Arbeiter:innenmacht

Basisbewegung gegen die Bürokratie

Die Minderheitsbewegung der 1920er Jahre und ihre Lehren

Peter Lenz, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

Nach dem Erfolg der russischen Revolution 1917 standen die Revolutionäre in aller Welt vor dem Ziel, es den Bolschewiki gleich zu tun und die Arbeiterklasse auch in anderen Staaten, insbesondere den imperialistischen Kernländern, zum Sieg zu führen. In den Nachkriegsjahren bildeten sich aus relativ kleinen, kommunistischen Zirkeln Parteien, deren erklärtes Nahziel der Sturz der eigenen Bourgeoisien war.

Dieser Sprung war zum einen ein organisatorischer Akt, zum anderen aber eine Herausforderung auf politischer, programmatischer Ebene. Es mussten Strategien und Taktiken entwickelt werden. Es musste mit den alten Organisationsformen sozialdemokratischer Prägung gebrochen werden. Für diese neuen kommunistischen Parteien stellte sich die Frage, wie sie die Mehrheit der Arbeiterbewegung auf ihre Seite ziehen und den organisatorischen, politischen und ideologischen Einfluss des Reformismus brechen können.

Hintergründe

Alle grundsätzlichen Fragen der kommunistischen Strategie und Taktik, des Parteiaufbaus, des Verhältnisses von Agitation und Propaganda, des Internationalismus u.a.m. mussten in einer harten Auseinandersetzung aufgearbeitet und konkretisiert werden.

Die Fragen des Kampfes um die Gewerkschaften nahmen hierbei eine zentrale Stellung ein. Stuart King hat sich 1978 in einer Broschüre unserer Schwesterorganisation Workers Power intensiv mit der Entwicklung des Minority Movement (Minderheitsbewegung) in Britannien auseinander gesetzt. Das Beispiel des Minority Movement ist relativ unbekannt geblieben, jedoch aktueller denn je. Für uns ist interessant, welche Erkenntnisse wir aus den geschichtlichen Erfahrungen für die heutige Situation gewinnen können, um eine korrekte Politik in den Gewerkschaften durchführen zu können.

Die Initiative für den Aufbau des Minority Movements ging von der British Communist Party (CPGB) aus, die am 31. Juli 1920 gegründet wurde. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung bestanden eine Reihe von programmatischen Differenzen, insbesondere in der Taktik gegenüber der Labour Party innerhalb der Partei. Die ehemaligen Mitglieder der British Socialist Party, einer der Vorläuferorganisationen der CPGB, waren auch Mitglieder der Labour Party und Lenin empfahl, in der reformistischen Partei zu verbleiben, um bei Wahrung der Propaganda- und Agitationsfreiheit den politischen Einfluss zu erweitern und neue Mitglieder für den Kommunismus zu gewinnen. Keinesfalls sollte das Ziel sein, eine ”Linkspartei” aufzubauen oder die Labour Party zu stärken.

Noch bevor die junge Partei zu einem kohärenten Gefüge zusammenwachsen konnte, gab es Ende 1920 eine massive ökonomische Krise. Sie verdeutlichte, dass die CPGB der Aufgabe noch nicht gewachsen war, ihre Politik auf den Kampf um die Macht auszurichten und als politische Führung der Klasse zu agieren, die imstande gewesen wäre, die Interessen der Arbeiterbewegung erfolgreich zu verteidigen.

Wie so oft in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung standen die Bergarbeiter in dieser kritischen Phase in der vordersten Front. Der Regierungskoalition aus Liberalen und Konservativen forderte massive Lohnkürzungen. Im Jahr davor hatte die Androhung eines Generalstreiks durch einen landesweit organisierten, gewerkschaftlichen Aktionsrat den britischen Imperialismus daran gehindert, direkte militärische Aktionen gegen die Sowjetunion durchzuführen, und 1920 wurde das alte parlamentarische Komitee des gewerkschaftlichen Dachverbandes TUC durch einen neuen ”General Council”, ein zentrales Koordinierungsorgan für die gesamte Gewerkschaftsbewegung, ersetzt. In der Arbeiterklasse gärte es gewaltig.

Als Lloyd George ein Gesetz zur Beendigung der staatlichen Kontrolle der Minen (eine Maßnahme aus Kriegszeiten) verkündete und die Unternehmer drastische Lohnkürzungen verkündeten, war dies eine Kampfansage an die Bewegung. Die Lage spitzte sich zu, als Militär und Reservisten, ausgerüstet mit Maschinengewehren, in den Arbeitervierteln und bei den Minen postiert wurden.

Angesichts der Entschlossenheit der Regierung und der Kampfbereitschaft der Basis griffen die Führer der Gewerkschaftsbewegung – Thomas (Eisenbahner), Hodges (Bergarbeiter) sowie Williams und Bevin (Transportarbeiter) zum Verrat. Am Freitag, dem 13. April sagten die reformistischen Führer die versprochenen Solidaritätsaktionen ab und der Tag ging in die Annalen der britischen Arbeiterbewegung als ”schwarzer Freitag” ein.

Die Auswirkungen auf die britische Arbeiterklasse waren durch die Bank verheerend. Ende des Jahres 1921 erhielten sechs Millionen Arbeiter einen im Schnitt um 8% geringeren Wochenlohn. Der Reallohnverlust bis 1924 war dramatisch: 26% bei den Bergarbeitern, 20% in der Eisen- und Stahlindustrie, 11% bei den Textilarbeitern. Nahezu zwei Millionen Arbeiter – etwa ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft – verließen die Gewerkschaften. Die Arbeitslosigkeit stieg von 250.000 1920 auf fast zwei Millionen im Juni 1921.

Fehler der CPGB

Es folgte noch eine Serie von, teilweise monatelangen Defensivstreiks der Arbeiter. Aber die Gewerkschaften wurden in die Knie gezwungen, die Streikkassen waren leer und viele betriebliche Strukturen in den Ruin getrieben. Die Elemente der Arbeiterkontrolle, die im und nach dem Krieg durchgesetzt worden waren, gingen verloren. Die Shop-Steward-Bewegung (eine Art gewerkschaftlicher Vertrauensleute) brach unter dem Eindruck der steigenden Arbeitslosigkeit und der Niederlagen zusammen.

