Angelo Drepano, Neue Internationale 292, Juni 2025
Mehr als 50.000 Tote, über eine Million Hungernde, Zerstörung von Schulen, Krankenhäusern, Universitäten, Bibliotheken, Wohn- und Gebetshäusern und fast der gesamten Infrastruktur – diese Fakten geben nur unzureichend den Horror wieder, der sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Gaza vollzieht. Der Völkermord Israels an den Palästinenser:innen geht mit unbarmherziger Brutalität weiter – mit tatkräftiger Unterstützung der westlichen Mächte, allen voran der USA und Deutschlands.
Während am 18. Mai in Doha über einen Waffenstillstand verhandelt wurde, ermordete Israel binnen Stunden 130 Palästinenser:innen, die als Binnenvertriebene in Zelten lebten. Netanjahus Büro machte zur Bedingung, dass die Hamas Gaza verlassen und Gaza entwaffnet werden müsse, eine Forderung, die die palästinensischen Verhandler:innen nicht annehmen konnten und können. Kurz darauf startete Israel die „Operation Gideon’s Chariots“, mit der binnen zweier Monate 75 Prozent des Gazastreifens erobert werden sollen.
Die Unterstützer:innen Israels behaupten stets, dass der Krieg beendet werden könne, wenn die Hamas die Geiseln freilasse. Tatsächlich ist es so offensichtlich wie nie, dass es Israel nicht um die Geiseln geht. Nachdem es bereits zwei Waffenstillstandsabkommen gebrochen hatte, bot Hamas im April an, alle Geiseln im Gegenzug für einige palästinensische Gefangene, den Abzug Israels aus Gaza sowie einen Waffenstillstand freizulassen. Darüber hinaus sagt sie auch zu, die eigenen militärischen Möglichkeiten nicht weiterzuentwickeln, zerstörte Tunnel nicht wiederherzustellen und die Macht in Gaza an andere palästinensische Fraktionen zu übergeben.
In Wirklichkeit verfolgt der zionistische Staat viel weitergehende Absichten. Der israelische Finanzminister Smotrich gab offen zu, dass das Ziel die Vertreibung der Palästinenser:innen sei. Netanjahu erklärte gegenüber dem Außen- und Verteidigungsausschuss, dass die Palästinenser:innen „nirgendwo mehr hinkönnten“, weil „wir mehr und mehr Häuser zerstören“, und die „unvermeidliche Folge“ der „Wunsch der Palästinenser:innen“ wäre, aus Gaza auszuwandern.
Der Genozid ist keine Abweichung von der Natur Israels, sondern entspricht seinem Wesen als rassistischer Staat, dessen Gründung auf der Vertreibung von mindestens 750.000 Palästinenser:innen basiert. Die zionistische Bewegung, vor allem ihr „sozialistischer“ Teil, versuchte schon zuvor, palästinensische Arbeiter:innen systematisch aus der Arbeit zu drängen und bedrohte sogar (Klein-)Kapitalist:innen, die Palästinenser:innen anstellen wollten, um aus ihnen als billiger Arbeitskraft mehr Profit zu schöpfen. Palästinensische Produkte wurden boykottiert.
Nach Jahrzehnten des Widerstands schlossen Israel und die von der Fatah geführte PLO das Osloer Abkommen, welches einen palästinensischen Staat, die sog. Zweistaatenlösung, in Aussicht stellt. Die palästinensische Autonomiebehörde wurde ins Leben gerufen, die seit Jahren als verlängerter Arm der Besatzung dient. Nachdem die Hamas 2006 die Wahlen gewonnen hatte und ein von den USA, Israel und der Fatah unterstützter Putsch gescheitert war, unterzog Israel Gaza einer Blockade zu Land, Luft und Wasser, bombardierte es mehrmals und sorgte so nicht nur für Tausende Tote, sondern auch dafür, dass die UNO 2013 sich dazu genötigt sah, davon auszugehen, dass der Gazastreifen 2020 unbewohnbar sein würde. Der Ausbruch aus ihm vom 7. Oktober fand vor diesem Hintergrund statt, wegen der Annäherung arabischer Staaten an Israel und mit dem Ziel, Tausende palästinensische Gefangene durch die Geiselnahmen freizubekommen. Dafür will Israel die Palästinenser:innen kollektiv bestrafen. Die Regierung Netanjahu nimmt den Ausbruch und die Geiselnahme als Vorwand, um ihrerseits die Palästinenser:innen mittels eines völkermörderischen Krieges aus Gaza zu vertreiben.
Auch Teile der Palästinasolidaritätsbewegung hegen angesichts der Überprüfung der Freihandelsabkommen, der Einbestellung des israelischen Botschafters durch Großbritannien, Trumps Übergehen Israels bei den Verhandlungen mit den Golfstaaten und kritischer Worte der Bundesregierung Hoffnungen auf eine „Wende“ hinsichtlich der westlichen Unterstützung Israels. Doch darauf sollten wir keine falschen Hoffnungen setzen.
