegeben. Von starken Frauen hätte da wohl keiner mehr gesprochen. Auch die politische Schwesterorganisation der PYD, nämlich die PKK in der Türkei, steht auf der europäischen Terrorliste – ihre Frauenpolitik ist die gleiche. Wir wollen uns in diesem Artikel mit der Perspektive der Frauen in Rojava und unter der politischen Kontrolle der Parteien PYD/PKK beschäftigen, um zu verstehen, was hinter der „Revolution der Frau“ tatsächlich steckt.
Der Gesellschaftsvertrag, eine Art Verfassung, wurde von der PYD in Rojava 2014 veröffentlicht. Darin werden in unterschiedlichen Punkten das Verhältnis der Geschlechter und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft definiert. So heißt es in Artikel 27: „Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind zu schützen.“ und in Artikel 28: „Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen.“ Außerdem ist festgelegt, dass alle politischen Gremien von mindestens 40 % Frauen besetzt sein müssen und dass eine der wichtigsten Aufgabe der Asayis-Kräfte (wie Polizei, verantwortlich für innere Sicherheit) der Schutz von Frauen vor sexuellen Übergriffen ist.
Es klingt schön, die strukturelle Unterdrückung des weiblichen Geschlechts einfach per Gesetz aufzuheben, sie zu „verbieten“. Liest man jedoch die gesamte Verfassung, kommt man spätestens bei Artikel 41 in einen Widerspruch, da dieser nämlich besagt: „Das Recht auf Eigentum und Privateigentum wird geschützt. Niemand darf der Gebrauch des eigenen Eigentums verweigert werden. Niemand darf enteignet werden.“ Begreift man also die Unterdrückung der Frau im marxistischen Sinne – nicht als böswillige oder rückschrittliche Ansicht, dass Frauen weniger zu sagen haben sollten, sondern als einen notwendigen Mechanismus innerhalb der kapitalistischen, auf dem Recht auf Privateigentum basierenden Produktionsweise –, so lässt sich wohl kein Richtiges im Falschen aufbauen. Der Einbezug der Frauen vor allem in die bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten ist eine Notwendigkeit in Rojava, um die ohnehin geringe Bevölkerung schützen zu können. Durch diese praktische Erfahrung werden Geschlechterverhältnisse zwar deutlich gemacht, in Frage gestellt und funktional-temporär umgestaltet, jedoch die Grundlage ihrer Entstehung noch nicht beseitigt.
Widmen wir uns zunächst dem Verständnis der kurdischen Bewegung (Fokus auf PKK/PYD-Strömung) der Frauenunterdrückung. Dazu beziehen wir uns auf die Schrift „Die Revolution der Frau“ von Abdullah Öcalan, Parteivorsitzender und ideologischer Vordenker der PKK. Die Geschichte der Zivilisation sei die Geschichte der Versklavung, die in drei Stufen abläuft. Interessant ist, dass die erste Stufe dabei die ideologische und erst die dritte dann die ökonomische sei. Er beschreibt es also als einen bewussten Prozess, der ohne ökonomische Grundlage zunächst die Menschheit unterdrückt, um dann im Nachhinein wie als ein willkommenes Nebenprodukt ökonomisches Mehrprodukt daraus zu schöpfen. Indem „der dominante Mann“ sich nun dieser geschaffenen Unterdrückungswerkzeuge wie Religion, Wissenschaft und Wirtschaft bedient, wird die Gesellschaft ihrer Freiheit und damit auch der von Frauen beraubt. „Der Niedergang und der Verlust der Frau ist somit der Niedergang und Verlust der gesamten Gesellschaft, und ihr Ergebnis ist die sexistische Gesellschaft.“ Er schreibt weiter: „Die geschlechtliche Versklavung unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der Versklavung von Klassen und Völkern. Ihre Legitimation erlangt sie durch raffinierte und intensive Repression, kombiniert mit Lügen, die auf Emotionen abzielen.“
Demnach ist die Unterdrückung der Frau ein bewusster, von bösartigen und freiheitsfeindlichen Männern eingeleiteter Prozess, der sogar unabhängig von Klassenzugehörigkeit stattfindet. Obwohl Öcalan selbst beschreibt, dass er zu dieser Erkenntnis, der „Hausfrauisierung als Form der Sklaverei“, nur durch langes Studium kam, wäre es vielleicht von Vorteil gewesen, einmal den Grad der Unterdrückung der weiblichen Hillary Clinton oder Angela Merkel mit dem eines männlichen, kurdischen Gastarbeiters bei Ford am Fließband zu vergleichen. Dieser kann noch so bösartig und freiheitsfeindlich sein, die Freiheit des herrschenden weiblichen Teils der Bourgeoisie wird er damit nicht einmal ankratzen können. In einer langen Ausführung über die neolithische Gesellschaft, die er als Ursozialismus beschreibt, wird die Rolle der Frau/Mutter (tatsächlich in dieser Form synonym verwendet) und der matrizentrischen Familie – mit ihr im Mittelpunkt – gelobt. Diese Lebensform hätte sich lange ohne eine staatliche Herrschaftsform gehalten und wird von ihm deshalb stark idealisiert. Später bezieht er dies konkret auf die kurdischen Frauen, deren Freiheitssinn besonders stark ausgeprägt sei, da ihre ganze Geschichte vom Kampf gegen „Naturgewalten und fremde Übergriffe“ geprägt sei. Sie sei auch einer besonders starken Unterdrückung durch den Mann ausgesetzt, da er seinen Frust, politisch unterdrückt zu sein, durch Machtausübung gegenüber der Frau kompensieren würde. Der Höhepunkt des institutionalisierten, dominanten Mannes seien der Kapitalismus und der Nationalstaat, in seinen eigenen Worten: „Kapitalismus und Nationalstaat sind der Monopolismus des tyrannischen und ausbeutenden Mannes.“
Was folgt nun für eine politische Konsequenz aus dieser Analyse, oder welche Schlussfolgerung kann gar nicht erkannt werden?