Die junge CPGB warnte zwar vor dem drohenden Verrat der reformistischen Führer unter dem Titel ”Behaltet eure Führer im Auge”, doch die Partei gab keine klar Linie aus, wie dagegen vorzugehen sei. Sie organisierte auch keinen Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Ortsgruppen, die in ihrer Arbeit auf sich allein gestellt waren. Die Lehren aus dem ”schwarzen Freitag” gingen jedoch nicht verloren, da hier die Kommunistische Internationale zur Seite stand.

Auf dem III. Kongress der Komintern (Juni/Juli 1921) wurde Taktik und Organisation der CPGB einer ernsthaften Kritik unterzogen. Es zeigt sich die Notwendigkeit eines direkteren Eingreifens der Internationale und so wird 1922 vom Londoner Büro der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) die Initiative für eine Kampagne ”Zurück in die Gewerkschaften” gesetzt, um den Austritten aus den Gewerkschaften entgegenzuwirken. Im August 1921 konnten die Kommunisten die Führung im ”National Unemployed Workers Committee Movement” gewinnen.

Ein Schlüssel für die effektive kommunistische Arbeit in den proletarischen Massenorganisationen war eine stabile Organisation der kommunistischen Partei selbst. Diese wurde nach dem Kongress 1922 auf Initiative der jungen Parteimitglieder Pollitt und Dutt und mit Unterstützung der Komintern in Angriff genommen. Im März 1923 begann die CPBG mit der Herausgabe der ”Workers Weekly” mit einer Auflage von annähernd 50.000 Exemplaren (zuvor hatte es ”The Communist” nur auf 17.000 gebracht).

In diesem Jahr begann sich auch die Arbeiterbewegung von ihren Niederlagen zu erholen. Die Zahl der Streiks stieg an, die Arbeiter und Arbeiterinnen entwickelten Selbstvertrauen. In den Wahlen im November 1923 wurde Labour stärkste Partei und bildete eine Minderheitsregierung.

Vor diesem Hintergrund begann die CPGB 1923 einen Kern von CPGB-Mitgliedern und gewerkschaftliche Basismitglieder, die nicht der Partei angehörten, in den Bergwerken, bei den Eisenbahnern und Maschinenbauarbeitern, gemeinsam zu organisieren. Wie weit sich die junge CP von der propagandistischen Unbeweglichkeit ihrer frühen Tage wegbewegt hatte, war an der Strategie und Taktik zu sehen, mit der sie operierte, als sie das Minority Movement aufbaute.

Exkurs: Die Einheitsfronttaktik

1924 wandte die KP bei der Formierung des National Minority Movement die Einheitsfronttaktik an, die die Komintern entwickelt hatte. Auch im politischen Flügel der Arbeiterbewegung, der Labour Party, wurde eine ähnliche Taktik verfolgt, um einen ”linken Flügel” aufzubauen. Die Komintern ging davon aus, dass die Bourgeoisie eine temporäre Stabilisierung nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution erreicht hatte.

Die europäische Arbeiterbewegung stand in ihrer Mehrheit loyal zur Sozialdemokratie und weigerte sich, mit ihren alten Organisationen zu brechen. Nur eine Minderheit kämpfte innerhalb der Gewerkschaften für den Anschluss an die RGI. In dieser Situation bestand die Notwendigkeit, alle organisatorischen Wege auszuschöpfen, um ein Maximum gemeinsamer, koordinierter Aktionen zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Arbeitern sicherzustellen.

Die Einheitsfronttaktik durfte dabei nie die Freiheit der Kritik oder Aktion der CPGB einschränken. Ganz im Gegenteil: Nur durch die beharrliche Kritik an der Politik der reformistischen und zentristischen Führer können die Kommunisten die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse verteidigen und sie für den Kommunismus gewinnen.

Das Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) stellt 1921 in seinen Direktiven zur Einheitsfront fest, dass sich in jeder Gewerkschaft die Basiskräfte um ein Aktionsprogramm sammeln müssen, um konkrete Forderungen für die Konsolidierung der Gewerkschaft und ihre Reorganisation, um die Notwendigkeit zurSchaffung einer neuen (nicht-klassenkollaborationistischen) Ideologie in der Gewerkschaftsmitgliedschaft und um die Notwendigkeit des Trainings und der Entwicklung einer neuen Führerschaft, um die alte zu ersetzen.

In der Komintern und der RGI gab es heftige Auseinandersetzungen um die Einheitsfronttaktik. Diese Debatten müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass zu diesem Zeitpunkt in der Komintern bzw. RGI Organisationen und Gewerkschaften mit syndikalistischem, anarchistischem und anderem linksradikalem” Hintergrund (KAPD u.a.) vertreten waren. So wurde phasenweise die Einheitsfront auch lediglich als Taktik gegenüber diesen Kräften angesehen.

In einer vom Exekutivbüro der RGI im September 1921 erlassenen Botschaft über die Offensive des Kapitals, in der die Idee der Einheitsfront erstmals von der RGI dargestellt wurde, wurde die Notwendigkeit der ”Einheit der proletarischen Front” hervorgehoben, wobei es sich ausdrücklich um die Einheitsfront ”der revolutionären Arbeiter” mit ”den Arbeitern reformistischer Amsterdamer Gewerkschaften” allerdings nicht um die Einheitsfront mit den Amsterdamer Verbänden) handelte.

Differenzen in der KI

Im Oktober 1921 erschien eine Schrift Losowskis, in der das Aktionsprogramm und die Taktik der RGI erläutert wurden. Als aktuelle Aufgabe wurde nur die Errichtung ”der Einheitsfront aller revolutionären Kräfte” hervorgehoben und erst nach der Erfüllung dieser Aufgabe sollte es angebracht sein, an “die Einheitsfront der gesamten Arbeiterklasse”, “an die Zusammenfassung aller Organisationen zu einer einzigen Kampfeinheit zu denken”.

Während nach dem zweiten und vor allem nach dem dritten Weltkongress die Kommunistische Internationale daran ging, die Einheitsfronttaktik zu systematisieren, änderte sich das Bild nach Lenins Tod.

