Martin Suchanek, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017
Von Alice Schwarzer bis zur AfD gilt es längst als „erwiesen“: „Der“ Islam ist keine Religion wie jede andere. Er sei rückständiger, unterdrückerischer als das Christentum. Dieses hätte einen Prozess der „Aufklärung“ durchgemacht, der es zu einem umso unverzichtbareren Bestandteil unserer „abendländischen Zivilisation“ gemacht hätte.
Auch wenn viele Menschen vor der chauvinistischen Konsequenz anti-muslimischer Vorurteile und erst recht vor offenem Rassismus zurückschrecken, so wirkt die Behauptung, dass der Islam besonders reaktionär und vor allem besonders frauenfeindlich wäre, bis tief in die ArbeiterInnenbewegung und die radikale Linke hinein.
Sind nicht die massenhaften sexistischen Übergriffe von Köln am Silvesterabend 2015 ein Beleg dafür? Sind nicht die fehlenden demokratischen Rechte für Frauen in vielen islamisch geprägten Ländern ein Beweis dafür?
Ein Blick auf reaktionäre religiöse Bewegungen oder auch Regierungen auf der ganzen Welt zeigt, dass andere Glaubensrichtungen dem Islam keineswegs nachstehen. Die christlichen Kirchen spielten nicht nur eine wichtige Rolle bei der Kolonisierung und Versklavung ganzer Völker. Heute sind sie weiter ein Stützpfeiler für Diktaturen und Vorreiterinnen im Kampf gegen die Rechte von Frauen, von Schwulen und Lesben, gegen Verhütung und sexuelle Aufklärung. Im hinduistisch geprägten Indien und im christlichen Brasilien werden jährlich tausende Frauen infolge sexueller oder sexistischer Angriffe getötet. Der Sexist Trump hält Übergriffe auf Frauen für ein Recht der (reichen) Männer.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Klassengesellschaften zeigt, dass nicht „die“ oder eine besondere Religion die Frauenunterdrückung hervorgebracht hat, sondern dass vielmehr die Klassengesellschaft selbst einer Ideologie bedurfte, die die Ausbeutung wie auch die Unterdrückung der Frau rechtfertigte und weiter rechtfertigt. Weltgeschichtlich kommt hier den Religionen – zumal den großen „Weltreligionen“ – eine herausragende Bedeutung zu.
Unterschiede in den religiösen Vorstellungen sind daher letztlich eine Widerspiegelung der Veränderungen oder sich abzeichnender Änderungen der jeweiligen Gesellschaftsformationen.
Das Christentum wurde zur Staatsreligion im antiken römischen Kaiserreich und wandelte sich später zur zentralen Ideologie des Feudalismus. Der Protestantismus entstand mit dem Niedergang dieser Ordnung und wurde zur Ideologie des entstehenden Bürgertums, wie u. a. die Herausbildung der protestantischen Ethik belegt.
Der Islam entwickelte sich im 7. Jahrhundert mit der Etablierung einer Klassengesellschaft, die, wenn auch mit einigen Besonderheiten, auf der „asiatischen Produktionsweise“ basierte und die ideologische Hülle darstellte, die den Bedürfnissen der Tribut eintreibenden städtischen Zentren, ihres Beamtenapparats sowie der Händlerklasse entsprach. Das brachte auch eine relative Verbesserung der Stellung der Frau verglichen mit den vorherrschenden Zuständen unter den arabischen Stämmen mit sich.
Der Aufstieg des Islam bedeutete, dass für den Beitritt zur Gemeinschaft der Gläubigen (Umma) ethnische oder familiäre Herkunft unbedeutend waren. Der barbarische Umgang mit den Frauen unter den arabischen Stämmen wurde beendet. Den Frauen wurden Rechte zugestanden, das altarabische Erbrecht verändert, die Zahl der Ehefrauen begrenzt. Mohammed und seine Nachfolger führten nicht die Verschleierung der Frau ein, diese war schon vorher in Arabien bekannt. Ähnliches gilt für die weibliche Genitalverstümmelung.