Bereits jetzt wurden nach Zahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza mehr als 50.000 Menschen durch Israel ermordet. Die Öffnung der Grenzposten für Lastwagen mit Hilfsgütern wurde in vielen deutschen Medien als großer Schritt dargestellt. Tatsächlich wurden am ersten Tag, an dem die mehr als zweimonatige komplette Blockade aufgehoben wurde, lediglich fünf Lastwagen durchgelassen, zwei davon transportierten Leichentücher. Seit Anfang des Jahres mussten 9.000 Kinder wegen akuter Mangelernährung im Krankenhaus behandelt werden.
Vordergründig wollen die USA nun seit dem 26. Mai dafür sorgen, dass in Gaza Hilfsgüter ankommen, nachdem Israel am 2. März alle blockiert hatte. Tatsächlich handelt es sich bei den geplanten Hilfslieferungen durch die von den USA unterstützte Gaza Humanitarian Foundation, die erst im Februar in der Schweiz gegründet wurde, um einen Versuch, die Souveränität Palästinas weiter zu untergraben. Ihre Verteilung soll die der UNO, die von Israel nicht hereingelassen werden, ersetzen, und wird von US-amerikanischen Security-Firmen überwacht. Als Bewohner:innen Gazas kamen, um sie in Empfang zu nehmen, wurden sie teils zwischen Zäune gesperrt und es fielen Schüsse der israelischen Armee. Laut Cindy McCain, der Direktorin des Welternährungsprogramms, reichen die Hilfslieferungen bei weitem nicht aus, und laut UNO sind bis September eine halbe Million Menschen vom Hungertod bedroht. Die Botschaft ist klar: Gazas Bewohner:innen sollen jeglichen Widerstand gegen Israel aufgeben und ihre Vertreibung hinnehmen oder verhungern.
Die USA, Großbritannien und Deutschland unterstützen Israel weiterhin mit Waffen, diplomatisch und durch die Angriffe auf propalästinensische Proteste, die willkürliche Verhaftungen, Abschiebungen oder auch Berufs- und Studienverbote beinhalten. Vor Malta ließen sie den Angriff auf das Schiff Conscience durch eine israelische Drohne zu, mit dem Aktivist:innen die Blockade Gazas durchbrechen wollten. Am 23.05. stimmte der Bundesrat, einschließlich der Landesregierungen mit Beteiligung der Linkspartei, einstimmig für eine Resolution, in der, wie es im Titel heißt, „60 Jahre deutsch-israelische Beziehungen“ gefeiert werden. Die Worte von Merz, dass er Israels Vorgehen nicht verstehe und man das „nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen“ könne, sollen vor allem verdecken, dass der deutsche Imperialismus weiter Waffen an Israel liefert und derselbe Merz vor seiner Wahl versprach, Netanjahu trotz internationalen Haftbefehls nach Deutschland einzuladen.
Um den Genozid zu beenden, können wir uns nicht auf eine „Wende“ verlassen, die aus moralischer Einsicht von Politiker:innen kommen soll, die ihren eigenen Imperialismus repräsentieren. Auch Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof können nicht die Befreiung der Palästinenser:innen herbeiführen. Die US-amerikanischen Sanktionen gegen dessen Chefankläger Karim Khan, der mit einer Sperrung seiner Konten belegt wurde, zeigen, dass die imperialistischen Mächte selbst vor willkürlichen Maßnahmen gegen deren Repräsentant:innen nicht zurückschrecken. Will die Palästinasolidaritätsbewegung gewinnen, muss sie eine ernsthafte Debatte über ihre Strategie führen, sowohl bezüglich Palästina als auch gegen die Herrschenden der imperialistischen Staaten, die Israel bewaffnen.
Die Politik gegen die Palästinenser:innen findet allgemein große Unterstützung in der israelischen Bevölkerung, auch in der israelischen Arbeiter:innenklasse, die ihren Lebensstandard nur dank der westlichen Wirtschafts- und Militärhilfen halten kann, welche Israel aufgrund seiner Rolle als Vorposten des Imperialismus in der Region erhält. Zwar gibt es auch in Israel kleinere Demonstrationen gegen den Genozid, und es ist richtig, die Spaltungen im zionistischen Lager zu vertiefen. Doch angesichts seines Charakters als rassistischer Staat, der dem Imperialismus dient, können revolutionäre Kommunist:innen sich nicht von seinen inneren Entwicklungen abhängig machen. Um die zionistische Einheit aufzubrechen, ist es vielmehr notwendig, die materielle Unterstützung dieses auf Unterdrückung und Vertreibung basierenden Staates so weit zu schwächen, dass auch Teilen der israelisch-jüdischen Arbeiter:innenklasse deutlich wird, dass der Zionismus keine Sicherheit bringt, sondern nur permanenten Rassismus und Unterordnung unter einen Staat, der auf kolonialer Vertreibung beruht.