Auf dem V. Kongress der Komintern (vom 17. Juni bis 8. Juli 1924) hat Sinowjew im Bericht des Exekutivkomitees der Komintern als Sinn der Einheitsfrontpolitik folgende Auffassung vertreten:

”Es hat sich herausgestellt, dass manche Genossen es nicht verstanden haben, dass die Taktik der Einheitsfront für die Komintern lediglich eine Methode der Agitation und der Mobilisation der Massen ist”.

Radek polemisierte in der Debatte gegen Sinowjews Ausführungen und setzte sich für die ”ehrliche und offene” Durchführung der Einheitsfronttaktik ein, wurde aber auf das Entschiedenste zurückgewiesen. In einer direkten Polemik gegen Radek führte Bucharin aus, dass die Taktik der Einheitsfront ”das Ziel verfolgt, in den Massen zu agitieren, sie zu mobilisieren und den Gegner zu entlarven”, die Entlarvung der Reformisten sei ”das Wichtigste” in der Einheitsfronttaktik.

In den Darstellungen Losowskis, Sinowjews und Bucharins werden einige grundsätzliche Fehler der Anwendung der Einheitsfronttaktik vertreten, die sich bis heute unter Linken durchziehen. Das ist zum Ersten die Einengung der Einheitsfront auf „die Revolutionäre“ oder die Schaffung „revolutionärer Einheitsfronten“.

Die Einheitsfront ist jedoch immer eine Taktik zur Herstellung möglichst großer gemeinsamer Kampfkraft des Proletariats, von Revolutionären und Nicht-Revolutionären. Die „Einheitsfront der Revolutionäre“ ist in Wirklichkeit entweder politischer Unsinn, das politische Reinwaschen von zentristischen oder ultra-linken Kräften (den “revolutionären” Einheitsfrontpartnern) oder das Vorspiel zur unrühmlichen „Einheitsfront von unten“ der Stalinära. Die Einheitsfront darf nämlich nicht nur gegenüber den reformistischen Massen angewandt werden, sondern muss auch gegenüber den Führern umgesetzt werden.

Zweitens ist die Entlarvung der reformistischen Führern zwar notwendiger Teil der Einheitsfronttaktik. Die Herstellung möglichst großer Kampfeinheit des Proletariats (z.B. in Streiks, im Kampf gegen die Faschisten usw.) ist jedoch keineswegs eine vorrangig denunziatorische Übung gegenüber den reformistischen und zentristischen Führern der Massen, sondern vor allem auch eine politische Notwendigkeit.

So weit zu einigen ultra-linken Fehlern. Ein andere, nicht weniger oft begangener Fehler besteht darin, die Taktik der Einheitsfront zur Strategie zu erklären und sich damit an Kräfte zu binden, die vorübergehend ein Kampfziel teilen.

Die Entstehung der Minderheitsbewegung

Die Vorschläge des Minority Movement umfassten vier Hauptbereiche für die Konsolidierung der Gewerkschaftsbewegung und ihre Reorganisation: Fabrik- und Abteilungskomitees am Arbeitsplatz, die Transformierung der Trades Councils (einer Art Ortskartell, in dem sich die Vertreter aus Ortsgruppen der verschiedenen, lokalen Gewerkschaften treffen), die Zusammenfassung der zersplitterten berufs- und handwerksorientierten Gewerkschaften in Industriegewerkschaften und Umwandlung des Zentralrates des TUC in einen Generalstab der Arbeiterbewegung.

Die Fabrikkomitees sollten alle Arbeiter eines bestimmten Arbeitsplatzes ungeachtet ihrer Ausbildung oder ihres Berufes umfassen und eine Einheitsfront der Arbeiter gegen die Offensive der Unternehmer darstellen sowie die primären Organe im Kampf um die Arbeiterkontrolle und ihrer Durchführung sein. Die Trades Councils sollten so ausgebaut werden, dass sie die gesamte Arbeiterbewegung in einem Gebiet umfassen, also auch die Fabrikkomitees und die politischen Organisationen der Arbeiterklasse. Um den Sektoralismus und berufsständische Dünkel zu überwinden, sollten die Beschäftigen einer Industrie in Industriegewerkschaften zusammengefasst werden.

Gleichzeitig brauchte die Arbeiterklasse eine zentralisierte, repräsentative Führung für die Offensive gegen den Kapitalismus. Der TUC war jedoch in den frühen 1920er Jahren bloß eine Föderation von Einzelgewerkschaften, getrennt durch berufsständische Interessen, wobei jede auf ihre Autonomie bedacht war.

Zwischen den einzelnen Gewerkschaften gab es Rivalitäten um Mitglieder, sie standen oft am Arbeitsplatz, in den Abteilungen gegeneinander. Der Zentralrat hatte kaum Befugnisse, konnte keinen Generalstreik ausrufen, nicht einmal Solidaritätsstreiks. Für die Kapitalisten bestanden also viele Möglichkeiten zur Spaltung, für die Arbeiterklasse keine Möglichkeit, die besten und vorausschauendsten Kräfte wirksam an die Spitze der Organisation zu stellen.

Die junge CPGB erkannte, dass die organisatorische Erneuerung allein nicht ausreichend war. Auf keinen Fall durfte sie abgekoppelt werden vom politischen Kampf und dem, was die KI ”Schaffung einer neuen Ideologie in der Gewerkschaftsmitgliedschaft” nannte. Genauso wenig sollte sich das Minority Movement darauf beschränken, nur die etwas radikaleren Gewerkschafter zu sein, die immer etwas höhere Forderungen aufstellen. Der Unterschied zu den reformistischen Kräften lag nicht in den höheren Tagesforderungen, sondern in dem Verständnis, dass die Einzelforderungen mit dem Heranführen der Arbeiterklasse an die Machtfrage verbunden werden müssen.

Die größtmögliche Einheit aller Arbeiterorganisationen in jeder praktischen Aktion gegen die kapitalistische Front wurde durch die Einheitsfront ermöglicht, und zwar ohne eine Einheit in ideologischen und politischen Fragen vorauszusetzen. Um diese jedoch einbringen zu können, brauchte die CPGB die Freiheit für ihre Propaganda und den ideologischen Kampf – eine Freiheit, die unter keinen Umständen irgendwelchen Abkommen mit den reformistischen Führern geopfert werden darf.

