Arbeiter:innenmacht

Bundesverfassungsgericht bremst Haushalt aus – Fiskalkrise droht

Jürgen Roth, Infomail 1238, 1. Dezember 2023

Wegen der Notfallsituation in der Coronapandemie hatte der Bund seinen Etat 2021 per Kreditermächtigung um 60 Mrd. Euro aufgestockt. Da das Geld nicht gebraucht wurde, sorgte die Zustimmung des Bundestags ein Jahr später für die Aufstockung des Klimatransformationsfonds (KTF) um diese Summe. 197 Unionsabgeordnete reichten daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie dadurch die Ausnahmeregeln der sog. Schuldenbremse verletzt sahen. Dessen Zweiter Senat gab ihnen am 15. November recht.

Ende aller Schattenhaushalte?

Bis 2027 ist der KTF mit 211,8 Mrd. Euro ausgestattet. Unmittelbar dürfte sich die Lücke von 60 Mrd. nicht auswirken. Aus dem Fonds fließen Subventionen in Elektromobilität, Wasserstoffwirtschaft, Ausbau der Schienenwege, Ansiedlung von Halbleiterchipfabriken, Strompreisbremse und energetische Gebäudesanierung. Unionsfraktionschef Friedrich Merz kündigte aber bereits an, auch die Rechtmäßigkeit des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu prüfen. Allerdings müsste er das dann auch im Fall des 2022 von seiner Fraktion mit verabschiedeten Sondervermögens für die Bundeswehr hinterfragen. Die Staatsräson verbietet es ihm wohl.

Von Einsparungen im kommenden Haushaltsjahr bleibt denn auch lediglich Einzelplan 14 verschont. Im Gegenteil: Der Wehretat wurde um 1,7 Mrd. auf fast 52 Mrd. Euro erhöht, zuzüglich 19,2 Mrd. aus besagtem Sondervermögen, mit dem die Regierung ebenfalls die Schuldenbremse ausgetrickst hatte. Diese Summe von 71 Mrd. Euro ist fast doppelt so hoch wie nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation 2015. Im aktualisierten Haushaltsentwurf wurden die Mittel für die Ukraine-Waffenhilfe auf 8 Mrd. Euro verdoppelt. Vor dem Hintergrund, dass die USA – das mit Abstand größte Geberland – ihre Hilfe reduzieren müssen, weil Israel einen enormen Bedarf geltend macht und die Ukraine-Hilfe im eigenen Land immer unpopulärer wird, stockt auch Frankreich seine Unterstützungszahlungen auf, damit die Ukraine nicht weiterhin mehr Granaten verschießt als nachproduziert werden können.

Dass das BVerfG-Urteil „der gesamten Finanz- und Haushaltsplanung der Bundesregierung die Grundlage“ entziehe, gerät somit mehr zum Wunschdenken der Union. Gesine Lötzsch von der Linksfraktion vermutet denn auch, ihr sei es weniger um die Einhaltung der Schuldenbremse gegangen als um eine bessere Begründung für Sozialkürzungen, z. B. beim Bürgergeld.

Merz’ Einlassungen muten auch deshalb heuchlerisch an, weil er zu erwähnen „vergisst“, dass die vier Merkel-Kabinette über zwanzig Mal in die Trickkiste der Schattenhaushalte gegriffen haben.

Unmittelbare Konsequenzen aus dem Urteil

Das BVerfG hatte die Ampelkoalition gleich dreifach gerügt: Erstens habe die Bundesregierung unzureichend argumentiert, was Coronakrise, mit der die Haushaltsnotlage seinerzeit begründet wurde, und Klimaprogramme miteinander zu tun hätten; zweitens könne man Notlagenkredite nicht einfach für andere Zwecke umwidmen; drittens sei der Beschluss zu spät gekommen und es müsse vor Jahresende ein Nachtragshaushalt beschlossen werden.

In erster Konsequenz wurde die finale, sog. Bereinigungssitzung des Bundestagshaushaltsausschusses vom 1. Dezember 2023 um eine Woche verschoben. Da dem „Klimatopf“ vorerst bis 2027 nur weniger als ein Drittel der zugedachten Mittel fehlen, will das Kabinett Prioritäten setzen: 2024 werden wohl Gelder für den Austausch alter Heizungen ebenso zur Verfügung stehen wie für klimafreundlichen Neubau und die Wohneigentumsförderung für Familien. Klimapolitisch wären natürlich die Sanierung des Wohnbestands und der Wegfall des Neubaus von Einfamilienhäusern weit zweckmäßiger, aber darum geht es ja beim ganzen Zirkus nicht, sondern um die Subventionierung größtmöglichen Profits. Darum Neubau, darum technologische Vorherrschaft mittels Wasserstoffstrategie, darum kleinteilige Einzellösungen (Wärmepumpen, Wasserstoffheizung) statt gesamtgesellschaftlichem Plan (z. B. Ausbau von Fernwärme). Ab 2025 könnten dann einige Programme wegfallen oder gekürzt werden.

