Bruno Tesch, Neue Internationale 288, Dezember 2024 / Januar 2025
2004 befand sich die Automobilbranche schon einmal in der Bredouille. Sie betraf nach einer Krise bei Daimler/Chrysler v. a. den Kraftfahrzeugbauer Opel, damals Tochter des General-Motors-Konzerns. Die Nachricht vom geplanten Arbeitsplätzeabbau versetzte die Opel-Belegschaften in Alarmstimmung. Dem Werk in Bochum drohte die völlige Schließung und die Entlassung von 10.800 Arbeitskräften. Als die Pläne bekannt wurden, traten die Bochumer Arbeiter:innen im Herbst in den Ausstand.
Fast eine Woche lang hielten die Werksangehörigen den Betrieb besetzt. Dann setzte jedoch die Bürokratie ihren Willen nach Beendigung von Streik und Besetzung und für die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem Opel-Management durch. Immerhin stimmten noch 1.600 Arbeiter:innen gegen den Vorschlag des Betriebsrats und für die Fortführung von Kampfmaßnahmen.
Die Situation kam nicht aus dem Nichts. Opels Autobau kriselte bereits seit den 1990er Jahren. Nach dem Höhepunkt 1992, als über 360.000 Fahrzeuge vom Band liefen, sank der Produktionsausstoß, abgesehen von einem Zwischenhoch Ende des Jahrzehnts, ständig. Mit ihm verringerte sich auch die Zahl der Mitarbeiter:innen. Waren es in den 1970er Jahren noch 20.000, wurde die Anzahl der produktiv Beschäftigten 2003 nahezu halbiert.
Zwar gelang es, ein Weiterbestehen des Bochumer Werks auszuhandeln, doch dies hatte nur aufschiebende Wirkung und geschah um den Preis der Einbußen von Arbeitsplätzen. 2011 waren gerade einmal 5.100 Arbeiter:innen beschäftigt, bevor Ende 2014 die endgültige Stilllegung erfolgte. Der Arbeitskampf endete also, wenn auch herausgezögert, in einer bitteren Niederlage.
Die Gründe dafür lagen nicht nur in der Kompromissbereitschaft des Betriebsrates, sondern auch in der reformistischen Ideologie, Standortgarantien seien ein höheres Gut als Klassenkampf. Dies bedingte auch ein Konkurrenzdenken der Opel-Zweigwerke gegeneinander und verhinderte eine tätige Solidarität anderer Produktionsstätten wie Rüsselsheim, Kaiserslautern und Eisenach auf deutschem Boden.
Die Besetzungsaktion bei Opel blieb Episode. Eine wesentliche Rolle dabei spielte ebenfalls, dass es zwar Konflikte in anderen Bereichen der Branche, z. B. im Zuge der Sanierung von Mercedes-Benz, gab, wo sich im Sommer eine hohe Streikbereitschaft zeigte, die aber von der IG-Metall-Bürokratie rechtzeitig an die Kandare genommen werden konnte, so dass eine Synchronisierung von Kampfmaßnahmen unterblieb.
Diese punktuellen Ereignisse fielen in eine Zeit politischer Aufwallung. 2003 hatte sich der Zorn gegen die Beschlüsse zur Agenda 2010 mit ihrer gesetzlichen Zuspitzung der so genannten Hartz-IV-Gesetze und verschärftem Vorgehen gegen Arbeitslose aufgestaut und in einer von 100.000 Teilnehmer:innen getragenen Demonstration im November Bahn gebrochen. Sie richtete sich nicht nur gegen die SPD-geführte Regierung, sie kam auch ohne Zutun der Gewerkschaftsführungen zustande. Diese versuchten natürlich, den Unmut unter Kontrolle zu bringen und in einer Demonstration mit ihrem offiziellen Segen zu kanalisieren. Dieser zentrale Protest brachte nahezu ein Jahr später jedoch nur noch 50.000 auf die Beine.
Damit in Zusammenhang stand auch eine Krise der SPD, die sich nicht nur im Murren über deren Kurs nach rechts, sondern in einer Absetzbewegung und organisatorischer Neuorientierung in Gestalt der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) offenbarte.
Schon vorher hatten sich so genannte Sozialforen gebildet und waren Montagsdemos unterwegs gewesen. Doch all diese Protestformen hatten im Herbst 2004 ihren Höhepunkt bereits überschritten. Hauptgrund war, dass es versäumt wurde, das schwergewichtige Potenzial von Arbeiter:innenaktionen zu bündeln und mit den Ansätzen der sozialen Bewegungen auf eine allgemeine politische Kampfebene zu heben.
Die Lage ist heute eine andere. Die Arbeiter:innenklasse befindet sich mehr denn je in der Defensive. Sie spürt nicht nur den eisigen Hauch des rechtpopulistischen Vormarschs. Die Autoindustrie steckt in einer Konkurrenzklemme aus technischer Produktionsumstellung und Herausforderung kostengünstigerer Anbieterfirmen v. a. aus Asien. Mit gegenwärtiger politischer Rückenstärkung können die Konzernbosse ihre „zwingenden“ Argumente zur Kostendämpfung zu Lasten der Lohnarbeiter:innen selbstbewusster vortragen, worauf die Gewerkschafts- und Betriebsbürokrat:innen nur ihre jämmerliche Beschwörung der Sozialpartner:innenschaft als Antwort wissen.