Der 4. Weltkongress der KI 1922 brachte es noch genauer auf den Punkt:

”….sehen wir, dass es ein Desaster wäre, wenn die Partei sich damit begnügt mit der Organisierung ihrer Kräfte allein in ihrem kleinen Parteikern. Das Ziel muss die Schaffung einer zahlenmäßig größeren Opposition in der Gewerkschaftsbewegung sein. Unser Ziel muss darin bestehen, dass unsere kommunistischen Gruppen als Kristallisationspunkt handeln sollten, um den sich die oppositionellen Elemente konzentrieren können. Ziel muss sein, Oppositionskräfte zu schaffen, zu ordnen, zu integrieren, und die KP selbst wird gleichzeitig mit der Opposition wachsen. Es muss eine Beziehung zwischen der Parteiorganisation und der Opposition erreicht werden, das seiner wahren Natur heterogen ist – in einer Art, dass die Kommunisten nicht beschuldigt werden können, danach zu streben, mechanisch die gesamte Oppositionsbewegung zu dominieren. Für dieses Ziel, d.h. das Ziel der Gewinnung der Arbeitermassen für den Kommunismus, müssen wir unter diesen Umständen mit aller Sorgfalt, mit Entschiedenheit und Standhaftigkeit.”

Zur praktischen Umsetzung dieser Linie wurden die oben erwähnten Kampagnen ”Haltet eure Führer im Auge” und ”Zurück zu den Gewerkschaften” gestartet, um eine Minderheitsbewegung, ein Minority Movement, gründen zu können. Die RGI organisierte Konferenzen unter dem Motto ”Zurück in die Gewerkschaften” und ”Stoppt den Rückzug”.

Zu einer dieser Konferenzen erschienen 200 Delegierte, die ca. 150.000 Gewerkschaftsmitglieder repräsentierten. Auf dieser Konferenz ging es hauptsächlich darum, eine Einheitsfront gegen die kapitalistische Offensive aufzubauen. Der RGI Sekretär Gallagher stellt dazu fest:

”Das wesentliche Ziel des Londoner Büros ist nicht die Schaffung unabhängiger revolutionärer Gewerkschafter, oder die Abspaltung der revolutionären Elemente von den existierenden Organisationen, die dem T.U.C. angegliedert sind…, aber aus der revolutionären Minderheit in jeder Industrie eine revolutionäre Mehrheit zu machen.”

Die Gewerkschaften sollten von Organisationen, die unter dem Kapitalismus Instrumente der Unterordnung und Disziplinierung der Arbeiter sind, zu Instrumenten der revolutionären Bewegung des Proletariats werden.

Die Bedeutung der Übergangsforderungen

In der KI und ihren Sektionen gab es 1922 bis 1924 eine Debatte um nationale Aktionsprogramme. Das Aktionsprogramm sollte ausgehen vom unmittelbaren Bedürfnis der Klasse, der sich in Tagesforderungen, Teilforderungen und Übergangsforderungen ausdrückt. Der Kampf dafür erzieht und organisiert das Proletariat für die Notwendigkeit, die Staatsmacht zu ergreifen.

Eine alte Gemeinsamkeit von reformistischen Strömungen mit linksradikalen, sektiererischen ist die künstliche Trennung von ökonomischem Kampf und sozialistischem Ziel. Die einen beharren auf der Trennung, um die Bewegung vom Ziel abzukoppeln bzw. dieses in Sonntagsreden zu verbannen. Die anderen leugnen die Möglichkeit des Kampfes um politische, demokratische Forderungen, weil diese in der imperialistischen Epoche eh nicht durchsetzbar seien und das Proletariat sich im wirtschaftlichen Kampf so radikalisiere, dass es dann sofort die Diktatur des Proletariats verwirklichen werde. Lenin hat gegen letztere Strömung einen langwierigen politischen Kampf geführt und sie als imperialistischen Ökonomismus abgelehnt.

In der KI haben sich die Auffassungen Lenins nach seinem Tod nicht behaupten können, doch in den politischen Dokumenten der ersten vier Kongresse finden wir viele Bestandteile seiner politischen Auffassungen wieder. Es sollte nicht mehr die Forderung nach der Diktatur des Proletariats isoliert und abstrakt, losgelöst von den Tageskämpfen gestellt werden, sondern versucht werden, an der Seite der reformistischen Arbeiter auf der Basis von Übergangsforderungen zu kämpfen, die jetzt in den Vordergrund gestellt werden. Lenin wurde in diesen Auffassungen von Trotzki unterstützt. So ist es dann auch kein Zufall, das dieser Zusammenhang wohl kaum irgendwo besser und systematischer als im Übergangsprogramm dargestellt worden ist:

”Man muss den Massen im Prozess ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zwischen ihren jeweils aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke sollte aus einem System von ÜBERGANGSFORDERUNGEN bestehen, das von den jetzigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgeht und unausweichlich zu ein und derselben Schlussfolgerung führt: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.

Die klassische Sozialdemokratie, die sich in einer Epoche des fortschrittlichen Kapitalismus aufbaute, teilte ihr Programm in zwei voneinander unabhängige Teile: Das Minimalprogramm, das sich auf die Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft beschränkte, und das Maximalprogramm, das die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus in einer unbestimmten Zukunft versprach. Zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm gab es keine Brücke. Und tatsächlich braucht die Sozialdemokratie eine derartige Brücke auch gar nicht, da sie vom Sozialismus kaum einmal an den höchsten Feiertagen spricht.”

Vor der CPGB stand die Aufgabe, zum einen als Partei ein revolutionäres Aktionsprogramm für England, zum anderen ein Gewerkschaftsprogramm für eine Minderheitsbewegung in den Gewerkschaften zu schaffen. In den Diskussionen wurde klar, dass eine Arbeiterregierung im Zentrum des Programms stehen sollte. Der Kampf für das Aktionsprogramm sollte jedoch sofort begonnen werden. Die Macht der Arbeiterklasse sollte die Labour-Regierung zwingen, auf der Basis der staatlichen Kontrolle der Banken und Kreditinstitute zu intervenieren. Stillgelegte Fabriken sollten durch den Staat ohne Entschädigung zu übernehmen und von den Arbeitern in Betrieb zu nehmen. Arbeiterkontrollkommissionen sollten das Management und die Regulierung aller Produktion wird vom Staat übernommen überwachen.

