Arbeiter:innenmacht

Ungarn: Generalstreik gegen SklavInnengesetz nötig

Jeremy Dewar, Infomail 1038, 16. Januar 2019

Am 5. Januar strömten Zehntausende von ArbeiterInnen und StudentInnen auf den Budapester Heldenplatz, um zu fordern, dass die Fidesz-Partei (Ungarischer Bürgerbund) von Präsident Viktor Orbán „von der Macht entfernt“ wird.

Wenn Orbán glaubte, dass der Wintereinbruch die Anti-Regierungsbewegung vernichten würde, zerstörte diese nachdrückliche Antwort stattdessen jede Hoffnung darauf. Drohende diktatorische Gesetze haben Oppositionsparteien, Gewerkschaften, StudentInnen und Intellektuelle in eine Massenbewegung auf den Straßen hineingezogen, vor allem in der Hauptstadt Budapest, aber auch zum ersten Mal im ganzen Land.

Nun hat der Ungarische Gewerkschaftsbund MASZSZ mit 150.000 Mitgliedern einen Generalstreik am 19. Januar angedroht. „Die Regierung hat uns in Stichgelassen “, erklärte László Kordás, Vorsitzender des Ungarischen Gewerkschaftsdachverbands MASZDZ: „Das Land muss am selben Tag zur gleichen Zeit zum Stillstand kommen.“

Ein anderer Gewerkschaftsfunktionär gab gegenüber dem deutschen „Handelsblatt“ zu, dass dies auf Druck der Basis zurückzuführen sei: „Einige unserer Mitglieder haben uns aufgefordert, das Land lahmzulegen“.

Die Bewegung begann im November letzten Jahres, als Fidesz, das nach dem erdrutschartigen Wahlsieg im April über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und so jedes beliebige Gesetz verabschieden kann, die Mitteleuropäische Universität stilllegte, die von Orbáns Reizfigur, dem in den USA lebenden Milliardär George Soros, gegründet und teilweise finanziert wurde.

Sklavengesetz

Am 12. Dezember schlossen sich dann Auto- und ChemiearbeiterInnen, FleischpackerInnen und LehrerInnen den SchülerInnen und WissenschaftlerInnen auf der Straße an, als das Parlament das sogenannte „Sklavengesetz“ verabschiedete.

Dieses Gesetz erlaubt es UnternehmerInnen, ihre Belegschaften für 400 zusätzliche Überstunden pro Jahr zu verpflichten, diese zusätzliche Arbeitszeit zum normalen Tarif zu bezahlen und das Entgelt für bis zu drei Jahre zurückzuhalten. Die ArbeiterInnen befürchten zu Recht, dass sie entlassen würden, wenn sie sich weigern, die „Überstunden“ zu leisten, was diese praktisch zur Dienstpflicht macht.

Vierhundert Stunden entsprechen fast zwei ganzen Mehrarbeitsstunden pro Tag oder einem zusätzlichen Arbeitstag pro Woche.

Die aktuelle Entwicklung entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Fidesz wurde auf einer Plattform gewählt, die sich fast ausschließlich auf die Beseitigung der Einwanderung konzentrierte, auf Rassismus und Rechtspopulismus pur.

Diese Politik hat jedoch zu einem akuten Arbeitskräftemangel in Ungarn geführt, insbesondere in der überaus wichtigen Automobilindustrie, die von multinationalen Unternehmen wie BMW, Audi und General Motors dominiert wird, wo die Beschäftigten im Durchschnitt 900 Euro pro Monat erhalten, einen Bruchteil des IndustriearbeiterInnenlohns in Deutschland oder generell in Westeuropa. Schätzungsweise eine Million, hauptsächlich junge ArbeiterInnen haben das Land seit 2006, als Orbán an die Macht kam, verlassen und wurden nicht ersetzt. Die neuen, von ArbeiterInnen treffend als  „BMW-Gesetz“ bezeichnete  Regelung soll Abhilfe schaffen.

Weitere autoritäre Gesetze, die Ende 2018 verabschiedet wurden, sind die Einrichtung neuer „Verwaltungsgerichte“ für Korruptionsfälle und dergleichen. Diese Gerichte werden unter der direkten Kontrolle der Regierungspartei stehen und damit die Unabhängigkeit der Justiz beenden, was sehr geschickt ist, da die Regierung Fidesz’ zunehmend in einen Finanzskandal verwickelt ist. Ein anderes bezieht die Mainstream-Medien, die sich bereits weitgehend in der Tasche von Fidesz befinden, in ein einheitliches Konsortium ein. Viele befürchten, dass dies das endgültige Ende des unabhängigen Journalismus bedeuten würde.