Anders ist auch, dass die Krise sich verallgemeinert, auf sämtliche Zunftriesen ausgeweitet und kooperative Großunternehmen der Branche wie Bosch oder Continental erfasst hat. Einige wie Ford in Köln sind zu Kurzarbeit übergegangen, andere wie VW oder ZF in Friedrichshafen haben krasse Entlassungspläne aus der Schublade gezogen. Die Kernschichten des deutschen Proletariats mit ihren traditionell bestorganisierten Verbänden sehen sich einem Generalangriff ausgesetzt.
Darauf muss eine passende Antwort erteilt werden. Die Passivität der Gewerkschaften hat weder zur zahlenmäßigen Stärkung noch zur moralischen und militanten Widerstandskraft der eigenen Reihen beigetragen. Allerdings bieten sich mit der Verallgemeinerung der Krise auch Chancen zu Abwehrkämpfen auf breiterer Front in der Industrie als vielleicht vor 20 Jahren. Außerdem täte sich die DGB-Bürokratie wahrscheinlich leichter, bei einem zu erwartenden Regierungswechsel mit der CDU an der Spitze zu handeln. Das Argument, die Regierungstätigkeit unter sozialdemokratischer Führung durch Kampfmaßnahmen zu gefährden, würde wegfallen.
Es muss klargemacht werden, dass die Angriffe des Kapitals alle Lohnabhängigen der Industrie unterschiedslos, ungeachtet von Betriebszugehörigkeit oder vermeintlichen Zusicherungen, treffen. Dem treuherzigen Augenaufschlag von Parteipolitiker:innen, die sich als Retter:innen der Branche aufspielen wollen, ist ebenso wenig zu trauen wie den „Sozialpartner:innen“ der Kapitalseite.
Die unmissverständliche Antwort muss lauten: Wir müssen Nein sagen zu allen Werksschließungen, allen Entlassungen, zu Lohneinbußen, auch in der verkappten Form von Kurzarbeit, zu weiteren Auslagerungen. Die Arbeitszeit soll betriebsübergreifend auf die ganze Branche verteilt, die Frage nach Enteignungen von bankrotten Unternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle muss gestellt werden.
Eine Gelegenheit, dies einzubringen, sind die Tarifrunden. Deren routinemäßige Abwicklung kann durchbrochen werden, wenn sie verbunden sind mit dem Druck, Streiks einzuleiten. So kann die Kampfkraft an der Basis gestählt werden. Hoffnungen und Appelle an die Einsicht der Bürokrat:innen, die Forderungen durchzusetzen, bringen uns keinen Schritt weiter. Schritte voran können nur organisiert unternommen werden.
Die Vernetzung kritischer Gewerkschafter:innen (VKG) kann als Organisation noch keinen Anspruch erheben, eine gewerkschaftliche Basisbewegung zu sein. Aber sie kann einen Beitrag dazu leisten, klassenbewusste und kämpferische Gewerkschafter:innen zu sammeln und Basisgruppen zu formieren. Darin könnte sie in gewisser Weise an die Tradition einer Gewerkschaftlichen Oppositionsgruppe (GOG), die einst ihre Hochburg in Bochum hatte, anknüpfen.
Die Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen haben es jedoch meist verstanden, solche Oppositionen entweder zu isolieren oder in den Apparat zu integrieren. Bei den spontanen Streiks der Ford-Arbeiter:innen in Köln 1973 schreckte der Betriebsrat schreckte sogar nicht davor zurück, den Werkschutz des Unternehmens gegen die eigenen Kolleg:innen zu Hilfe zu rufen, um dem „wilden Streik“ ein gewaltsames Ende zu bereiten.
Aber die Aufgaben einer VKG gehen heute noch weit darüber hinaus, nämlich wieder politische Aspekte in die Arbeiter:innenbewegung hineinzutragen. Gerade im Automobilsektor darf statt Festhalten an und Subvention konventioneller Bauart das Thema der Verkehrswende weg von der Einbahnstraße des Individualverkehrs hin zur Herstellung von zukunftsweisenden und klimaneutraleren öffentlichenTransportmitteln nicht fehlen.
Ein weiterer oft vernachlässigter Aspekt besteht in der Organisierung von Anwohner:innen und strukturell Abhängigen im Einzugsbereich der großen Fahrzeugwerke mit dem Hinweis auf die verödende Auswirkung von Werkschließungen und massenhafte Belegschaftsschrumpfungen. Auf Veranstaltungen zu Tarifrunden und an Orten, die besonders im Brennpunkt stehen, sollte die VKG Gelegenheit nehmen, solche Forderungen an die Gewerkschaftsvertretungen und kampfbereite Elemente heranzutragen.
Südamerika - Politik, Gesellschaft und Natur
Ein politisches Reisetagebuch
Südamerika: Politik, Gesellschaft und Natur
Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen