Bruno Tesch, Infomail 1264, 24.September 2024
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung eine Studie über die Möglichkeiten einer arbeitspolitischen Veränderung erstellt. Vordergründig dient die einfließende Modellrechnung der Behebung des Fachkräftemangels in Deutschland. Tiefer liegend zielen die daraus entwickelten Schlüsse auf eine Umstrukturierung und Erweiterung des Arbeitsmarktes ab. Den Unternehmen soll Handhabe gegeben werden für die Ausschöpfung von brachliegendem Arbeitskraftpotenzial.
Als Zielgruppe hat die Studie die Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen ins Visier genommen, die bereits aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Dazu müssten gesetzliche Regelungen, die den „vorzeitigen“ Ruhestand erleichtert haben, aus dem Weg geräumt und Anreize geschaffen werden, um den Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit auch attraktiv zu gestalten. Begründet wird dieser Vorstoß mit der reichhaltigen Erfahrung dieses Beschäftigungsreservoirs, das langwierige Ausbildungsvorläufe ersparen würde. Des Weiteren behaupten die Autor:innen, Dreiviertel der Altersrentner:innen ab 65 würden sich gesundheitlich nicht eingeschränkt fühlen.
Aktuell sind nach DIW-Berechnungen 3,6 Millionen Berufstätige bei einer Gesamtpopulation von 6,1 Millionen Menschen in dem genannten Alterssegment bereits in Teilzeit beschäftigt. Davon könne ein größerer Teil auch zur Aufstockung bis hin zu Vollzeitarbeit überführt werden.
Eine andere DIW-Untersuchung behandelt die Entwicklung der Arbeitszeit seit 1991 und kommt zu dem Ergebnis, dass die durchschnittlichen Arbeitszeiten in Deutschland sich verringert haben, aber die absolute Zahl der Arbeitsstunden von 52 Milliarden auf mittlerweile 55 Milliarden gestiegen ist und damit ein Rekordhoch erreicht hat. Wie passen die beiden Feststellungen zusammen?
Die geringere Zahl der Wochenarbeitszeit führen die DIW-Autor:innen auf den Beschäftigungszuwachs durch Frauen zurück. Fast die Hälfte davon ist in Teilzeit tätig. Auch hier sehen sie infolge möglicher Bereitschaft aufzustocken ungenutztes Potenzial für den Arbeitsmarkt. Weibliche Arbeitskräfte drücken den Wochenstundenschnitt auf 33, während er für vollbeschäftigte männliche bei 40 liegt.
Zudem ist im unteren Lohnquintil, bei rund 20 Prozent der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen, die durchschnittliche Arbeitszeit deutlich gesunken, die der im Lohn höher Gruppierten jedoch gestiegen. Der Hinweis auf die gezielte Ausweitung des Niedriglohnsektors durch Leiharbeit, Subunternehmen, sozialversicherungsfreie Minijobs, die in den aufgedunsenen Prekaritätsbereich fallen, fehlt an dieser Stelle. Zum großen Teil, außer bei Leih- und Subkontrakten, geht dies mit kürzeren Arbeitszeiten einher.
Ein ganz entscheidender Aspekt wird in diesen DIW-Analysen zu den Arbeitszeiten ebenfalls nicht erwähnt, und das führt uns zu dem eingangs angepriesenen Arbeitsmarktpotenzial von Arbeiter:innen aus der großenteils verrenteten Altersgruppe bis 70 Jahre zurück.
In der aktuellen Arbeitswelt hat die Intensivierung und Flexibilisierung (Betriebshandys, damit der/die Chef:in sich auch sonntagsabends mitten in den „Tatort“ einbringen kann) der Arbeit weiter zugenommen als für das Kapital unverzichtbare Faktoren der Profitabilität. Davon sind fast alle Bereiche betroffen, in denen Fachkräftemangel akut ist und macht sich in Arbeitstempo, Termindruck und erhöhter Anforderung durch verstärkte digitale Komplexität von Arbeitsabläufen bemerkbar. Dies stellt letztlich die problemlose Reintegration der Arbeitskräfte ohne höhere krankheitsbedingte Ausfallraten in Frage, mögen sich die arbeitswilligen Älteren auch fit für den Arbeitsprozess fühlen.
Der DIW-Beitrag lässt die Suche nach (nicht mehr ganz so) neuen Feldern der kapitalistischen Verwertung von Arbeitskraft erkennen und spaziert damit entlang einer Diskussionslinie, die von Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und CDU vorgegeben ist, die eine Wochenstundenzahl von 42 zur Regel machen wollen und darüber hinaus eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit fordern.
In engem Zusammenhang mit solchen Vorschlägen von der Kapitalseite und ihren Streckenläufer:innen muss natürlich die Infragestellung des Rentensystems betrachtet werden.
Das jetzige System einer gesetzlich garantierten Altersrente für alle Lohnempfänger:innen ist eine relativ junge Errungenschaft, die schließlich auf Druck der Arbeiter:innenbewegung zustande kam und als Modell eines Generationenvertrags gilt. Die gesetzliche Rentenversicherung bildet zusammen mit Kranken-/Pflege- und Arbeitslosenversicherung einen Eckpfeiler des staatlichen Sozialversicherungssystems.