Das Fundament der Frauenunterdrückung ist nicht wie im marxistischen Sinne die Klassengesellschaft und das Privateigentum an Produktionsmitteln, sondern eine biologistische Definition vom dominanten Mann und der freiheitlichen Frau. Daraus folgernd muss also gezwungenermaßen jeglicher Einfluss des Mannes zurückgedrängt und die Macht über die Gesellschaftsordnung in die Hände der Frauen gelegt werden.
„Die Männlichkeit hat das herrschende Geschlecht, die herrschende Klasse und den herrschenden Staat erzeugt. Wenn der Mann in diesem Zusammenhang analysiert wird, ist es klar, dass die Männlichkeit getötet werden muss. In der Tat ist es das Grundprinzip des Sozialismus, den dominanten Mann zu töten.“ Der revolutionäre Ausspruch Rosa Luxemburgs, „Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus und kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung“, wird damit für nichtig erklärt. Die Gleichsetzung des männlichen Geschlechtes mit dem unterdrückenden System lässt keine Klassenanalyse mehr zu, noch schlimmer, sie verschleiert die tatsächlichen Unterdrückungsverhältnisse. Statt die Unterdrückung der Frau als ein Ergebnis der materiellen Verhältnisse zu sehen, wird sie in Konkurrenz gestellt – zum Klassenkampf. Dies wird sehr deutlich ausgedrückt: „Die Tatsache, dass im Laufe der Geschichte die Frau – die ewige Gefangene in den Händen des Mannes – ihrer Identität und ihres Charakters beraubt wurde, hat erheblich mehr Schaden verursacht als die Klassenspaltung.“
Diese vehemente Ablehnung eines Klassenbegriffes ist Teil der gesamten kurdischen Bewegung. Das Unterdrückungsverhältnis besteht danach nicht zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden, also Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, sondern zwischen Mann und Frau, zwischen TürkInnen/ AraberInnen etc. und KurdInnen oder einem autoritären Staat und freiheitlichem Kommunewesen. Diese politische Überzeugung wird in Rojava tatsächlich auch umgesetzt. Wir unterstützen und verteidigen Rojava gegen alle Angriffe von außen, sei es der IS, der türkische Staat oder imperialistische Interventionen. Wir verteidigen das Recht auf Selbstbestimmung aller unterdrückten Nationen. Doch wir kritisieren auch die Politik der PYD, nicht aus westlicher Borniertheit, sondern aus dem Gedanken des Internationalismus heraus. Der Kampf der KurdInnen im Nahen Osten ist verknüpft mit allen anderen Kämpfen von Unterdrückten und hat nicht nur symbolische Bedeutung. In der aktuellen Lage steht das Projekt Rojava vor schwierigen Entscheidungen. Mit dem Fall von Aleppo ist die Konsolidierung des Assad-Regimes in greifbare Nähe gerückt und auch Rojava, das bisher eine neutrale Position einnahm im syrischen Bürgerkrieg, muss sich bald entscheiden, wie es sich dazu verhält. Neutralität hilft immer dem Unterdrücker, nicht den Unterdrückten, doch nach dessen Sieg wird sich der Unterdrücker nicht mehr an diese kleine Geste erinnern. Weder Assad noch seine Partner Iran, Russland und auch die Türkei haben ein Interesse an einer weiteren und linkeren kurdischen Autonomie. Vor allem das unter Druck geratene Erdogan-Regime kann sich diesen Risikofaktor nicht leisten.
Wie kann die PYD nun also darauf reagieren? Ihr politisches Programm, nämlich zum einen die kapitalistischen Grundlagen wie das Privateigentum und auch die Staatsgrenzen im Nahen Osten anzuerkennen, sind schon einmal die erste Einschränkung für eine Ausweitung der Revolution. Natürlich darf man nicht die vielen internationalen KämpferInnen vergessen, die sich bereits der YPG/YPJ angeschlossen haben, jedoch werden auch sie sich nicht gegen die NATO-Macht Türkei oder gegen Assad und seinen russischen Verbündeten wehren können. Was bisher geschah, waren radikale politische Reformen, keine soziale, geschweige denn sozialistische Revolution. Die Frau darf an der Waffe kämpfen und das wird auch ausdrücklich staatlich gefördert (zum Beispiel durch den Militärdienst, zu dem auch Jugendliche eingezogen werden), aber dennoch gibt es keine Strukturen, welche die Hausarbeit und die Kinderversorgung übernehmen. Es entsteht also in erster Linie eine Mehrarbeit für die Frauen. Die Erfahrungen, die sie jetzt in den Selbstverteidigungsstrukturen und in den politischen Basiskomitees machen, sind wichtig und bestärkend. Sie ersetzen jedoch nicht die längerfristige, internationalistische Perspektive und die Antwort auf die Frage, welche Klasse herrscht und welche Produktionsverhältnisse den Alltag bestimmen.