Darüber hinaus wurden Forderungen zur unmittelbaren Lösung der Misere aufgestellt, die gleichzeitig erhoben werden sollten. Diese umfassten Forderungen nach Mindestlohn, einer 44-Studenwoche, die Abschaffung von Überstunden und Programme unter Arbeiterkontrolle für die Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen. Die Finanzierung sollte durch die Besteuerung des gigantischen Einkommens der Reichen gewährleistet werden und das Steuersystem von indirekten Steuern auf die Besteuerung von Einkommen und Vermögen umgestellt werden.

Jede Forderung wurde in der Parteipresse diskutiert und erläutert. Die Kernforderungen wurden dem Programm der Reformisten gegenübergestellt und als in sich geschlossene Alternative angeboten.

Die Anwendung dieser politischen Methode wurde von der CPGB nicht ohne politische Fehler umgesetzt. Im August 1922 noch zog die Partei ihre Kandidaten zurück, die in Opposition zu Kandidaten der Labour Party standen und stellte nur Kandidaten zur Wahl, die nicht in Opposition standen. Sie forderte zur Wahl der Labourkandidaten auf und machte das Ganze zu einem ”Instrument für revolutionären Fortschritt”. Nach den Wahlen erklärte das Zentralkomitee der Partei, dass die Wahlen große Siege gebracht und zu einer Neuausrichtung der Kräfte geführt hätten. Auf der einen Seite die politischen Verteidiger des Kapitalismus, auf der anderen die Labour Party als Vertreterin der Arbeiterklasse unterstützt in ihrem Kampf durch die Mitglieder der CPGB im Unterhaus.

Radek griff diese Auffassung von Einheitsfront auf dem IV. Kongress der KI scharf an, da durch solche Verlautbarungen die Labour Party als kämpfende und antikapitalistische Kraft vor den Arbeitern hingestellt werde. Das war eine klare opportunistische Abweichung von den Grundsätzen und Zielsetzungen der Einheitsfront.

Unter dem Einfluss der Komintern erkannte die CPGB ihre Fehler. In einer Resolution, die auf einer Parteiversammlung 1923 verabschiedet wurde, wurde dieser Fehler in der Einheitsfrontpolitik gesehen ”als ein Versuch, einen Block von Organisationen zu bilden statt einer Einheit der Massen in aktuellen Kampf”. Bis 1925 ließ die Partei dann in ihrer Kritik an den reformistischen Führern nicht mehr nach.

Eine weitere Auseinandersetzung entwickelte sich um die Forderung, den Zentralrat des T.U.C zum ”Generalstab der Arbeiterbewegung” zu machen. Der Zentralrat war natürlich ein Nest der reformistischen Führer. Ohne die Reorganisation der Gewerkschaft im Zuge des Klassenkampfes, ohne eine Änderung im Kräfteverhältnis zugunsten des Minority Movements würde sich daran auch nichts ändern. Diese Gefahr wurde in der CPGB durchaus gesehen, die Losung jedoch zurecht beibehalten.

Sinowjew, Linkszentrismus und Einheitsfront von unten

Der Triumph der politischen Positionen Sinowjews auf dem V. Kongress der Komintern führte zu einer kurzen linkszentristisch geprägten Periode, die nicht ohne Auswirkungen auf die britische Partei blieb. Der im Sommer 1924 unter Verantwortung Sinowjews stattfindende V. Weltkongress behielt die Einheitsfronttaktik formal bei, verstand sie jedoch als Einheitsfront ,,von unten”, die unter der Führung der Kommunistischen Partei von kommunistischen, sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern im Betrieb verwirklicht werde.

Mit dieser Umdeutung der Einheitsfrontstrategie stellte der V. Weltkongress bereits die Weichen für die stalinistische Politik bis 1933. 1925 kam es in der Komintern durch den gewachsenen Einfluss Sinowjews dazu, dass die Parole der Arbeiterregierung fallen gelassen und durch die Parole des ”Aufbaus kommunistischer Massenparteien” ersetzt wurde. Die Arbeiterregierung wurde mit der Diktatur des Proletariats gleichgesetzt. Das Schwanken der Komintern hinterließ die CPGB ohne klare Orientierung. Für die jungen, relativ unerfahrenen Kader der CPGB war die Politik der Komintern zum kritischen Punkt bei der Entwicklung kommunistischer Taktiken gegenüber der Gewerkschaftsbewegung geworden.

Die Theorie des Sozialismus in einem Lande, vertreten von Bucharin und Stalin, war inzwischen offizielle Doktrin der Komintern geworden. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Politik der kommunistischen Parteien. Es bildete sich jetzt auch der Keim einer Politik heraus, die Klassenkämpfe in den Ländern Europas und in den Kolonialstaaten den außenpolitischen Interessen der SU unterzuordnen.

Dennoch konnte das Minority Movement vorerst noch einen Aufschwung erleben. Umfasste das Minority Movement auf seinem 2. Kongress 683 Delegierte, die 750.000 Aktivisten und Aktivistinnen repräsentierten, stieg die Zahl bei der Sonderkonferenz auf 547 Delegierte, die 957.000 Personen vertraten. In der Folge konnte diese Zahl jedoch nicht gehalten werden und beim 4. Kongress vertraten die Delegierten bloß noch 300.000 Oppositionelle.

Die Rolle des Anglo-Russischen Komitees

Den Versuchen der Roten Gewerkschaftsinternationale, Gespräche über eine Einheit der Weltgewerkschaftsbewegung zu führen, hatte die Amsterdamer Internationale immer wieder unannehmbare Bedingungen entgegengestellt. Allenfalls war sie bereit, mit den russischen Gewerkschaften Gespräche zu führen.

Zu Beginn des Jahres 1924 kam es zum Erstarken der ”Linken” im Zentralrat des T.U.C. Cook, der Sekretär der Bergarbeitergewerkschaft, befürwortete Gespräche mit den russischen Gewerkschaften. Tomski baute die Kontakte zu den reformistischen Gewerkschaftern in Britannien aus. Anfangs sah Trotzki das Anglorussische Komitee (ARC) durchaus als eine positive und korrekte Aktion im Rahmen der Einheitsfronttaktik an.

