Arbeiter:innenmacht

Bürgergeld und neuer Mindestlohn: Reform oder Fassadenanstrich?

Jürgen Roth, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023 rückt näher. Mittlerweile ist bekannt, wie hoch die Regelsätze ausfallen sollen. Gleichzeitig wird über die Frage der Sanktionen weiter debattiert.

Was ist der Unterschied?

Das Bürgergeld wird etwas höher ausfallen als die bisherige Grundsicherung, im Volksmund Hartz IV genannt. Schon ein Blick auf die geplanten Veränderungen und Regelsätze verdeutlicht den betrügerischen Charakter der Umbenennung.

Im Prinzip wird im 1. Schritt genauso gerechnet wie bei Hartz IV. Die Regelsätze werden mit Hilfe eines Mischindexes fortgeschrieben, der zu 30 % die Lohn- und zu 70 % die Preisentwicklung abbilden soll. Grundlage sind dabei die Daten aus dem 2. Quartal des Vorvor- und dem 1. des Vorjahres. Nach diesem Mechanismus erhöht sich der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene (Haushaltsvorstände) von 449 auf 469 Euro.

Im 2. Schritt soll auch die zu erwartende künftige Inflation miteinbezogen werden. So kommt der neue Regelsatz für o. a. Personengruppe von 502 Euro zustande, was einer Erhöhung um 53 Euro oder 11,8 % entspricht.

Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Hartz-IV-Regelsatz 2022 gegenüber 2021 um statt 3 Euro (!) von 446 auf 449 Euro angehoben wurde und die reale Preissteigerung die untersten Einkommensgruppen überdurchschnittlich trifft, so kommt die ganze Reform einer weiteren Verarmung gleich.

Regelsätze und weitere Änderungen

Wie bei der Grundsicherung gibt es außer für alleinstehende Erwachsene bzw. Haushaltsvorstände unterschiedliche Regelsätze für verschiedene Personengruppen. Das Bürgergeld soll betragen für volljährige Partner:innen 451 Euro, Kinder zwischen 14 und 17 Jahren 420 Euro, 7- bis 13-Jährige 348 Euro, bis zu 5-Jährige 318 Euro. Das Kindergeld, das allen Eltern zusteht, die diese Leistungen nicht beziehen, wird aber laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.03.2010 (Az. 1 BvR 3163/09) auf Grundsicherung und Bürgergeld angerechnet und der Regelsatz entsprechend gekürzt.

Im Vergleich zur sofortigen Vermittlung in Arbeit soll ab 2023 Weiterbildung eine größere Rolle spielen. In den ersten beiden Jahren des Bezugs soll wie schon während der Coronakrise generell die Wohnung als angemessen betrachtet werden. Ferner werden die Regeln für das Schonvermögen (Ersparnisse, die nicht zuerst aufgebraucht werden müssen, bevor man Grundsicherung bzw. Bürgergeld bezieht) „besonders großzügig“ ausgelegt.

Wenn real wenig bis nichts rumkommt für die Bezieher:innen des neuen Bürgergelds, so sollen die Bezieher:innen wenigstens moralisch etwas aufgebaut werden. Die Jobcenter-Mitarbeiter:innen  sollen gegenüber den Arbeitslosen zu einem „Umgang auf Augenhöhe“ angehalten werden. Das kostet nichts – und ändert auch nichts daran, dass es weiter ein, wenn auch gelockertes Sanktionsregime geben wird.

Sanktionen

Grundsätzlich bleibt es nämlich bei den bisherigen „Mitwirkungspflichten“. Geplant ist allerdings eine 6-monatige Vertrauenszeit, in der es keine Leistungsminderung geben wird. Bei hartnäckigen Terminversäumnissen könne es aber auch in dieser Frist Ausnahmen geben, so der federführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Der Verein Sanktionsfrei erklärt dazu, Kürzungen der Grundsicherung bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter hätten lediglich einschüchternden Effekt, verfehlten aber sonst jede Wirkung (Erleichterung der Arbeitsvermittlung).