Natürlich kann man auch nicht davon sprechen, dass der Islam die Frauen befreit habe. Es ging um die Etablierung und Festigung einer Klassengesellschaft. Das Patriarchat wurde auf höherem Zivilisationsniveau als dem der Stämme durch die Regeln des Koran gefestigt. Frauen wurde die Beziehung zu mehreren Männern verboten.
Fazit: Der Islam ist genauso frauenfeindlich wie alle Religionen in Ausbeutergesellschaften. Objektiver Gradmesser des Fortschritts für MarxistInnen sind z. B. der Grad der Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit, Gleichberechtigung usw., nicht religiöse Praktiken oder Lehren. Dass die Lage der Frauen in diesen Ländern oft noch weit schlechter als in den imperialistischen Zentren ist, liegt aber nicht an deren besonderer Religion, wie nicht nur ein Blick z. B. auf christliche Länder in der sog. „Dritten Welt“ zeigt.
Die Ursache liegt vielmehr in der Kombination von Integration in den kapitalistischen Weltmarkt und der Reproduktion vor-kapitalistischer Formen der Ausbeutung und Unterdrückung. Die „Rückständigkeit“ vieler Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist Ausdruck ihrer Einbindung in das imperialistische Weltsystem, das ihre innere Entwicklung bestimmt.
Der Terminus „islamische Länder“ oder „islamische Welt“ trägt in diesem Zusammenhang und angesichts der enormen Unterschiede dieser Staaten mehr zur Verschleierung als zum Verständnis des Verhältnisses von Imperialismus, Klassenkampf und Religion bei.
Wenn wir die Rolle des Islam verstehen wollen, so setzt das ein Verständnis der Klassenverhältnisse, deren innerer Dynamik, der Einbettung der Länder in die imperialistische Weltordnung und Arbeitsteilung voraus. Dabei wird niemand übersehen können, dass in diesen Ländern die Religion – der Islam und nicht nur der Islamismus – eine größere Bedeutung erlangt hat.
Der Grund dafür kann aber offenkundig nicht in der „Natur“ der Menschen liegen. Vielmehr ist ein entscheidender Faktor die Desillusionierung über den „Westen“ und die unerfüllten Fortschrittsversprechen der imperialistischen Mächte, allen voran der USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Kalten Krieg die materielle Besserstellung aller Klassen und auch der Frauen als Ziel proklamierten. Die Sowjetunion versuchte, zur Wahrung ihrer geo-strategischen Interessen ähnliches zu erreichen, indem sie links-nationalistische Regime förderte.
Doch diese Versprechen scheiterten an der harten Realität kapitalistischer Konkurrenz. Insbesondere mit dem Neo-Liberalismus und der kapitalistischen Globalisierung wurden diese Länder mehr und mehr zum Ort spekulativer Investitionen, der „Öffnung“, Privatisierung usw., die nicht nur die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse verschärften, sondern auch das Kleinbürgertum und die „Mittelschichten“ mehr und mehr ruinierten oder zumindest mit Ruin bedrohten.
Zugleich erwiesen sich aber auch die bürgerlich-nationalistischen, klein-bürgerlich-nationalistischen und stalinistischen Kräfte, die die Linke und Befreiungsbewegungen dominierten, als politisch unfähig, eine korrekte Perspektive zu weisen. Die Politik der großen Mehrheit der iranischen Linken führte zur Anpassung an die „nationale Bourgeoisie“ unter islamistischer Führung und zu einer historischen Niederlage der ArbeiterInnenbewegung. Der Sturz des Schahs führte nicht zur sozialen Revolution, sondern endete in der islamistischen Konterrevolution. Nach dem Ende des Kalten Krieges verschärfte sich die Führungskrise, wie z. B. an der politischen Kapitulation der PLO in Oslo zu sehen ist. All das stärkte die islamistischen Kräfte und auch den Einfluss des Islam, die sich demagogisch als einzige realistische Alternative zum Westen präsentierten.
