Christian Gebhardt, Neue Internationale 268, September 2022
Die Inflationsrate steigt und steigt. Betrug sie im August 2022 in Deutschland 8,8 %, wird im Herbst schon eine zweistellige Steigerungsrate erwartet. Bürgerliche Ökonom:innen sprechen zwar davon, dass die Spitze der Inflation bald erreicht sein solle und es sich wieder „zu den normalen“ 2 % hin entwickeln würde. Eins ist aber sicher: die Preise werden oben bleiben und mit ihnen der finanzielle Druck im Alltag etlicher Menschen. Vergleicht man die Inflationsraten mit denen anderer Länder, wird deutlich, wohin die Reise gehen könnte: Österreich 9,2 %, Estland 25,2 % sowie die Türkei mit satten 80,1 % im August 2022 weisen alle eine höhere Inflation auf.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass die stark ansteigenden Preise nicht nur Gesprächsthemen in Politshows und bürgerlichen Kolumnen einnehmen, sondern auch täglich für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen, in den Pausenräumen und Betrieben sorgen. Die Arbeiter:innenklasse bekommt die Auswirkungen täglich durch gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zu spüren und der Unmut darüber wird immer lauter. Auch wenn es noch nicht überkocht, die Stimmung scheint zu brodeln und die Menschen suchen nach Aktivitätsmöglichkeiten, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Einen Hinweis darauf stellen zum Beispiel die Teilnehmer:innenzahlen bei den ersten Montagsdemonstrationen wie z. B. 4.000 Teilnehmer:innen in Leipzig dar.
Neben den Mobilisierungen linker Kräfte versuchen auch rechte wie die AfD oder „Freie Sachsen“, das Thema für sich zu besetzen und mit ihren reaktionären Perspektiven zu verbinden. Auch wenn sich daraus noch keine regelmäßig mobilisierende Massenbewegung wie gegen Corona entwickelt hat, wird die bundesweit beworbene AfD-Kundgebung am 8. Oktober in Berlin ein Gradmesser dafür sein, wie stark rechte Organisationen oder Strukturen dieses Thema für sich nutzen können. Schon jetzt dominieren rechte und faschistische Kräfte in Sachsen viele lokale Demos.
Der Herbst wird also auch ein Kräftemessen zwischen rechts und links, zwischen reaktionärer kleinbürgerlicher Demagogie und der Arbeiter:innenklasse. Schon jetzt erfolgt dieses: Die jeweilige Größe von Demonstrationen wie jene des linken Bündnisses Brot Heizung Frieden am 3. Oktober, der Mobilisierung der Sozialverbände, Umweltorganisationen und Gewerkschaften am 22. Oktober wird für den Stand des Einflusses ebenso wesentlicher Indikator wie die AfD-Kundgebung am 8. Oktober werden.
Währenddessen werden die bürgerlichen Medien nicht müde, gemäß der Hufeisentheorie die linken wie rechten Proteste in einen Topf zu werfen und zu diffamieren. Alle Proteste gegen die Inflation und ihre Auswirkungen soll als putinfreundlich, rechtsradikal oder antisemitisch gebrandmarkt werden.
Diese rechten Mobilisierungen zeigen aber auch Auswirkung auf die Diskussionen innerhalb der (radikalen) Linken im Umgang damit. Hier unterscheiden sich drei Ansätze: 1) Entweder es wird der Kampf gegen rechts in den Vordergrund gestellt und Blockaden der rechten Demonstrationen als oberstes Ziel ausgerufen; 2) es wird sich in populistischer Natur rechts offen gegeben und darauf hingewiesen, dass auch reaktionäres Gedankengut zunächst innerhalb einer breiten, populären Massenbewegung gegen die Inflation ausgehalten werden müsse; und 3) die Notwendigkeit einer unabhängigen Massenbewegung der Arbeiter:innen aufzubauen betont, die aus ihrer Perspektive heraus nicht nur den proletarischen Kampf gegen die Inflation und Teuerung, sondern auch gegen rechts in einer Massenbewegung vereinen könne.
Diese Ansätze werfen direkt die Frage des Charakters einer solchen – dringend notwendigen – Massenbewegung auf. Soll sie einen populistischen Charakter tragen? Eine Bewegung, die vor klaren Klassenpositionen wie Internationalismus und Antirassismus zurückschreckt, um Teile „des Volkes“ nicht zu verprellen und für die Bewegung zu gewinnen? Oder soll sie einen internationalistischen, proletarischen Charakter besitzen? Eine Bewegung, die sich an den Kampforganen sowie -formen der Arbeiter:innenklasse orientiert? Die sich auf Basisstrukturen der Arbeiter:innenklasse in Betrieben, Nachbarschaften und an Schulen zur Mobilisierung, Diskussion und Verbreitung der Bewegung stützt und ihr dadurch einen basisdemokratischen, multiethnischen Charakter verleiht?
Wir argumentieren für den Aufbau einer internationalistischen, proletarischen Massenbewegung – die einen Attraktionspol für die Menschen darstellen und gleichzeitig einen Ausweg im Interesse der arbeitenden Bevölkerung aufzeigen kann. Nur durch eine klare Positionierung können breite Teile der Arbeiter:innenklasse für eine solche Bewegung gewonnen und Gegenmacht gegen die rassistische Demagogie der Rechten formiert werden.