Dieses Urteil stützt sich auf eine von dieser Initiative in Auftrag gegebene Studie des Instituts für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (Ines). Sie ergab, dass der Kontakt mit den Jobcentern im Allgemeinen von den befragten Betroffenen größtenteils als hinderlich statt unterstützend empfunden wird. So weit zur „Augenhöhe“.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nennt das Hartz-IV-Sanktionssystem denn auch Missbrauch, der überwunden gehöre. Schließlich gehe es nur um 3 bis 4 % der Hartz-IV-Bezieher:innen, die aufgrund von Terminversäumnissen oder Ähnlichem tatsächlich sanktioniert werden. Für die anderen 97 % stelle es eine reine Drohkulisse dar. Für eine Anhebung des Regelsatzes auf 700 Euro brauche es nur 10 Mrd. Euro.

Auch Marcel Fratzsch, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), monierte am geplanten Bürgergeld die zu geringe Anhebung des Regelsatzes um 11,8 %. Menschen mit geringem Einkommen spürten die Inflation dreimal heftiger als Gutverdienende. Zu Recht spielt er damit darauf an, dass diese beim Grundbedarf (Lebensmittel, Energie) höher als die amtliche ausfällt und dessen Anteil am Haushaltseinkommen bei Grundsicherungsleistungsbezieher:innen ebenso.

Und die FDP?

Doch von der Ampel ist hier nichts zu erwarten. Während die SPD Sozialschaum schlägt, verteidigt die Freie Deutsche Porschefahrer:innenpartei die „Errungenschaft“ von Rot-Grün. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab zum Besten, der „Leistungsgedanke“ und das „Prinzip Fördern und Fordern inklusive Sanktionsmechanismen“ dürften nicht untergraben werden, lobte aber auch den Inflationsanpassungsmechanismus. Schließlich hinkt dieser weit hinter der Realität von Grundsicherungshaushalten hinterher, dürfte aber mit dem Hintergedanken konzipiert worden sein, eine erneute Radikalisierung wie in den Jahren nach dem November 2003 (Riesendemonstration gegen die Agenda 2010) zu verhindern. Die ganze Ampel steht also auf Grün fürs Bürgergeld.

Mindestlohn, Minijobobergrenze und Übergangsbereich

Am 23. Februar wurde beschlossen, dass der gesetzliche Mindestlohn in 3 Schritten erhöht wird: ab 1.1.2022 auf 9,82 Euro, ab 1.7.2022 auf 10,45 Euro, ab 1.10.2022 auf 12 Euro. Zukünftig wird er weiterhin auf der Grundlage von Beschlüssen der Mindestlohnkommission angepasst, erstmals wieder bis zum 30.6.2023 mit Wirkung zum 1.1.2024.

Ab 1.10.2022 wird zudem die Minijobobergrenze (nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) auf 520 Euro (von 450 Euro) erhöht, so dass die monatliche Höchstarbeitszeit für Minijobber:innen ab 1.1.2022 bei rund 45 Stunden (450 Euro : 9,82 Euro = 45,82), ab 1.7.2022 bei rund 43 Stunden (450 : 10,45 = 43,06) lag und ab 1.10.2022  rund 43 Stunden betragen wird (520 : 12 = 43,33).

Ab 1.10.2022 wird außerdem die Entgeltgrenze für Beschäftigte im Übergangsbereich angehoben. Von 450,01 bis 1.300 Euro steigt sie auf 420,01 bis 1.600 Euro. In dieser Zone steigen die Sozialabgaben nur schrittweise bis zum vollen Satz. Das soll die Anreize erhöhen, über einen Minijob hinaus zu arbeiten (Midijobbereich). Oft wird dieser vergessen. Insgesamt entlasten alle ganz oder teilweise sozialversicherungsfreien Tätigkeiten nur das Kapital, aber nicht die Beschäftigten, denn diese schauen bei Arbeitslosigkeit und Rente eben ganz oder teilweise in die Röhre! Von daher konterkariert ihre Ausweitung die minimalen Verbesserungen beim Mindestlohn.