Zugleich griffen auch bürgerliche Kräfte oder Militärdiktaturen verstärkt auf die Religion als Rechtfertigungsideologie ihrer Herrschaft zurück. Die materielle Integration für die Massen wurde in der Periode des Neo-Liberalismus und besonders seit der großen Krise 2007/8 immer schwerer, was sich an der zunehmenden Massenverelendung und Arbeitslosigkeit wie auch an der Zerstörung ganzer Staaten wie des Irak infolge von imperialistischen Kriegen und Besetzungen zeigte. Ein Surrogat, die Religion, sollte herhalten als Trost in einer immer trostloseren Welt. Das wiederum stärkte natürlich die religiösen Autoritäten auf lokaler wie nationaler Ebene.
Es zeigt aber auch, dass in den „islamischen Staaten“ die vorherrschende Religion grundsätzlich eine herrschaftsstabilisierende Funktion hat. Erstens, weil sie der großen Masse der ArbeiterInnen und v. a. der Landbevölkerung „erklärt“, dass sie sich mit ihren Verhältnissen, so erbärmlich sie auch sein mögen, letztlich abzufinden haben. Allenfalls können sie auf einen Wohltäter, einen „rechtschaffenen“ Kapitalisten oder Grundbesitzer hoffen. Der rohe Klassenkampf gegen diese Ordnung gilt jedoch als illegitim.
Zweitens muss bewusst sein, dass diese Funktion nicht bloß aus Glaubensüberzeugungen erwächst. Die Prediger, Imame usw. sind in den islamischen Gesellschaften natürlich auch eng mit der herrschenden Klasse verbunden, deren ideologische Fürsprecher, von diesen mit Pfründen und Privilegien ausgestattet. In dieser Hinsicht ist ihre Stellung nicht viel anders als jene der Priester, Pastoren, Popen oder evangelikalen Prediger in den „christlichen Ländern“. Auch sie werden über verschiedene Kanäle von der herrschenden Klasse (oder einer Fraktion dieser Klasse) oder direkt vom Staat gestützt.
Drittens dient die Religion immer auch dazu, nicht nur kapitalistische Ausbeutung, sondern vor allem auch mit ihr verbundene Unterdrückungsverhältnisse zu legitimieren. Das trifft besonders die Stellung der Frau. Diese variiert in den verschiedenen Ländern und für verschiedene Klassen enorm. Sie kann von der vollständigen Entrechtung in Ländern wie Saudi-Arabien oder unter Herrschaft der Taliban bis zur formalen Gleichstellung in islamisch geprägten Ländern mit relativ säkularer Verfassung reichen. Die realen Lebensverhältnisse sind davon jedoch zu unterscheiden – nicht zuletzt, weil die verschiedenen Formen der Frauenunterdrückung nicht einfach durch den Islam geschaffen wurden, sondern von diesem legitimiert, teilweise sogar entgegen islamischen Rechtsvorstellungen im realen Leben toleriert werden wie z. B. das Kastenwesen in Pakistan.
Obige Darstellung zeigt, worin die gesellschaftlichen und politischen Wurzeln für das Stärkerwerden islamischer Kräfte liegen. Die versuchte strengere „Islamisierung“ ist aber keineswegs nur ein Zeichen der Stärke der Reaktion. Sie ist auch eine Antwort auf die innere Zersetzung, auf eine Vertiefung der Klassenspaltung innerhalb der Gesellschaften, die – siehe die arabischen Revolutionen – „überraschend“ auch zu revolutionären Erschütterungen und Aufständen führen können.
Die servile Moral der Herrschenden, ob nun in Form der Religion oder einer „weltlichen“ Ethik, wird oft gerade dann beschworen, wenn die realen Lebensverhältnisse den guten Vorsätzen der Moral immer mehr ins Gesicht schlagen. Gerechtigkeit, Gleichheit, Rechtschaffenheit usw. werden den Armen gepredigt, wenn sie im Alltag und vor allem in der Arbeitswelt immer offener mit Füßen getreten werden.
Es ist daher kein Wunder, dass die Haltung der verschiedenen Klassen in den islamischen Ländern zur Religion auch sehr unterschiedlich ist.
Die herrschende Klasse hat oft ein besonders zynisches Verhältnis zur Religion. Ihre Mitglieder haben längst „westliche“ Lebensweisen übernommen. Sie leben oft abgeschieden von der „normalen“ Bevölkerung in enormem Luxus. Die Frauen der herrschenden Klasse müssen nicht arbeiten, die Töchter verhalten sich oft wie ihre Pendants aus „gutem Hause“ im Westen.