Erst mit der dynamischen Rentenreform 1957 erfolgte der Übergang zum System der noch heute bestehenden Umlagefinanzierung. Statt Rücklagen zu bilden, waren anfangs – je zur Hälfte von den Arbeit„geber“:innen und Pflichtmitgliedern der gesetzlichen Rentenversicherung – 14 % des Bruttolohnes – der Beitragssatz liegt mittlerweile bei 18,6 Prozent – zu zahlen, die sofort für Rentenauszahlungen verwendet wurden. Das ermöglichte eine sofortige, deutliche Rentenerhöhung und fortan eine dynamische Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolohnentwicklung. Ferner schießt der Bundeshaushalt aus Steuermitteln einen Anteil für den Versicherungsträger zu und deckt damit 30 Prozent der Ausgaben der Rentenkassen.
Der Richtwert für die Rentenauszahlung nach Erreichen der Altersgrenze beträgt im Schnitt 80 Prozent des letzten Nettolohns. Renten werden jedoch besteuert, derzeit zu einem Satz von 83 Prozent. Bis 2058 soll die Rente gar in steuerliche Vollrechnung, also 100 Prozent, gestellt werden. Steuerfrei geht nur der/diejenige aus, wessen Rente niedriger als der Grundfreitrag von momentan 11.604 Euro für Alleinstehende, bei Ehepaaren das Doppelte, bleibt.
Angesichts des demographischen Wandels wird immer verstärkter aus interessierten Kapitalkreisen im Versicherungswesen, dem Sachverständigenrat für Wirtschaft oder der FDP gefordert, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung von einem umlagefinanzierten auf ein kapitaldeckendes System in Anlehnung an Verhältnisse in den USA umzustellen. Andere Experimente zur alternativen Altersvorsorge wie der Versuchsballon der Riester-Rente, dem bald die Luft entwich, haben jedoch die Skepsis gegen die Abschaffung des bisherigen Systems nicht weichen lassen. Etliche offen arbeiter:innenfeindliche Institutionen und Parteien setzen eher darauf, das Renteneintrittsalter heraufzuschrauben auf 70 Jahre, um das Problem der Finanzierung der Rentenkassen auf die Art zu lösen, d. h. zu Lasten der Arbeiter:innenklasse.
In einer sozialistischen Gesellschaftsform wäre es niemandem/r verwehrt, sich beliebig lange im Arbeitsprozess zu bewegen, aber mit dem einschneidenden Unterschied, nicht kapitalistischen Verwertungszwängen und der Not der Existenzsicherung unterworfen zu sein. Jede/r könnte die Tätigkeit weitestgehend nach ihren/seinen Bedürfnissen ausüben, die Arbeitstbedingungen müssen gerade für Betagtere an ihre gesundheitlichen Erfordernisse angepasst werden.
Doch unter den jetzigen krisenhaften Bedingungen des Kapitalismus mehren sich die Angriffe auf Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung an vielen verschiedenen Fronten. Es müssen selbst langjährig und hartnäckig errungene Positionen zäh verteidigt werden, die die reformistischen Führer:innen sich in ihrer Sozialpartner:innenschaftstrance mit dem Klassenfeind wieder abverhandeln lassen.
All diesen Machenschaften muss aber entschlossen entgegengetreten werden. Weder darf das Rentenprinzip ausgehöhlt noch die Ausbeutungszeit der menschlichen Arbeitskraft per Gesetz weiter ausgedehnt werden.
Die Gewerkschaften haben ihren Fanfarenstoß aus den Reihen der IG Metall zur Einführung einer 4-Tage-Woche schnell wieder abgeblasen und sind zur bornierten Normalität von Verhandlungen aus der Defensive zurückgekehrt.
In Frankreich hat sich im vergangenen Jahr gezeigt, welche Dimension ein Kampf auf diesem Feld erreichen kann, auch wenn er nicht wirklich konsequent zu Ende geführt wurde und Macron zur Durchsetzung seiner Rentenreform zu präsidial-autoritären Mitteln Zuflucht nehmen musste.
Als Revolutionär:innen können wir uns aber nicht mit der bloßen Verteidigung eines Status ante quo und ansonsten dem Verweis auf eine künftige menschenwürdigere Gesellschaft begnügen, sondern es gilt, Vorschläge zum Ausbau von Positionen zu machen, die geeignet sind, die Arbeiter:innenbewegung wieder in die Offensive zu bringen.
Diese Forderungen können nur mittels Installation von Arbeiter:innenkontrolle durchgesetzt werden. Sie bedürfen der tatkräftigen Propagierung und Mobilisierung durch bestehende und noch zu schaffende Aktivist:innenformationen vor allem aus dem gewerkschaftlichen Bereich, die sich nicht nur mit ökonomischen Netzwerken zufrieden-, sondern sich auch eine politische Form geben und über den Aufbau einer revolutionären Partei klar werden müssen.