Arbeiter:innenmacht

Das Ende der Ära Rutte und die Dilemmata der niederländischen Linken

World Economic Forum from Cologny, Switzerland, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Fabian Johan, Neue Internationale 278, November 2023

Das niederländische Kabinett stürzte im Juli letzten Jahres aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten zwischen den regierenden Parteien der Koalition über die Migrationsfrage. Infolgedessen werden in den Niederlanden am 22. November Parlamentswahlen stattfinden, um eine neue Regierung zu wählen.

Mark Rutte, der die Niederlande dreizehn Jahre lang mit der VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) regiert hat, hat angekündigt, dass er bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten wird. Mit seinem Rückzug gehen 13 Jahre Rutte zu Ende und die politischen Karten in den Niederlanden werden neu gemischt.

Die Ära Rutte

Er, der bisher der bevorzugte Führer der niederländischen Bourgeoisie war, hat immer im Interesse der großen Konzerne, Banken und kapitalistischen Institutionen und nicht in dem der Arbeiter:innenklasse regiert. Für die arbeitende Bevölkerung hat Rutte eine schwierige Situation herbeigeführt, die durch unbezahlbaren Wohnraum, Teilprivatisierungen des Gesundheitssystems, unsichere Arbeitsplätze, ein sinkendes Bildungsniveau und sehr hohe Lebenshaltungskosten gekennzeichnet ist. Für die großen Banken, die Superreichen und die multinationalen Konzerne hingegen hat er Steuererleichterungen eingeführt, das Arbeitsrecht liberalisiert und ein günstiges Geschäftsklima für die Bourgeoisie geschaffen. In der Europäischen Union trieb er neoliberale Reformen voran, die die Macht weiter in den Händen des Monopolkapitals zentralisieren.

Doch warum ist Ruttes Zeit abgelaufen? Sein viertes Kabinett (von nun an Rutte IV) bestand aus einer Koalition von vier Parteien, der VVD (Volkspartij Voor Vrijheid en Democratie), D66 (Demokrat:innen 66), ChristenUnie (CU; Christ:innenunion) und Christen Democratisch Appèl (CDA; Christlich-Demokratischer Aufruf). Das Kabinett war von Anfang an instabil, seine Bildung dauerte mehr als 299 Tage und es gab viele interne Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Niederlande am besten regiert werden sollten. In der ursprünglichen Koalitionsvereinbarung waren die wichtigsten Punkte, die das Kabinett einte, eine 55 %ige Verringerung der CO2-Emissionen bis 2023, eine Verringerung des Stickstoffausstoßes, die Abschaffung der Vermieter:innensteuer, eine stärkere Regulierung des liberalisierten Wohnungssektors, eine Erhöhung des Mindestlohns um 7,5 % und mehr Geld für das Militär. Das letzte Versprechen hielt Rutte IV am treuesten, denn die niederländische Regierung unterstützte das ukrainische Militär in großem Umfang mit Ausrüstung, Panzern, Kampfjets und militärischer Ausbildung. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Löhne zwar erhöht, aber nur aufgrund von Streiks der Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft (NS) und anderer Beschäftigter im Verkehrssektor.

Rassismus und Rechtspopulismus

Am meisten versagt hat Rutte IV bei der Behandlung von Flüchtlingen und Asylbewerber:innen. Die Kriege in Syrien, Afghanistan, im Irak, Jemen und der Ukraine haben dazu geführt, dass Millionen von Menschen aus ihrem Land fliehen mussten. Flüchtlinge, die Monate und Jahre unter entsetzlichen Bedingungen auf der Flucht vor dem Krieg verbrachten, kamen in die Niederlande und mussten feststellen, dass die Bedingungen hier nicht viel besser sind. Keines von Ruttes Kabinetten hat nennenswert in die Verbesserung der Einrichtungen für Asylbewerber:innen investiert. Dafür mobilisierte aber die Rechte. Wenn die Regierung den Bau einer neuen Einrichtung ankündigt, kommt es häufig zu rechten Hasskampagnen gegen Migrant:innen. In einem Fall wurde sogar ein Hotel, das in eine vorübergehende Flüchtlingsunterkunft umgewandelt werden sollte, von örtlichen Faschist:innen niedergebrannt.

Zwischen 2019 und 2023 organisierten Großbäuer:innen zudem massive Proteste, bei denen sie mit Traktoren durch Den Haag fuhren, um sich gegen Umweltvorschriften zu wehren, die von ihnen eine Verringerung der Produktion verlangen würden. Diese Proteste wurden von FvD-, JA21- und PVV-Mitgliedern gut besucht und erhielten erhebliche Unterstützung von Menschen in kleineren Städten und auf dem Land (FvD: Forum für Demokratie; JA21: Partei in Nordholland; PVV: Partei für die Freiheit). Die großkapitalistische Agrarindustrie finanzierte die Gründung der Bürger:innen-Bäuer:innen-Bewegung (BBB), die der politische Ausdruck der reaktionären Bäuer:innenproteste ist und bei den nächsten Parlamentswahlen voraussichtlich 13 bis 16 Sitze erringen wird. Mit dem Rechtsruck der VVD wollte man die Stimmen der rechtsextremen Anhänger:innen von FvD, PVV, JA21 und BBB auf sich ziehen.

Mögliche Ergebnisse

Doch ein Sieg der VVD ist keineswegs sicher. Zur Zeit konkurrieren in den Umfrage drei Parteien darum, wer stärkte Fraktion im 150 Abgeordnete umfassenden Parlament wird: die VVD, die NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Sozialvertrag) oder die gemeinsame Liste von PvdA/GL (Arbeiter:innenpartei/Grün-Links) liegen in den Umfragen vorn und könnten 25 bis 30 Sitze erreichen. Alle drei wären im traditionell zersplitterten Parlament – zur Zeit sind darin 17 Parteien vertreten – auf Mehrparteienkoalitionen angewiesen, was an sich nichts Neues in den Niederlanden ist. Aber es wird komplizierter aufgrund der Umgruppierungen im bürgerlichen Lager.

Traditionell geben die Konservativen, die nicht für die VVD stimmen, ihre Stimme der CDA, einer christlichen Partei der Mitte-Rechts-Bewegung. Die CDA hat eine starke Basis in den kleineren Städten und Dörfern sowie in einem Teil der niederländischen Bourgeoisie. Infolge der Kabinettskrise hat sich die CDA gespalten. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich dem eher rechtsgerichteten BBB an und treten bei den kommenden Wahlen als Kandidat:innen an. Eine große Gruppe Gemäßigter um das ehemalige CDA-Mitglied Pieter Omtzigt gründete die NSC, die versucht, der christlich-demokratischen Politik der CDA neues Leben einzuhauchen.

Obwohl sich die NSC für die soziale Sicherheit und Wiederherstellung des Vertrauens in die Regierung einsetzt, ist ihre Migrationspolitik genauso rechts wie die der VVD. Die Umfragen zeigen, dass die VVD, die NSC und die BBB zusammen zwischen 60 und 65 Sitze im Parlament erhalten könnten. Das gibt ihnen die Flexibilität, die anderen rechten Parteien auszuwählen, die mit ihnen eine Koalition eingehen.

Ein mögliches und sehr wahrscheinliches Ergebnis der Parlamentswahlen im November sind also große Siege für die Rechte. Obwohl er sich als Beschützer der sozialen Sicherheit, der Renten und der Arbeitsplätze positioniert, werden Pieter Otmzigt und die NSC nicht in der Lage sein, eine massive Sparwelle aufzuhalten, die darauf abzielt, alles zu privatisieren und einen autoritären Staat zu schaffen. Migrant:innen, Flüchtlinge und Asylbewerber:innen werden die ersten Opfer dieser Regierung sein und keine Verbesserung ihrer Situation im Vergleich zu ihrem Heimatland erleben.

Das andere mögliche Ergebnis ist ein Wahlsieg von PvdA-GroenLinks, die bei den Wahlen auf einem einzigen Ticket antreten. Seit Anfang der neunziger Jahre ist die niederländische Arbeiter:innenpartei (PvdA) nach rechts gerückt und hat ihre früheren linken Positionen aufgegeben.

Diese Veränderungen ermöglichten es ihr, in Ruttes zweitem Kabinett mitzuwirken und im Namen der Bourgeoisie zu regieren. PvdA-Führer:innen erhielten hochrangige Ministerposten und wurden mit der Drecksarbeit betraut, Ruttes Sparmaßnahmen durchzuführen, insbesondere im Bildungs- und Wohnungswesen. Im Jahr 2017 schnitt die PvdA bei den Wahlen schlecht ab und verlor viele Parlamentssitze. Dies war auf jahrelanges Missmanagement während der Regierungszeit mit der VVD zurückzuführen. Sie hat keine Perspektive, den Kapitalismus zu beenden oder die Arbeiter:innenklasse an die Macht zu bringen. Die PvdA ist also eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die kapitalistisch geprägt ist und ein bürgerliches Gesellschaftssystem verteidigt, deren soziale Basis aber die Arbeiter:innenklasse bildet.

GroenLinks hat eine etwas andere Geschichte, folgte aber einem ähnlichen Rechtsruck wie die PvdA in den 90er und 2000er Jahren. Im Jahr 1990 schlossen sich die ehemalige Kommunistische Partei (CPN), die Pazifistische Sozialistische Partei und zwei fortschrittliche christliche Parteien zu GroenLinks zusammen. Die progressiven christlichen Parteien, aus denen sich GroenLinks zusammensetzte, dominierten ihr Programm. In den 2000er Jahren bewegte sich GroenLinks weiter in Richtung Mitte und positionierte sich als liberale Partei und vertrauenswürdige Partnerin. Genau wie die PvdA war GroenLinks eine Juniorpartnerin der niederländischen Bourgeoisie und stimmte häufig für Gesetze, die die soziale Sicherheit, die Renten und Arbeit„nehmer“:innenrechte einschränkten. Die Partei hat in der Vergangenheit mit der VVD zusammengearbeitet, deren Standpunkte unterstützt und eine opportunistische Haltung eingenommen.

Den Umfragen zufolge ist es durchaus möglich, dass die PvdA-GroenLinks als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen wird. Die PvdA-GroenLinks-Allianz wird von Frans Timmerman angeführt, der an der Spitze der Europäischen Kommission stand und einer der Hauptverantwortlichen für den europäischen Green New Deal war. PvdA-GroenLinks hat ein Reformprogramm, mit dem einige der Probleme angegangen werden sollen, die in 13 Jahren Rutte entstanden sind, z. B. Klimawandel, Wohnungskrise, teure Gesundheitsfürsorge, hohe Verschuldung von Student:innen, verstärkter Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, Erhöhung des Mindestlohns.

Sollte die PvdA-GroenLinks die Wahl gewinnen, müsste sie eine Koalition mit Parteien des bürgerlichen Zentrums oder sogar mit den Rechten bilden, um zu regieren. Damit wären ihre Reformversprechen gleich zu Beginn kassiert.

Sozialistische Partei (SP)

Die Sozialistische Partei bleibt die fortschrittlichste Partei und hat Verbindungen zur Arbeiter:innenbewegung. Sie ist in den 1970er Jahren aus der maoistischen Bewegung hervorgegangen, wandelte sich jedoch zur einer reformistischen Partei. 1994 gab sie den Marxismus ganz auf. Die Führer:innen der SP sehen sich selbst eher als linke Sozialdemokrat:innen denn als revolutionäre Sozialist:innen. Sie betrachten den Sozialismus als eine Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und formulieren ihre Politik eher in ethischen als in politischen Begriffen. Die SP ist somit eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die zwar bedeutende Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse erhält, deren Führung und Organisation aber strukturell auf das kapitalistische System ausgerichtet ist.

Deutlich lässt sich das an ihrer problematischen Position zur Migration zeigen, die sie schon seit den 1980er Jahren vertritt. Die SP fordert Einwanderungskontrollen, die ihrer Ansicht nach die Rechte der Lohnabhängigen schützen und die ungeregelte Einwanderung einschränken würden. Anstatt für Einwanderungskontrollen einzutreten, sollte die SP dazu aufrufen, die Migrant:innen zu organisieren und die Gewerkschaftsbewegung ermutigen, den Kampf für ihre Rechte anzuführen. Die SP vertritt außerdem eine euroskeptische Haltung und möchte die Herrschaft der „nicht gewählten Bürokrat:innen in Brüssel“ beenden und die Entscheidungsgewalt in den Händen der niederländischen Regierung konzentrieren.

Die SP vertritt zugleich fortschrittliche Positionen zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungsbau, zur Studienfinanzierung, zur Verstaatlichung von Versorgungs- und Verkehrsbetrieben und zur Besteuerung von Superreichen und Großkonzernen.

Obwohl die Partei keine formale Beziehung zum größten Gewerkschaftsverband, dem FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), hat, sind viele niederländische Gewerkschafter:innen in der SP aktiv und stimmen für sie. Ihr derzeitiger Vorsitzender, Tuur Elzinga, vertrat die SP von 2006 bis 2017 in der Ersten Kammer des Parlaments. Die SP führt häufig Kampagnen der Gewerkschaften im Parlament durch, wie z. B. die Voor14-Kampagne, die einen Mindeststundenlohn von 14 Euro anstrebte (und inzwischen durch eine Kampagne für einen 16-Euro-Stundenlohn ersetzt wurde). Wir empfehlen eine kritische Stimmabgabe für die SP bei den Wahlen am 22. November.

Wir lehnen jede Beteiligung der SP an einer bürgerlichen Koalitionsregierung ab, auch an einer von PvdA-GroenLinks geführten. Stattdessen sollte SP, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegen die nächste bürgerliche Regierung und deren Angriffe mobilisieren.

Rolle der Gewerkschaften

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen ist es von entscheidender Bedeutung, die Gewerkschaftsbewegung in den Niederlanden zu stärken. In den Jahren 2022 und 2023 gab es einige groß angelegte Streiks im Verkehrs- und Gastgewerbesektor. In Schiphol (Flughafen Amsterdam) organisierten die Gepäckarbeiter:innen und das Sicherheitspersonal im April 2022 einen Streik, der zur Streichung von Flügen und zur Schließung des gesamten Flughafens führte. Die Gewerkschaft FNV unterstützte den Streik zunächst nicht, übernahm dann aber im Sommer die meisten Forderungen und erreichte erhebliche Verbesserungen des Tarifvertrags (CAO; Kollektives Arbeitsabkommen), der für alle Beschäftigten in Schiphol gilt. Später im November organisierten die Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft NS Streiks, durch die der Zugverkehr für einige Tage vollständig eingestellt wurde. In der Folge erreichten sie enorme Lohnerhöhungen, inflationsbereinigte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl nur etwa 15 % der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, zeigen diese Streiks, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gewinnen können, wenn sie aktiv werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die niederländische Gewerkschaftsbewegung aufzubauen und insbesondere die Organisation der Basis zu stärken.

Die vergangenen neoliberalen Regierungen sowie alle derzeitigen linken und rechten Parteien haben von „Teilhabe“ gesprochen. Wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist nur durch einen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und die Organisation der Massen in Arbeiter:innenräten möglich. Nur wenn die arbeitenden Menschen ihre eigenen unabhängigen Organisationen haben – Räte, Nachbarschaftskomitees, Organisationen der Unterdrückten (d. h. Frauen, trans Personen, Migrant:innen, nationale Minderheiten) und von Mitgliedern geführte Gewerkschaften – können sie wirklich an der Gesellschaft teilhaben. Um eine radikale Transformation der Niederlande in der Nach-Rutte-Ära zu gewährleisten, müssen wir linke Organisationen aufbauen, die es den Arbeiter:innen ermöglichen, echte Macht auszuüben und die Kräfte zum Sturz der niederländischen Bourgeoisie vorzubereiten. Dies erfordert einen revolutionären Angriff nicht nur auf die niederländische Bourgeoisie, sondern auf das gesamte internationale kapitalistische System.

Ein Schlüsselelement für den Bruch mit dem Kapitalismus ist ein revolutionäres sozialistisches Programm, das die aktuellen Kämpfe der Arbeiter:innen mit dem langfristigen Ziel der sozialistischen Transformation verbindet. Dazu ist eine revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse in den Niederlanden notwendig, die Teil eines größeren Kampfes für eine vereinigte sozialistische Föderation Europas wäre.

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