Ihre „Religiosität“ ist vor allem eine Fassade für das Volk. Während sie religiösen Eifer und Vorschriften belächeln und ablehnen mögen, so erkennen sie ihren Wert für die „unmündige“ und „rückständige“ Bevölkerung, die nicht mehr wissen muss als notwendig, um ihre Funktion als hart arbeitende BäuerInnen oder LohnsklavInnen zu erfüllen.
Es ist kein Zufall, dass die Religiosität ihren größten Nährboden findet unter den Mittelschichten und auf dem Land. Auch hier ist Doppelmoral natürlich weit verbreitet. Wie wir aus katholischen Internaten wissen, bringen die Aufseher, Erzieher, Priester ihren Schutzbefohlenen Gehorsam nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber dessen „Stellvertretern auf Erden“ bei. Diese Doppelmoral gibt es natürlich auch unter den religiösen Würdenträgern im Islam.
Oftmals werden Frauen und Mädchen in ländlichen Regionen aufgrund der enormen Machtfülle der traditionellen Eliten besonders brutal unterdrückt. Den Ärmsten, v. a. den Frauen und Mädchen, wird der Zugang zur Bildung und zum öffentlichen Leben weitgehend vorenthalten. Infrastruktur und medizinische Versorgung sind in der Regel noch weitaus schlechter als in den Städten. Schließlich finden sich oft genug Formen der Knechtschaft als Ausbeutungsverhältnis. Die Stellung der Bauern/Bäuerinnen und LohnarbeiterInnen ähnelt jenen von SklavInnen oder Leibeigenen – und diese findet ihre Fortsetzung in der Versklavung der Frau in der Familie. Kombiniert wird das mit der Reproduktion vorkapitalistischer sozialer Strukturen, wo „Stammesführer“, Familienoberhäupter, traditionelle Eliten noch fest im Sattel sitzen. Ihre Herrschaftsansprüche legitimieren sie religiös und traditionalistisch – nicht jedoch, um damit eine vergangene Klassengesellschaft wieder aufleben zu lassen, sondern um besonders rücksichtlose Formen der Ausbeutung zur Produktion für den kapitalistischen Markt durchzusetzen.
Das städtische und ländliche „gehobene“ Kleinbürgertum wie auch Teile der „Mittelschichten“ sind oft ein zweiter zentraler sozialer Träger islamischer Ideologie. Für diese Klassen ist es – anders als für die Bauernschaft und das Proletariat – am ehesten möglich, eine „islamische Lebensweise“, einschließlich von Geschlechtertrennung und Entbindung der Frau von der Erwerbstätigkeit zu realisieren.
Zugleich bedroht die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus die Stellung dieser Schichten, sie fürchten ihren Niedergang. Verantwortlich dafür machen sie einerseits das Großkapital, die städtischen und globalen Eliten, andererseits aber auch demokratische Bewegungen, Bewegungen nationaler und religiöser Minderheiten (insbesondere anderer islamischer Richtungen). Die ArbeiterInnenbewegung und die Frauenbewegung gelten ihnen letztlich als feindlich, auch wenn es zahlreiche Versuchte gibt, islamisch geprägte Gewerkschaften oder auch Frauenorganisationen aufzubauen – eine gewisse Analogie zu christlichen Gewerkschaften und zur christlichen „Frauenbewegung“.
Es ist kein Zufall, dass die ArbeiterInnenklasse oft weitaus weniger vom religiösen Gedankengut beeinflusst ist. Erstens zwingt gerade ihre Überausbeutung auch Frauen zur Lohnarbeit. Das trifft vor allem auf jene Länder zu, die ihren Reichtum nicht auf den Verkauf von Bodenschätzen gründen können und daher nicht in der Lage sind, größere Teile der StaatsbürgerInnen zu alimentieren und v. a. ArbeitsmigrantInnen für sich arbeiten zu lassen (wie z. B. die Petro-Monarchien am Golf).