Europaparlament

Am 15. September stimmte das Straßburger EU-Parlament für einheitliche Entgeltstandards. Die Zustimmung der Mitgliedsstaaten gilt als Formsache. Mindestlöhne gelten demnach als fair, wenn sie 50 Prozent des Bruttodurchschnittsarbeitseinkommens entsprechen. Zudem müssen die Länder Aktionspläne zur Steigerung der Tarifbindung ausarbeiten, wenn diese bei unter 80 % liegt. Nach Zustimmung bleiben ihnen 2 Jahre Zeit für die Umsetzung der Richtlinie in nationale Gesetze. Die nordischen Länder, in denen es zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber dafür eine starke Tarifbindung gibt, wittern Einmischung in ihre nationalen Angelegenheiten.

Doch darf die EU gar keine konkreten Lohnhöhen vorschreiben. Die Richtlinie verpflichtet Mitgliedsstaaten nicht einmal, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen! Richtlinie heißt im EU-Jargon also, dass sich niemand danach richten muss.

Kommentare

Die deutschen Gewerkschaften begrüßten den Straßburger Beschluss dennoch als wichtigen Schritt für mehr soziale Gerechtigkeit, Erfolg der Gewerkschaften und Ausgangspunkt für ein solidarisches Miteinander und gegen den sozialen Unterbietungswettbewerb im europäischen Binnenmarkt. So tönte Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. An Lobhudelei nicht nachstehen wollte ihm die Europaabgeordnete der Linkspartei, Özlem Alev Demirel. Anders als die fatale Troikapolitik stärke die Richtlinie den Ausbau von Tarifverträgen, schaffe die Grundlage für angemessene Mindestlöhne oberhalb der Armutsschwelle. Mit Ausnahme von zweien liege dieser in Ländern, in denen ein gesetzlicher Mindestlohn gelte, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Angesichts der Preissteigerungen bleibe aber selbst die Bundesregierung mit ihrer beschlossenen Anhebung auf 12 Euro auf Armut programmiert. Diese sieht indes keinen Anpassungsbedarf.

Der Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments, Dennis Radtke (CDU) kaufte diesen Schönfärber:innen und Gesundbeter:innen fast noch den Schneid ab. Zwar unterstrich auch er, Arbeit„nehmer:innen“rechte seien gestärkt worden und damit die Sozialpartnerschaft, doch kritisierte er u. a. auch die BRD, dass den gesetzlichen Mindestlohn zu erreichen möglich sei, indem Urlaubs-, Weihnachtsgeld, Schmutz-, Lärmzulagen und sogar Trinkgelder eingerechnet werden können.

Alle vergaßen, auf die Ausnahmen der deutschen Mindestlohnregeln zu verweisen: Pflichtpraktikant:innen, Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Auszubildende, ehrenamtlich tätige Mitarbeiter:innen, Langzeitarbeitslose, Freiberufler:innen und Selbstständige (beide Letzteren fallen oft unter die Kategorien Scheinselbstständige, eine „Erfindung“ der famosen Agenda 2010) erhalten keinen Mindestlohn. Nicht zu vergessen: Beschäftigte in Behindertenwerkstätten (Durchschnittslohn: 1,35 Euro!) und Gefängnissen. Seit dem 1. Januar 2020 gibt es eine eigene Mindestvergütung für Auszubildende.

Forderungen

Statt leeren Gewäschs und Schönrederei braucht es einen Kampf um effektive Verbesserungen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen:

  • Weg mit Bürgergeld und Grundsicherung! Mindesteinkommen von 1.600 Euro!
  • Arbeit oder voller Lohn! Gesetzlicher Mindestlohn von 15 Euro ohne Ausnahmen!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung von Firmen, die sich weigern, diesen zu zahlen, unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Verteilung der Arbeit auf alle: 30-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich! Für ein Programm öffentlicher, nützlicher Arbeiten zu Tariflöhnen!
  • Automatische Preisgleitklausel gegen die Inflation: Gleitende Skala der Löhne und Sozialeinkünfte, überwacht von Arbeiter:innenpreiskontrollkomitees!
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