Dies bedeutet, auch innerhalb der linken Mobilisierung einen offenen und solidarischen Kampf gegen politische Konzeptionen von Kräften wie „Aufstehen“ rund um Sahra Wagenknecht, gegen kleinbürgerliche Politiken von Umweltverbänden zu führen – und natürlich auch gegen Sozialpartnerschaft und Kompromisslerei auf Seiten der Gewerkschaftsbürokratie oder der Reformist:innen in der Linkspartei. Letztlich wird die entscheidende Frage im Kampf gegen rechts sein, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken und eine Perspektive zu weisen. Daher ist es auch so zentral, die Gewerkschaften in die Aktion zu ziehen, denn die aktuellen Angriffe können letztlich nicht wegdemonstriert, sondern müssen weggestreikt werden.
Zweifellos ist es auch richtig, sich rechten Mobilisierungen entgegenzustellen wie am 5. September in Leipzig oder sich am 8. Oktober an den Gegenaktionen zum AfD-Aufmarsch zu beteiligen. Den Kampf um die Massen, die jetzt eine Perspektive und eine Bewegung gegen Inflation und Verarmung brauchen, können wir aber durch diese Aktionen alleine nicht führen. Mehr noch. Wenn sich die Linke auf die Verhinderung von rechten Aufmärschen fokussiert, wird sie selbst keine attraktive Kraft werden können, sondern überlässt letztlich den Rechten die Opposition zur Regierung.
Gänzlich verfehlt und problematisch wird die Sache, wenn beispielsweise der Demonstration am 5. September in Leipzig von der antideutschen Antifa vorgeworfen wird, dass diese eine „Querfront“ gewesen wäre, weil DIE LINKE und andere eine eigene Veranstaltung durchgeführt haben, statt sich auf die Blockade der Rechten und Nazis zu konzentrieren. In Wirklichkeit offenbart diese Anschuldigung nicht nur einen albern dümmlichen Gebrauch des Querfrontvorwurfs, sondern auch die politische Perspektivlosigkeit vieler Antifa. Selbst hat man keinen Plan, keine Vorschläge, keine Forderungen, wie gegen Preissteigerungen und die Kriegspolitik der Regierung vorzugehen wäre. Was als besonders „militant“ daherkommt, stellt im Grunde eine politische Bankrotterklärung dar.
Ein gänzlich anderes Problem wirft freilich die Frage auf, wie organisierte rechte Präsenz, Provokationen oder Infiltrationsversuche auf linken Demos effektiv gestoppt werden können. Natürlich spielen auch hier die Forderungen und klassenpolitische Ausrichtung selbst schon eine wichtige Rolle. Darüber hinaus braucht es klare Stellungnahmen, dass rechte Organisationen, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus auf den linken Kundgebungen und Aktionen keinen Platz haben.
Bei Ankündigungen darf es dabei natürlich nicht bleiben. Es braucht einen organisierten Ordner:innendienst und Schutz der Aktionen, die organisierte rechte oder rechts offene Kräfte von den Demonstrationen und Kundgebungen auch entfernen können. Solche Ordner- und Selbstverteidigungsstrukturen müssen von den linken Aktionsbündnissen gebildet und diesen auch verantwortlich sein.
Dies ist vor allem notwendig, weil wir es nicht nur, in etlichen Städten wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie, mit organisierten rechten, faschistischen oder rechtspopulistischen Strukturen zu tun haben. Diese haben bei den Aktionen nichts verloren und müssen rausgeschmissen werden.
Anders stellt sich das Problem bei bisher kaum mobilisierbaren Lohnabhängigen und Kleinbürger:innen mit politisch diffusem Bewusstsein dar, die die reale Existenzangst auf die Straße treibt. Wir wollen diese Menschen in die Bewegung ziehen und für unsere Aktionen gewinnen, denn auch im politischen Kampf um deren Herzen und Hirne wird entschieden, ob die Rechte oder die Linke zur hegemonialen Kraft im Kampf gegen Preissteigerungen, Energiekrise und Regierungspolitik wird.
Schließlich kann und darf eine „richtige“ Positionierung zum Ukrainekrieg keine Vorbedingung zur Teilnahme an einer Bewegung gegen die Teuerung darstellen. Das gilt natürlich noch mehr, wenn die vom DGB, den Sozialverbänden und Umweltorganisationen für den 22. Oktober geforderte Position die falsche ist. Versuche, eine Kritik an den reaktionären Sanktionen zu untersagen, haben mit einem Kampf gegen rechts nichts zu tun, sondern stellen bloß eine politische Flankendeckung für die Regierung und ihren imperialistischen Kurs dar. Sie schrecken Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende potentielle Unterstützer:innen ab, vor allem im Osten.
Die klare Kante gegen rechts, die klare Abgrenzung von AfD und Co. wird nur dann eine scharfe politische Waffe sein, wenn sie auch eine gegen Kapital und Regierung, gegen Krieg und Krise, gegen den deutschen Imperialismus beinhaltet.