Die Probleme traten jedoch immer deutlicher hervor, als die Illusionen in die (manchmal auch radikalen) Sprüche der reformistischen Führer zu eklatanten Fehlern in der Einheitsfront führten. Verbal waren einige der reformistischen Führer durchaus für den Sozialismus, aber in der Sowjetunion und nicht in England. Mehrere Delegationen britischer Gewerkschafter besuchte die Sowjetunion, während Tomski auf britische Gewerkschaftskongresse fuhr. Die rechten Zentristen in der Komintern gaben die Parole des Zusammenschlusses der RGI mit den Amsterdamern aus, wofür das ARC Modell stehen sollte. Nun wucherten Hirngespinste, die eine starke kommunistische Massenpartei (mit vielen linksreformistischen Gewerkschaftsführern) oder eine ”Linkspartei” entstehen sahen. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Tomski und Losowski über den Charakter der Verhandlungen.

Entscheidender Fehler aber war, das ARC nicht als einen Teil der Einheitsfronttaktik zu betrachten, sondern als ein diplomatisches Manöver. Statt der Einheitsfronttaktik wurde von einer eigenständigen Friedenspolitik schwadroniert, losgelöst vom Klassenkampf. Eine Taktik für weitere historische Niederlagen der Komintern war geboren.

Im September 1924 fand ein TUC-Kongress in Hull statt. Pollitt fordert einen Kongress zur Weltgewerkschaftseinheit ”ohne Bedingungen für die Beteiligten”. Im März 1925 wurde eine ”breite linke” Zeitung ins Leben gerufen, der ”Sunday Worker”, der gemeinsam von Linksreformisten und KP-Mitgliedern herausgegeben wurde. Selbstredend war in dieser Publikation kein Platz für eine Kritik an den ”linken” Führern des TUC und der Labour Party.

Die CPGB geriet endgültig in die ”doppelte Falle zwischen Opportunismus und Sektierertum”. Auf Grundlage der Einschätzung, dass sich im Gefolge von wirtschaftlichen Krisen die Massen radikalisierten und ihre reformistischen Führer zum Teil mitziehen würden, wuchsen erst einmal die Illusionen.

Ohne revolutionäre Strategie, korrekte revolutionäre Programmatik, ausgefeilte Taktik und analytische Methodik waren die Zentristen, insbesondere die treuen Anhänger Stalins, nicht in der Lage, die Arbeitermassen systematisch an die Revolution heranzuführen. Sie begannen die Wirklichkeit nach ihren Wünschen zu verbiegen, interpretierten die Tatsachen nach den Vorgaben Stalins und schwankten in grundlegenden Fragen der politischen Linie in immer kürzeren Abständen und immer heftiger. Trotzki blieb die Abrechnung mit den abenteuerlichen Einschätzungen der Stalinisten bezüglich der Entwicklung der Wirtschaftlage und – damit korrespondierend des Massenbewusstseins – vorbehalten.

In seiner Schrift ”Die ‚Dritte Periode‘ der Irrtümer der Kommunistischen Internationale” entlarvte er die Methoden, die von Stalins Anhängern angewandt wurden, als empiristisch und eklektisch. Am Beispiel der Interpretation der französischen Streikstatistik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, aus der die Anhänger Stalins eine ”Radikalisierung der Massen” herauslasen, wird die ganze abstruse Theoriebildung entlarvt.

Statt genauer Untersuchung der Realität soll sich die Realität nach den Vorgaben Stalins richten. So werden munter Konjunkturkrisen und die allgemeine Krise des Kapitalismus durcheinandergeworfen. Dies führt dazu, sich und die Massen ständig am Rande einer Katastrophe zu sehen, was mit Revolution gleichgesetzt wurde, da die Arbeitermassen durch die ökonomische Krise schon radikal genug seien, um die Revolution durchzuführen. Solcherlei Analysemethoden zur Grundlage der Politik einer Partei, gar einer Internationale zu machen, hatte in den Arbeiterbewegungen der Industriestaaten verheerende Auswirkungen.

Trotzki bemerkte dazu, dass die Anhänger Stalins offenbar in der Lage seien, recht lange vom Bonus der Arbeit Lenins zu profitieren, jedoch ebenso wenig wie andere zentristische Strömungen in der Lage seien, allein neue revolutionäre Parteien und Bewegungen aufzubauen. Wie Recht sollte er doch behalten.

Stalin deckt den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie

Als die Kohlegrubenbesitzer Ende Juni 1925 drastische Lohnkürzungen ankündigten, da sie der Konkurrenz der deutschen Bergwerke nunmehr wieder ausgesetzt waren, wurde ein nationaler Streik ausgerufen gegen die Angriffe der Grubenbesitzer ausgerufen. In letzter Minute schaltete sich jedoch die Regierung ein und versprach, die Löhne durch eine Subvention auf dem gleichen Niveau zu halten. Und der Streik wurde abgeblasen. Wie Seifenblasen zerplatzten die Illusionen, als die Rechten im TUC mit Unterstützung der linken Reformisten an diesem ”roten Freitag” die Arbeiter verrieten. Schlimm war auch, dass die Fähigkeit zur Korrektur der politischen Linie verkümmert war, es wurden in der Parteipresse noch etliche Versuche der Rechtfertigung unternommen. Trotzkis rechnete mit der Gewerkschaftspolitik der Stalinisten ab.

”1926/1927, vor allem in der Periode des Bergarbeiterstreiks und des Generalstreiks, d.h. zur Zeit der größten Verbrechen des General Council der Gewerkschaften, schmeichelte die Komintern-Bürokratie auf die servilste Weise den hochgestellten Streikbrechern, stattete sie in den Augen der Massen mit ihrer Autorität aus und half ihnen, im Sattel zu bleiben. Damit wurde der revolutionären Minderheit (Minority Movement) ein tödlicher Schlag versetzt.

