Arbeiter:innenmacht

Ein Schritt in die richtige Richtung: Zero Covid!

Markus Lehner, Neue Internationale 253, Februar 2021

Die Corona-Pandemie mit ihren bisher weltweit über 2 Millionen Toten ist sicherlich die gefährlichste sich schnell verbreitende globale Epidemie seit der Spanischen Grippe. Diese forderte am Ende des Ersten Weltkriegs mehr Todesopfer als der gesamte grausame Krieg zuvor. Sie breitete sich in insgesamt 4 Wellen über alle Kontinente aus, um am Ende alle mehr oder weniger schwer zu treffen – allein in Indien soll die Todesrate über 6 % gelegen haben. Damals dauerte es über ein Jahrzehnt, bis ein Impfstoff gegen Grippeviren vom Typ A gefunden wurde. Nach dem Höhepunkt 1918/19 brauchte es noch bis spät in die 1920er Jahre, bis die Epidemie ausklang -, um davor noch viele Todesopfer zu fordern!

Insofern ist die Geschwindigkeit, mit der diesmal ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden wurde, ein entscheidender Vorteil gegenüber der damaligen Situation. Allerdings lehrt diese Erfahrung auch, dass sich ein hochinfektiöses, global ausbreitendes Virus auch nur global ausrotten lässt – und die Geschwindigkeit dabei ein entscheidender Faktor ist. Einerseits: Solange es noch Weltregionen gibt, in denen das Virus unkontrolliert ausbrechen kann, ist es immer wieder gut für eine neue globale „Welle“. Andererseits: RNA-Viren wie Corona mutieren aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit sehr schnell. Dies führt nicht nur zu einem Wettrennen mit der Zeit, um rechtzeitig einen Impfstoff zu entwickeln, sondern wird uns auch in den kommenden Jahren immer wieder vor das Problem stellen, einen neuen Impfstoff gegen eine neue Variante des Virus komponieren zu müssen.

Keine Entwarnung

Dies liegt vor allem daran, dass eine breit eingesetzte Impfung einen Entwicklungsdruck auf das Virus ausüben und gerade die Virusvarianten, welche immun gegen den breitflächig eingesetzten Impfstoff sind, selektieren wird. Diese können sich dann im Verborgenen erneut aufbauen, bis es zu einer neuen Infektionswelle kommen wird. Dies sehen wir jedes Jahr in Form der Influenza (Grippe), gegen die unter hohem logistischen Aufwand ein neuer Impfstoff gezüchtet und appliziert werden muss. Das Gleiche kann uns im Kampf gegen Corona ebenfalls bevorstehen. Die Warnungen der VirologInnen verweisen darauf, dass eine kontinuierliche Beobachtung der Virusveränderung dringend geboten ist, um den Impfstoff schnell dahingehend verändern zu können, wenn die Impfung mit dem alten nicht mehr greifen würde.

Die Schnelligkeit der Entwicklung von Impfstoffen sollte daher nicht zu der Illusion führen, dass damit das Virus „besiegt“ sei. Erstens muss natürlich betont werden, dass ihre kurze Testphase weder ausreichend über medizinische Nebenfolgen Auskunft gibt noch über die tatsächliche Wirksamkeit des Impfschutzes (sowohl was den Schutz vor Erkrankung als auch die Infektiösität betrifft). Die Verimpfung stellt daher ein kalkuliertes Risiko dar, das mit den Gefahren der Weiterverbreitung des Virus abgewogen werden muss und auch weitere gesellschaftlich kontrollierte Überprüfungen der Wirkungsweise der Impfstoffe erfordert.

Zweitens wurde global gesehen die Kontrolle über die Produktion der Impfstoffe weitgehend großen Pharmakonzernen überlassen, die Geschwindigkeit und Ausmaß der Produktion ihrer Kostenkalkulation und damit ihren Profitinteressen unterordnen. Damit ergibt sich sogar in den „reichen“ Ländern eine viel zu geringe Geschwindigkeit der Lieferung von Impfstoffen, aber auch eine noch viel geringere und verzögerte Lieferung für den „globalen Süden“. Drittens: Da somit vor Ende 2022 nicht mit einer globalen „Durchimpfung“ zu rechnen ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass bis dahin gefährlichere Mutationen des Corona-Virus aufgetreten sind, die dann die Pandemie weiterhin am Leben erhalten. Schon jetzt gibt es eine große Zahl, die in bestimmten Formen weitaus ansteckender zu sein scheinen (ob sie auch tödlicher sind, ist derzeit noch in Untersuchung) und bei denen nicht abschließend geklärt wurde, ob die derzeitigen Impfstoff weiterhin ihre hohe Wirkung zeigen.