Weitreichendere Folgen? Vertagt!

Das Gericht prüft aktuell den Umgang mit Sondervermögen. Dem Prinzip der Jährigkeit zufolge dürfen sie nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Allein der Bund hält aktuell 29 (!) Schattenhaushalte im Volumen von mehreren 100 Mrd. Euro. Auch einige der Länder können diese Kriterien nicht einhalten und gelten somit als ebenfalls gefährdet.

Jüngst hat das Bundesfinanzministerium die sog. Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre gesperrt. Zweifelhaft bleibt, ob unter diesen Umständen die Halbleiterchipfabriken in Dresden und Magdeburg errichtet werden. Es erheben sich bereits mahnende Stimmen, so die von Jens Südekum (Uni Düsseldorf), der die schon vor dem Urteil existierende „Investitionskrise“ angesichts der Alterung der Gesellschaft und der Wirtschaftspolitik der USA, die riesige Investitionen am eigenen Standort fördere (Inflation Reduction Act), ins Blickfeld rückte. Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars P. Feld hält für 2023 die Notlage gerechtfertigt. DIW-Expertin Claudia Kemfert bevorzugt einen „Dreiklang“ der Transformation: „Ausgaben in Nicht-Zukunftsbereichen kürzen. Ausgaben des KTF auf den Prüfstand stellen. Schuldenbremse aussetzen.“

Unter dem Eindruck auch dieser Debatten beschloss die Ampel vor Wochenfrist die Vertagung des Haushalts für 2024. Sie will ihn rechtssicher machen, bevor es zur Verabschiedung kommt – möglicherweise nicht mehr im laufenden Jahr. Liegt zu Jahresbeginn keiner vor, wären nur Ausgaben für die Aufrechterhaltung der Verwaltung und die Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen möglich. Lindners Ressort kann in der Praxis jedoch weitere Mittel bewilligen. Kurzfristig sehen viele bürgerliche Ökonom:innen darin kein Problem. Mittelfristig teilen sich aber die Meinungen zwischen Anhänger:innen einer Reform der Schuldenbremse und Verankerung von Sonderfonds und Sparaposteln wie Merz, der zum Verzicht auf Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz und höheres Bürgergeld auffordert.

Lindner will den Nachtragshaushalt für 2023 bis Ende nächster Woche vorlegen. Um in diesem Jahr bereits benutzte Kredite rechtlich nachträglich abzusichern, wird die Bundesregierung dem Parlament zügig vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu erklären. Darunter fallen ca. 45 Mrd. Euro für die Energiepreisbremse aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (43,2 Mrd.) und Flutopfer aus dem Ahrtal (1,6 Mrd.). Voraussetzung bleibt, dass der Bundestag zum vierten Mal nacheinander die Schuldenbremse aussetzt. Dies wurde in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen der Coronakrise und des Ukrainekrieges auf die deutschen Staatsfinanzen begründet. In diesem Jahr entdeckte das Kabinett die Notlage allerdings erst, als es vom Verfassungsgericht mit der Nase auf seine eigenen Unzulänglichkeiten gestoßen wurde.

Zerrüttete Staatsfinanzen: Was geht uns das an?

Anfang des neuen Jahres werden wir einen fiskalischen Streit erleben, der an US-amerikanische Verhältnisse erinnert. Zur Mehrfachkrise aus Krieg, Rezession, Inflation, Klimawandel und Migrationsabwehr kann sich also eine der Staatsfinanzen hinzugesellen. Dass dies nicht ohne Auswirkung auf den Sozialetat bleiben wird, deutet sich schon an. Ebenfalls wird sich das Gejammer über leere Kassen der Länderhaushalte durch die vom BVerfG ausgelöste Fiskalkrise in der laufenden Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Bundesländer zum Wutgeheul seitens der Herrschenden steigern. Insofern können klassenbewussten Arbeiter:innen Ursachen und Gegenmaßnahmen der Haushaltsmisere nicht egal bleiben. Sie müssen sich dabei aber von Anfang an vom Grundsatz leiten lassen: Wir zahlen nicht für eure Krise!

Doch wie stehen wir zu grundsätzlichen Vorschlägen aus dem bürgerlichen Lager, was die Schuldenbremse betrifft? Ist sie eine selbstgemachte Schranke fürs Florieren der Wirtschaft? Kann sie mit einem parlamentarischen Akt nichtig gemacht werden? Was bedeutet das weltwirtschaftliche Umfeld des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt für die Staatshaushalte und sonstige Verschuldung? Und wie stehen eigentlich die Spitzen der Gewerkschaften, von SPD und DIE LINKE zur Schuldenbremse?

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns mit diesen Fragen befassen und ein Aktionsprogramm zur Gegenwehr skizzieren.

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