Die Komintern-Bürokratie erschrak derart über die Resultate ihrer eigenen Arbeit, daß sie einen ultralinken Kurs einschlug. Die verhängnisvollen Abenteuer der “Dritten Periode” sind auf den Wunsch der kleinen kommunistischen Minderheit zurückzuführen, so zu handeln, als hätte sie die Mehrheit hinter sich. Die Kommunistische Partei isolierte sich immer mehr von den Arbeitermassen und stellte den Gewerkschaften, die Millionen Arbeiter umfaßten, ihre eigenen Gewerkschaftsorganisationen entgegen, die blind der Komintern gehorchten, aber von der Arbeiterklasse durch einen Abgrund getrennt waren. Der Gewerkschaftsbürokratie hätte kein größerer Dienst erwiesen werden können. Hätte es in ihrer Macht gelegen, den Hosenbandorden zu verleihen, so hätte sie damit sämtliche Führer der Komintern und Profintern (Rote Gewerkschaftsinternationale) auszeichnen müssen.”

Die Bourgeoisie hat ein feines Gespür, wenn die Arbeiterklasse paralysiert ist, nachdem sie eine Niederlage hat hinnehmen müssen. So begann sie auch umgehend nachzustoßen. Die Drecksarbeit machten wie so oft ihre ”Polizisten” in der Arbeiterbewegung. 1927, nach der Niederlage der Bergarbeiter und anderer Streiks, verbietet die reformistische Gewerkschaftsführung die Teilnahme an des Minority Movements und droht mit Ausschlussverfahren.

Aufbau Roter Verbände und organisatorische Trennung

Anstatt weiter für die gewerkschaftliche Einheit zu kämpfen wurde ab 1929 auch in Britannien offen zur Bildung selbstständiger ”Roter Verbände” und zum Austritt aus den reformistischen Gewerkschaften aufgerufen. Keine sektiererische Formel wurde ausgelassen, so auch nicht die Sozialfaschismustheorie. Wir wollen uns hier mit dieser Theorie nicht weiter auseinander setzen. Die Folge der Einschätzung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsführung als ”linker Flügel” des Faschismus jedenfalls hat die Einheitsfrontpolitik unmöglich gemacht. Es sind aus Deutschland Beispiele bekannt, dass kommunistische Gewerkschaftsmitglieder kritisiert wurden, weil sie es gewagt hatten, mit sozialdemokratischen Gewerkschaftern auf Betriebsebene gemeinsam gegen Angriffe der Kapitalisten zu kämpfen.

Das Ziel der Reformisten war erreicht, die Kommunisten entfernten sich freiwillig aus den Gewerkschaften. Der Einfluss und die Mitgliedszahlen der RGI sanken international, besonders aber in Britannien auf einem Tiefststand. Das Übergangsprogramm der IV. Internationalen rechnete mit dieser Politik klar und deutlich ab:

”Sektiererische Versuche, kleine ‘revolutionäre’ Gewerkschaften als zweite Ausgabe der Partei aufzubauen oder zu erhalten, bedeuten in Wahrheit den Verzicht auf den Kampf um die Führung der Arbeiterklasse. Man muss folgende feste Regel aufstellen: kapitulierende Selbstisolierung von den Massengewerkschaften ist gleichbedeutend mit Verrat an der Revolution und unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der IV. Internationale.” (Übergangsprogramm)

Es war dem schreibfreudigen RGI-Sekretär Losowski vorbehalten, auf dem V. Kongress der RGI eine Bilanz der Fehler der RGO zu ziehen:

”1. Zurückbleiben der Organisationen hinter der Kampfstimmung der Massen…

2. Schlechte Vorbereitung der Wirtschaftskämpfe und Verlass auf Spontaneität…

3. Ernennung der Streikleitung (d.h. deren Einsetzung von oben oder Wahl derselben) durch eine geringe Anzahl von Arbeitern.

4. Mangelnde Einsicht in die Rolle und Bedeutung der Streikleitungen. Ist die Streikleitung ernannt, so fühlt sie sich nicht verantwortlich vor den Streikenden. Deshalb kann man in der Praxis der letzten Jahre Streiks sehen, bei denen die Streikleitung ”Befehle” erliess, ohne sich um die Stimmung in den Massen zu kümmern.

5. Ungenügend überlegtes Verhalten zu den Forderungen; Ausarbeitung von Forderungen im engen Kreise leitender Personen. Das ist einer unserer wichtigsten Mängel. Häufig geben wir uns dem Glauben hin, es genüge, bloß Forderungen abzudrucken und zum Streik aufzufordern, und die Arbeiter werden unverzüglich unserer Aufforderung nachkommen. (…)

7. Gewaltsame Maßnahmen gegenüber den rückständigen Schichten des Proletariats, nicht Überzeugung, sondern Befehle. (…)

9. Unvermögen, rechtzeitig, organisiert den Streik einzustellen, und Verschleppung des Streiks bis zur vollkommenen Zersetzung und Desorganisierung der Streikenden.

10. Kopflosigkeit vor den Unternehmern und Unvermögen, Verhandlungen mit Nachdruck zu führen.” (Zitiert nach S. Schwarz, Rote Gewerkschaftsinternationale, aus: Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, S. 1348-1359)

Losowski legt hier geradezu ein Musterbeispiel bürokratischer “Selbstkritik” ab. Nicht die Richtigkeit der sakrosankten “Generallinie” wird einer Prüfung unterzogen, sondern alle Misserfolge werden Fehlern der untergeordneten Gremien und Mitglieder der KI in die Schuhe geschoben.

Der Niedergang der RGI

Dem politischen Niedergang folgte der organisatorische. Nach Zahlen der RGI waren im Juli 1921 knapp 9 Millionen Mitglieder organisiert, darunter 5.2 Mio. in der Sowjetunion. Beim 1. Kongress der RGI 1921 war diese Zahl bereits auf über 16 Mio. angestiegen (dv. 6.5 Mio. in der Sowjetunion). Losowski schätzte 1923 die RGI-Anhänger auf 12-13 Millionen (dv. 5 Mio. in Russland). Der Bericht an den IV. Kongress der RGI 1927 nennt 13,862.200 (davon 10.248,000 in der SU und 2,6 Mio. in China, 525.000 in Frankreich, 196.000 in der Tschechoslowakei) in den Mitgliedsgewerkschaften und dazu ”revolutionäre Minderheiten” in 26 Ländern mit 2.874.6000 Mitgliedern. Dabei in Deutschland 1 Million und in GB 800.000.