Entscheidend für die weitere Entwicklung wird daher die Unterstützung des palästinensischen Widerstands wie auch aller Solidaritätsaktionen mit Palästina in den Staaten des Nahen Ostens sein. Dabei stützen die Herrschenden in den arabischen Staaten mehr oder weniger offen Israel. Auch die sog. Achse des Widerstandes, also der Iran oder die Hisbollah, betrachten die Palästinenser:innen nur als Mittel zum Zweck. Es geht ihnen nicht um die Solidarität gegen den Genozid, sondern darum, ihre eigene Stellung im Nahen Osten oder im Libanon zu halten.
Schon deshalb können und dürfen Revolutionär:innen die Führung des palästinensischen Widerstands nicht politisch unterstützen. Im Gegenteil: Die Unterstützung des Widerstands ist einerseits Voraussetzung dafür, dass sich die Arbeiter:innenklasse und revolutionäre Kommunist:innen an die Spitze des Kampfs um die nationale Selbstbestimmung Palästinas stellen und dafür sorgen können, dass sie vollständig realisiert wird. Das ist wiederum nur möglich, wenn die nationale Frage mit dem Kampf für eine sozialistische Umwälzung in Palästina und im ganzen Nahen Osten verbunden wird.
Denn auch wenn die Herrschaft des israelischen Staates anderweitig gebrochen werden sollte, wäre Palästina noch immer eine vom Imperialismus dominierte Halbkolonie. Außerdem lehnen reaktionäre, islamistische Kräfte wie die Hamas es ab, sich auf die Arbeiter:innenklasse und die Bäuer:innen als Kraft des Widerstands zu stützen, weil sie letztlich die Klasseninteressen der palästinensischen Bourgeoisie und reaktionärer kleinbürgerlicher Schichten zum Ausdruck bringen.
Eine demokratisch geplante, durch die Arbeiter:innenklasse kontrollierte Wirtschaft ist die einzige Möglichkeit, Gaza und die Westbank nach den Interessen ihrer Bewohner:innen wiederaufzubauen und das Rückkehrrecht der Palästinenser:innen einzulösen, bei gleichzeitiger Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts für alle Nationalitäten (z. B. das Recht, ihre Sprache zu sprechen). Andererseits kann die Befreiung Palästinas nur durch den Sturz der Regime in der Region erkämpft werden, die, wenn sie nicht direkt mit Israel kollaborieren, keinen ernsthaften Widerstand gegen den zionistischen Staat leisten oder ihn auch nur tolerieren, weil sie die Solidarität ihrer eigenen Bevölkerung mit dem palästinensischen Befreiungskampf als Bedrohung für sich selbst sehen.
Auch hier wird die Notwendigkeit eines eigenen Programms für eine revolutionär-kommunistische Partei deutlich, gegenüber reaktionären islamistischen Kräften wie der Hamas, gegenüber bürgerlich-nationalistischen Fraktionen, aber auch gegenüber den Kräften der palästinensischen Linken wie den stalinistisch beeinflussten Fraktionen PFLP und DFLP, die sich letztlich der Hamas politisch unterordnen. Denn sie betrachten Regime wie die des Iran als Verbündete und lehnen eine auf die Arbeiter:innenklasse und die Bäuer:innen gestützte Intifada zugunsten einer zum Scheitern verdammten Guerillastrategie ab. Der Schlüssel zur Befreiung liegt in einer sozialistischen Föderation des Nahen und Mittleren Ostens, die das Selbstbestimmungsrecht aller in Palästina lebenden Nationalitäten garantiert.
Das Festhalten des deutschen Imperialismus an der Unterstützung Israels ist kein Zufall. Neben dem Nutzen Israels als Druckmittel gegen die Bevölkerung des Nahen und Mittleren Ostens und Kooperationen im Technologiesektor sowie im militärischen und polizeilichen Bereich hat das Staatenbündnis für den deutschen Imperialismus den Vorteil, dass es die ihm Gelegenheit gibt, sich als Repräsentant eines „guten“ Deutschlands darzustellen, das auf der Welt „mehr Verantwortung“ übernehmen solle.
So wird die Unterstützung Israels, das nach den Unterstützer:innen der deutschen Staatsräson der Repräsentant aller Jüd:innen und auch der Opfer des Holocaust ist, zur ideologischen Waffe der herrschenden Klasse, um die massive Aufrüstung zu rechtfertigen. Die deutsche Zusammenarbeit mit Israel richtet sich direkt gegen die Palästinenser:innen, aber auch gegen die Arbeiter:innen und Unterdrückten insgesamt, in Form eines verstärkten Repressionsapparats und Kürzungen, die mit der Aufrüstung einhergehen. Die Beendigung des Genozids kann daher nicht allein durch die Palästinabewegung erfolgen, sondern muss sich auf eine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse stützen.