Zweite Welle

Wir befinden uns derzeit in der zweiten Welle der Pandemie – und wie bei der spanischen Grippe ist diese weitaus tödlicher als die erste. Dies zeigt sich auch in Deutschland bei der Auswertung der Übersterblichkeitsstatistik, die Ende letzten Jahres fast ein Drittel über dem Durchschnitt lag. Auch wenn man Alterseffekte und andere Ursachen herausrechnet, ist das Bedrohungspotential insbesondere für ältere Menschen eindeutig. Auch scheinen inzwischen die Mutationen des Virus für jüngere Menschen und Kinder bedrohlichere Krankheitsverläufe zu bewirken.

Eine dritte Welle mit möglicherweise gefährlicheren Formen des Virus sollte daher unbedingt verhindert werden – und aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Impfung alleine dagegen nicht ausreichen wird! Wenn wir die Selektion der „überlebenswerten“ PatientInnen (wie jetzt schon wieder z. B. in Portugal) oder das Sterben vor den Toren von Kliniken, die nicht mal mehr Betten für Schwerkranke haben (wie jetzt z. B. in Manaus in Brasilien) vermeiden wollen, braucht es eine wirksame internationale Strategie zur Pandemiebekämpfung!

Deren bisherigen Methoden können in drei Typen zusammengefasst werden. Geschwindigkeit und Ausmaß von Neuinfektionen hängen natürlich davon ab, wie viele noch nicht betroffene Menschen durch Kontakt mit VirenträgerInnen infiziert werden können. Sind etwa 70 % der Bevölkerung „immun“ (entweder durch Impfung oder, sofern die Antikörper durch Erkrankung noch vorhalten), so zeigt einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die Zahl der Neuinfektionen so gering wird, dass das Virus einfach keine/n neue/n WirtIn mehr findet und damit verschwindet. Damit ist die berühmte „Herdenimmunität“ erreicht. Damit diese bei einer Pandemie eintritt, muss dies allerdings für 70 % der Weltbevölkerung gelten. Für neuere, infektiösere Mutanten wie die aus Großbritannien, Südafrika oder Brasilien würde eine Herdenimmunität jedoch schwerer zu erreichen sein. Die vielzitierten 70 % würden dann nicht mehr ausreichen.

Herdenimmunität

Der erste Typ der Pandemiebekämpfung ist daher, durch Verbreitung des Virus so schnell wie möglich „Herdenimmunität“ zu erreichen (wenn außer Acht gelassen wird, dass Personen nicht von neuen Varianten erneut angesteckt werden können oder mit der Zeit ihre Immunität verlieren). Letztlich war dies die „Strategie“ im Fall der Spanischen Grippe, womit das Virus nach etwa 10 Jahren verschwand bzw. durch „normale“ Grippeviren ersetzt wurde. Bei Corona ist die Geschwindigkeit der Verbreitung offensichtlich langsamer, so dass diese Strategie hier sehr viel länger brauchen würde. Bekanntlich wurde sie in Europa (kein Lockdown, aber mit Schutzmaßnahmen für „vulnerable Gruppen“) nur von Schweden versucht: Während nicht mal 5 % Immunität erreicht wurde, war die Todesrate wesentlich höher als in Ländern mit Lockdowns – diese Strategie gilt daher als gescheitert.

Allerdings stellt sie bis heute für eine große Zahl von halbkolonialen Ländern die vorherrschende dar. In den Metropolen des Nordens sieht man zynisch darüber hinweg, was das für die dortigen Gesundheitssysteme bedeutet – und schiebt die Schuld auf „wahnsinnige“ StaatschefInnen wie Brasiliens Bolsonaro oder wiegt sich in Sicherheit aufgrund der niedrigen Fallzahlen, die sich aus mangelhaften Testsystemen vor Ort ergeben. Die Weiterverbreitung des Virus im globalen Süden ist damit vorprogrammiert und untergräbt jede weltweite Strategie zur Pandemiebekämpfung.