Unterdrückung und Widerstand

Die erste Reaktion der Regierung bestand darin, die Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, am 12. Dezember Tränengas auf die DemonstrantInnen abzufeuern, über 50 von ihnen zu verhaften und viele weitere zu verletzen. Seitdem hat sie ihre Hunde zurückgerufen, verblüfft durch Meinungsumfragen, die regelmäßig vermuten lassen, dass 80 Prozent der Bevölkerung das Sklavengesetz missbilligen, und die Regierung die Art der Straßenbewegung befürchten lassen, die Orbán selbst 2006 auf einem Ticket für Demokratie an die Macht brachte.

Jetzt haben sich die Oppositionsparteien dem Kampf angeschlossen, wobei Abgeordnete teilweise das staatliche Fernsehzentrum besetzen, um das Recht zu fordern, eine Erklärung zur Unterstützung der Proteste vorzulesen. Bis jetzt wurde nur die Regierungslinie zu den DemonstrantInnen ausgestrahlt, im Wesentlichen, dass es sich um eine von Soros ausgetüftelte Verschwörung handelt. Diese Verbreiterung der Bewegung bringt aber auch ihre Gefahren mit sich.

Erstens, den etablierten Parteien, einschließlich der Sozialistischen Partei MSZP kann man nicht trauen. Sie haben sich in der Vergangenheit als keine FreundInnen der ArbeiterInnenklasse erwiesen und sind angesichts der zunehmenden Flut von Rassismus, insbesondere Antisemitismus, ruhig geblieben. Ihr Hauptziel ist es, bei den wichtigen Europawahlen im Mai gleiche Wettbewerbsbedingungen für sich zu schaffen.

Schlimmer noch, die faschistische Jobbik-Partei (Bewegung für ein besseres Ungarn), die derzeit mit 8 Prozent Stimmenunterstützung rechnen kann, hat sich opportunistisch als Verteidigerin für ArbeiterInnenrechte positioniert. Gelbe Westen begannen sogar bei einigen der jüngsten Demonstrationen aufzutauchen. Als Verfechterin der Nulleinwanderung, gewalttätig antisemitisch und Förderin der autoritären Diktatur ist die Präsenz von Jobbik eine klare Bedrohung für ArbeiterInnen, MigrantInnen und Frauen. Innerhalb der Bewegung sollten SozialistInnen die ArbeiterInnenrechte mit der Frauenbewegung und Kampagnen in Solidarität mit MigrantInnen und gegen Rassismus verbinden. Die Aufnahme von antirassistischen und frauenfreundlichen Parolen neben Selbstverteidigungsausschüssen ist der erste Schritt, um die extreme Rechte zu isolieren und aus der Bewegung zu vertreiben.

Die ArbeiterInnen mussten den Aufruf zu einem Generalstreik am 19. Januar ihren Gewerkschaftsführern aufzwingen. Aber die Gewerkschaften sind schwach, der Organisationsgrad beträgt weniger als 10 Prozent. Um diese Einschränkung zu überwinden, müssen die ArbeiterInnen in jedem Bezirk von Budapest und in allen Städten und Gemeinden Aktionsräte bilden, die alle Arbeitsplätze, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, StudentInnen und LandarbeiterInnen einbeziehen. Der Ablauf des Generalstreiks und die Richtung der Bewegung müssen in die Hände dieser Aktionskomitees gelegt werden.

Orbán fürchtet die Opposition nicht, geschweige denn die GewerkschaftsführerInnen. Was er fürchtet, ist, dass sich die Bewegung ihrer Kontrolle entziehen und zu einer entwickeln könnte, die, wie bereits spontan geschehen, seine Herrschaft bedroht. Wenn er politisch überlebt, mit ein oder zwei kleinen Zugeständnissen, wird er einfach zurückkommen und ArbeiterInnen und StudentInnen Zug um Zug abgreifen.

Um dies zu verhindern, müssen die ArbeiterInnen die Aufhebung aller diktatorischen Gesetze Orbáns auf ihre Banner schreiben. Um die wachsende Diktatur der Fidesz-Partei Orbáns zu beenden und zu verhindern, dass Jobbik in ihre Fußstapfen tritt, ist eine neue Partei der ArbeiterInnenklasse erforderlich, eine revolutionäre Partei, die die Krise lösen kann, die Ungarn erfasst – im Interesse aller ArbeiterInnen, seien es UngarInnen, Roma oder EinwanderInnen, ChristInnen, Juden/Jüdinnen oder MuslimInnen.

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