In Ländern wie Ägypten, Pakistan, Indonesien gibt es riesige ArbeiterInnenklassen, die Millionen Lohnarbeiterinnen umfassen. In Pakistan sind rund 20 Prozent der 65 Millionen Lohnabhängigen Frauen, in Ägypten ist rund ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung im industriellen Sektor beschäftigt, in Indonesien fast die Hälfte. In industriellen Zentren diese Länder sind oft auch sehr viele Frauen beschäftigt, die in der ägyptischen unabhängigen Gewerkschaftsbewegung und auch beim Sturz Mubaraks eine sehr aktive Rolle spielten.
Dass Frauen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, führt dazu, dass für die ArbeiterInnenklasse selbst die religiösen Vorschriften zu einer enormen moralischen und materiellen Bürde werden und zugleich in einen offenen Widerspruch zu ihrer Existenz treten. Hinzu kommt, dass ihre Ausbeuter selbst die Religion als moralische Waffe gegen die Frauen (und die Klasse insgesamt) wenden. Schließlich bieten die Ansätze von Organisierung einen Weg, wie sich Frauen aus ihrer realen, geknechteten Lage erheben können (was, nebenbei bemerkt, auch für Selbstverteidigungskräfte wie die kurdischen Milizen gilt).
Es wäre naiv zu denken, dass die Frauen (wie auch proletarische Männer) aufhören, Muslime oder Muslima zu sein, wenn sie den Weg des Kampfes beschreiten. Aber sie verändern nichtsdestotrotz ihr Verhältnis zu den staatlichen und religiösen Autoritäten – und das wiederum wird verschärft dadurch, dass diese in der Regel gegen die Frauen Stellung nehmen, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung Widerstand leisten.
Natürlich gibt es auch Kämpfe gegen Unterdrückung, gegen Imperialismus oder Besetzung, bei denen religiöse oder gar islamistische Strömungen eine führende Rolle einnehmen können. Diese bilden jedoch die Ausnahme, so wie auch die christliche „Theologie der Befreiung“ im scharfen Kontrast zur offiziellen katholischen Kirche stand und immer eine Minderheitsströmung blieb. Zweitens ändert die Tatsache, dass z. B. Organisationen wie die Hamas zu einer führenden Kraft im Kampf der PalästinenserInnen gegen Zionismus und Imperialismus wurden, nichts daran, dass ihre gesellschaftlichen Ziele reaktionär und pro-kapitalistisch bleiben und diese auch im Befreiungskampf selbst dazu führt, dass z. B. Frauen auf ihre „traditionelle“, „natürliche“ Geschlechterrolle beschränkt bleiben sollen.
In den sog. „islamischen Ländern“, also dem vom Imperialismus beherrschten Staaten, die vom islamischen Glauben geprägt sind, ist der Kampf um Frauenbefreiung eng mit dem gegen Entrechtung und Unterdrückung verbunden, die religiös legitimiert wird. Er ist im Kern aber kein „religiöser“, sondern einer für demokratische und soziale Rechte.
Dazu gehören einerseits eine Reihe demokratischer Forderungen wie die formale, rechtliche Gleichstellung der Frau (als Staatsbürgerin, vor Gericht, bei Scheidungen etc.), das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf gleichen garantierten und kostenfreien Zugang zu Bildung und Ausbildung, Abschaffung geschlechtlicher Trennung, Schaffung von Frauenhäusern für Frauen und Kinder zum Schutz vor familiärer Gewalt. RevolutionärInnen treten für die Trennung von Staat und Religion ein, für die Abschaffung jeder theokratischen Herrschaftsform und jede Privilegierung einer Glaubensgemeinschaft.
Zugleich geht es um die soziale Frage in Stadt und Land. Die Befreiung der Frauen ist in vielen Ländern undenkbar ohne ein Programm der Agrarrevolution, der Enteignung des Großgrundbesitzes und der Abschaffung der Zinsknechtschaft. Ein solcher Kampf muss sich vor allem auf die LandarbeiterInnen, TaglöhnerInnen und kleinen BäuerInnen stützen.
Schließlich ist der Kampf um die Rechte der Arbeiterinnen, der gemeinsame Kampf der ArbeiterInnenklasse entscheidend. Frauen muss der Zugang zu allen Bereichen der beruflichen Tätigkeit überhaupt erst ermöglicht, ungeregelte, befristete, „inoffizielle“ Arbeitsverhältnisse müssen abgeschafft werden. Ein Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten deckt, wäre in den meisten Ländern ein Kampfziel, das Männer und Frauen vereinen kann. Hinzu kommt die Forderung nach bezahltem Urlaub, Krankenstand und Rente.
Voraussetzung dafür ist aber auch die Öffnung der ArbeiterInnenbewegung für die Frauen und die Unterstützung ihrer Kämpfe für demokratische Rechte, gegen Sexismus und Übergriffe. Das wäre zugleich auch der Ansatzpunkt für eine proletarische Frauenbewegung, die auch den unterdrückten Frauen aus den Mittelschichten und den Bäuerinnen eine Perspektive bieten könnte.
Gegen Angriffe von islamistischen oder anderen frauenfeindlichen Kräften, deren reaktionärste Ausprägungen bis zu Formen des klerikalen Faschismus gehen, bedarf es des Kampfes um das Recht auf Selbstverteidigung. Auf den Staat ist dabei kein Verlass, vielmehr muss der Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten der ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft propagiert und, wo möglich, in Angriff genommen werden.
Schließlich ist eine solche Bewegung nicht vorstellbar, ohne dass Frauen männlichen Chauvinismus und patriarchale Strukturen in der ArbeiterInnenbewegung bekämpfen. Diese sind weit verbreitet, auch unter nicht-religiösen Männern. Daher bedarf es auch des Rechts auf gesonderte, eigenständige Treffen von Frauen in der Gewerkschaften und politischen Organisationen der ArbeiterInnenklasse.
Nur auf Basis des Klassenkampfes kann die Bindung von Frauen (und auch Männern) an die herrschende Klasse durch religiöse Autoritäten durchbrochen, real in Frage gestellt werden. Viele dieser Frauen (und Männer) werden in den Kampf treten, ohne selbst schon mit ihrem Glauben gebrochen zu haben. Dies zu fordern oder zur Voraussetzung für das gemeinsame Vorgehen zu machen, wäre doktrinär, ultimatistisch und würde nur jenen religiösen Autoritäten und den hinter ihnen stehenden Kapitalisten und Grundbesitzern in die Hände spielen, die eigentlich bekämpft werden sollen.
Auch eine revolutionäre Partei wird Menschen mit religiösen Überzeugungen aufnehmen, sofern sie bereit sind, das politische Programm zur Trennung von Staat und Religion zu akzeptieren und dafür einzutreten. Zugleich muss eine solche Partei und deren Programm auf festen materialistischen Grundlagen stehen und es bleibt das Ziel der Partei, kämpfende Gläubige geduldig vom konsequenten Materialismus zu überzeugen, der mit eine religiösen wie jeder anderen idealistischen Erklärung der Welt theoretisch unvereinbar ist.
Entscheidend für die Mitgliedschaft ist jedoch das Programm, das selbst kein Bekenntnis zum Atheismus verlangt, wohl aber zur proletarischen Revolution, also zur Errichtung der ArbeiterInnenmacht, die selbst die Bedingungen schafft, auf deren Grundlage das Bedürfnis nach Religion absterben kann.
Wir haben gesehen, dass der Islam – nicht nur die IslamistInnen – in vielen vom Imperialismus beherrschten Ländern – eng mit der bestehenden Ordnung verbunden ist/sind.
In den Ländern Europas ist er das nicht. Der Islam ist keine vorherrschende Religion, sondern das Christentum. Natürlich treten wir auch hier für die Trennung von Staat und Religion ein, beispielsweise für die Abschaffung jedes Religionsunterrichts an den Schulen, von Tendenzbetrieben, Sonderregelungen im Arbeitsrecht usw., durch die die katholische und protestantische Kirche massiv staatlich gefördert werden.