1930/1931 wird das ganze Desaster sichtbar: Die RGO in Deutschland war auf 300.000 geschrumpft. Allein 54.000 verlor die CGT in einem knappen Jahr. In der Tschechoslowakei ging der Mitgliedsbestand auf 72.000 zurück. In China war jetzt noch von 60.000 die Rede. Am schlimmsten war jedoch die Entwicklung England. Auf dem V. Kongress der RGI wurde schon die völlige Misere des Minority Movements festgestellt. Heckert sprach von 300-500 Mitgliedern, gegenüber 300.000 1927.

Linke Fehler

Es liegt uns fern, die Erfahrungen aus der Geschichte des Minority Movements 1:1 auf die heutige Situation übertragen zu wollen. Aber mit den Grundproblemen, die seinerzeit im Mittelpunkt standen, haben wir es auch heute noch zu tun.

Ähnlich wie viele Sektionen der jungen Kommunistischen Internationale stehen auch wir heute vor dem Problem, dass wir die revolutionären Kräfte zahlenmäßig schwach und von der Arbeiteravantgarde weit entfernt sind. Daher ist die Taktik des Minority Movement ein interessanter, lehrreicher und aktueller politischer Bezugspunkt. Das ist auch ein Grund, warum wir heute für die Bildung einer klassenkämpferischen Basisbewegung gegen die Bürokratie eintreten und versuchen, in den entstehenden oppositionellen Gewerkschaftsströmungen in diese Richtung zu wirken.

In den letzten Jahrzehnten sind viele Fehler, die wir im Vorhergehenden analysiert haben, von sich ”links”, revolutionär oder auch trotzkistisch nennenden Gruppierungen wiederholt worden.

Man denke nur an die Wiederauferstehung der Sozialfaschismustheorie bei verschiedenen Gruppen der maoistischen Tendenzen (KPD/ML und KPD/AO) oder die Wiederauflage der RGO-Politik.

Es wurde aber auch kein rechtsopportunistischer Fehler ausgelassen. Gerade die Strömungen der niedergehenden Vierten Internationale sowie die “International Socialists” (Linkruck bzw. Linkswende) oder das “Komitee für eine Arbeiterinternationale” (SAV bzw. SLP) unterlagen der Versuchung, politische und organisatorische Abkürzungen zu suchen. Meist fand man sich aber nach einer gewissen Zeit am Ausgangspunkt wieder oder die eigenen Kader waren im Sumpf des Reformismus oder Syndikalismus auf der Strecke geblieben.

Die lambertistischen Strömung, die sich heute ”IV. Internationale” nennt, ging sogar noch weiter. Eine der Kernthesen dieser Strömung besteht darin, die Einheitsfronttaktik zu einer ”Strategie” zu modeln. So schreibt Pierre Fougeyrollashat in seinem Büchlein ”Mehr als 125 Jahre des Kampfes für die Arbeiterinternationale” ( 1979, 1992 erschienen im Intarlit-Verlag): ”1. die Arbeitereinheitsfront ist das strategische Mittel, mit dem es dem Proletariat gelingt, den Kapitalismus wirksam zu bekämpfen.”

Er nennt die Einheitsfront eine permanente Strategie der Arbeiterbewegung. Immerhin haben sich die Anhänger Lamberts daran gehalten und sind heute strategisch in der Sozialdemokratie abgetaucht.

Positive Lehren

Angesichts dieser abschreckenden Beispiele ist es umso dringender, die Lehren aus der Erfahrung der 1920er Jahre für unsere aktuelle Praxis zusammenzufassen. Wenn wir von einer klassenkämpferischen Basisbewegung sprechen, haben wir das Minority Movement als ein historisches Beispiel vor Augen. Daher wollen wir kurz unsere Schlussfolgerungen für den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung heute skizzieren:

1. Der Kampf für eine klassenkämpferische Basisbewegung (Minderheitsbewegung) ist eine Taktik von Kommunisten und Kommunistinnen. Die Basisbewegung darf nicht mit der kommunistischen Partei, aber auch nicht mit der kommunistischen Gewerkschaftsfraktion verwechselt werden (d.h. mit der Organisierung von Genossen und Genossinnen, die bereit sind auf der Grundlage eines gemeinsamen revolutionären Aktionsprogramms für die Gewerkschaften und gemeinsamer revolutionärer Disziplin zu agieren).

2. Die klassenkämpferische Basisbewegung ist selbst eine Anwendung der Einheitsfronttaktik, der Versuch eine gemeinsame Front mit der kampfbereiten Gewerkschaftsbasis gegen die Bürokratie zu schaffen. Ziel der Basisbewegung muss aber in jedem Fall der Kampf um eine neue Führung, der Bruch mit der Politik der Klassenkollaboration und die Demokratisierung der gewerkschaftlichen und betrieblichen Organisationsformen sein. Eine Basisbewegung oder oppositionelle Strömung, die sich nicht die Ersetzung der aktuellen Führung zum Ziel setzt, kann nur zu einem „kritischen“ Anhängsel der bestehenden Führung verkommen.

3. Die Basisbewegung hat kein im voraus bestimmtes Programm. Aber Kommunisten und Kommunistinnen müssen aber von Beginn an in der Basisbewegung (bzw. bei der Schaffung einer solchen) für eine revolutionäre Führung und für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten. Sie machen die Annahme dieses Programms jedoch nicht zur Bedingung ihrer Mitarbeit in einer solchen entstehenden oder schon formierten Bewegung.

4. Die Basisbewegung muss klar unterschieden werden von einem „Block der Gewerkschaftslinken“, d.h. einem Bündnis von revolutionären, reformistischen, zentristischen Kräften, das auf einem politischen Nichtangriffspakt beruht. Revolutionäre müssen von Beginn an ihre Kritik an nicht-revolutionären Strömungen, die entweder selbst in einer solchen „Basisbewegung“ vertreten sind oder diese ideologische beeinflussen, deutlich machen.

5. Der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung gegen die Bürokratie kann und darf keine Ersatz für den Aufbau einer revolutionären Partei und Gewerkschaftsfraktion sein – er ist vielmehr eine Mittel dazu. Damit eine Basisbewegung nicht im Reformismus oder Syndikalismus versackt, ist vielmehr die Schaffung einer revolutionären Partei und deren organisiertes Wirken Voraussetzung.

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