Aber in den imperialistischen Staaten hat die offizielle und bürgerliche „Kritik“ am Islam ihrem Wesen nach keinen religiösen oder gar aufklärerischen, sondern einen rassistischen Charakter, der zur Stigmatisierung von MigrantInnen und Geflüchteten wie zur Rechtfertigung militärischer und politischer Interventionen in „rückständige“ Länder dient.
Den Enthüllungen der unterdrückerischen Rolle der Religion, wie sie von Rechten, staatlichen Institutionen und bürgerlichen Organisationen vorgetragen wird, dient die Unterdrückung der muslimischen Frauen nur als Vorwand.
In Wirklichkeit laufen die vorgeschlagenen „Maßnahmen“ – seien es sog. „Integrationsgesetze“ oder Bekleidungsvorschriften wie Schleier- oder Burka-Verbot – nur darauf hinaus, die Spaltung der Klasse und Unterdrückung der Frau zu befestigen.
Die Ursachen für die reale Unterdrückung und ihre Folgen – fehlende Arbeitsmöglichkeiten, schlechte Bezahlung, keine Förderung, Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes – werden nicht bekämpft als Gründe und Mittel zur Verstetigung der rassistischen Unterdrückung. Stattdessen wird die Ausgrenzung, Schlechterstellung der Muslima und Muslime deren falschem Bewusstsein in die Schuhe geschoben. Es wird so getan, als ob MigrantInnen plötzlich gleiche Chancen am Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, bei der Wohnungssuche hätten, wenn sie ihren Glauben ablegen und sich „voll integrieren“ würden.
Schließlich wird den Unterdrückten – und hier besonders den muslimischen Frauen – im rassistischen Denken auch noch jede Subjekthaftigkeit abgesprochen. Die verschleierte Frau kann gar nicht für sich sprechen, mag sie auch noch so beredt sein. Sie muss vom Staat „befreit“ werden durch Zwangsmaßnahmen (Schleierverbot, …). Zeigt sie dafür kein Verständnis, so wird ihr das auch noch zum Vorwurf gemacht oder dies als Beleg dafür interpretiert, dass solche Frauen eben zu rückständig wären, ihr eigenes Interesse zu erkennen.
Das ist weißer, demokratischer, zivilisatorischer Rassismus at it’s best. Sein Paternalismus offenbart aber auch seinen reaktionären, imperialistischen Charakter.
Der Kern dieser Sorge um die „muslimische“ Frau besteht nämlich darin, dass es gar nicht um den Kampf gegen Frauenunterdrückung geht. Die Rechte von migrantischen Frauen, Geflüchteten (wie auch dieser Männer) sind letztlich egal. Die Behauptung, dass der Islam eine besondere reaktionäre Religion, grundlegend tiefer, widerspruchslos unterdrückerisch wäre, läuft letztlich darauf hinaus, dass Muslima und Muslime im Gegensatz zu Menschen anderer religiöser Überzeugungen zuerst ihre Religion ablegen müssen, bevor sie überhaupt als gleiche Menschen gelten können. Indem dem Islam diese Besonderheit zugeschrieben wird, verkehrt der Rassismus die Ursache für die Unterdrückung von Muslimen in ihr Gegenteil – der Islam, die Religion, die muslimischen Menschen selbst werden dazu erklärt. Sie müssten sich assimilieren, „integrieren“, ihre eigene Identität „ablegen“, um dann als „gute“ integrierte, in der westlichen Gemeinschaft anzukommen. Die Verlogenheit dieser Forderung zeigt sich gerade bei jenen, die seit Jahrzehnten „angekommen“ sind, den Jugendlichen in den Pariser Vorstädten, den jungen Menschen der zweiten und dritten Generation, denen eine Zukunft als Erwerbslose, Jobber, TeilzeitarbeiterInnen, prekär Beschäftigte bevorsteht, für die der Kapitalismus, wenn überhaupt, Zugang nur zum „zweiten Arbeitsmarkt“ bietet.
Echte Integration und gemeinsamer Kampf gegen Frauenunterdrückung sind daher nur möglich, wenn der Kampf für gleiche Rechte, für offene Grenzen, gleichen Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit mit dem Kampf gegen den anti-muslimischen Rassismus in allen seinen Spielarten verbunden wird.