Abflachen der Kurve

Nach der Abkehr von der Herdenimmunitätsstrategie in den imperialistischen Ländern ist die vorherrschende dort „das Abflachen der Kurve“. Diese beruht auf der statistisch aus der „Reproduktionszahl“ zu berechnenden Zahlder Neuinfektionen. Die Reproduktionszahl besagt, wie viele nicht immune Personen von einem/r Infizierten während seiner/ihrer aktiven Infektion „im Durchschnitt“ angesteckt werden. Die Geschwindigkeit der Ansteckungen ist durch die Exponentialfunktion an die Reproduktionszahl gebunden. Daher machen schon wenige Unterschiede in den Zahlen hinterm Komma spürbare Effekte beim Anstieg der Neuinfektionen (z. B. gemessen in der Verdoppelungsrate) aus, wenn die Zahl größer als eins ist, oder beim Rückgang der Neuinfektionen (gemessen z. B. in der Halbierungszeit), wenn die Zahl unter eins liegt.

Die „Flatten the curve“-Strategie besteht nun darin, Maßnahmen zu ergreifen, die Anzahl der Neuinfektionen erstmal so zu steuern, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht – also zunächst den Anstieg unterhalb der Grenze der Kapazität an Behandlungsmöglichkeiten (Intensivstationen, Pflegepersonal etc.) zu halten. Dazu muss die Reproduktionszahl Richtung der Eins abgesenkt werden, da ansonsten per exponentiellem Wachstum das Limit mehr oder weniger schnell erreicht wird. Dies kann zumeist nur durch starke Kontaktbeschränkungen wie Lockdowns, Schulschließungen, Maskenpflicht im öffentlichen Raum, Ausgangssperren, wiederholte Massentests, Quarantänemaßnahmen etc. erreicht werden. In einem zweiten Schritt muss die Zahl der Neuinfektionen auf ein Maß gesenkt werden, das eine Rückverfolgung von Infektionsketten und regionale Eindämmung von neuen Ausbrüchen ermöglicht. Dabei kommt es darauf an, wie weit die Reproduktionszahl tatsächlich unter eins gebracht wird. Bei den heute zumeist erreichten Werten der Zahl um die 0,9 dauert aber die Halbierung der Neuinfektionszahlen tatsächlich mehrere Monate. Schon eine Reduktion auf 0,8 würde dies auf wenige Wochen beschränken.

Dies führt auch ins Zentrum der Kritik an der heute vorherrschenden Strategie zur Pandemiebekämpfung. Die Regierungen des „globalen Nordens“ sind letztlich bürgerlich-kapitalistische, die nicht nur die Interessen von Pharma- und Gesundheitskonzernen nicht einmal in Pandemiezeiten anzutasten wagen – sie würden auch nie Maßnahmen ergreifen, die „ihrer“ Wirtschaft, d. h. den Profiten der wichtigsten Kapitalgruppen zuwiderliefen.

Daher ist auch die Strategie der Kurvenabflachung danach ausgerichtet, das öffentliche Leben nur soweit einzuschränken, wie es für die Profitinteressen des Kapitals gerade noch akzeptabel ist. D. h. es werden nicht die konsequenten Schritte zur Senkung der Infektionsausbreitung gesetzt, die notwendig wären, sondern die Reproduktionszahl wird gerade soweit gesenkt, dass das Gesundheitssystem es gerade noch aushält und andererseits „die Wirtschaft“ nicht weitere Wachstumseinbrüche erleidet. Heraus kommt dann ein monatelanger Teil-Lockdown mit immer absurderen Einschränkungen im privaten Bereich bei weitgehender Aufrechterhaltung der Aktivitäten großer Privatbetriebe. Einzig über die (Teil-)Schließungen im Bildungsbereich oder das Ausmaß von „Homeoffice“ werden größere Debatten geführt. Dabei wird deutlich, dass alle diese Maßnahmen nicht die Reduktion der Reproduktionszahl bringen, die tatsächlich zu raschen Halbierungszeiten der Zahl der Neuinfektionen führen würde – und damit zu einer echten Eindämmung von Infektionswellen.

#ZeroCovid

Mitte Dezember 2020 haben daher führende WissenschaftlerInnen auf dem Gebiet der Pandemiebekämpfung in dem einschlägigen Wissenschaftsjournal „The Lancet“ einen Aufruf publiziert, in dem sie einen radikalen Strategiewechsel gefordert haben. Diese dritte Strategie wurde mit dem Label #ZeroCovid versehen und bedeutet, dass durch einschneidende kurzzeitige Maßnahmen (3-4 Wochen) unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche die Zahl der Neuinfektionen soweit gesenkt werden kann (Ziel: nicht mehr als 10 Neuinfektionen pro einer Million EinwohnerInnen pro Tag), dass eine Vermeidung weiterer Infektionswellen erreicht werden kann.

Dazu schlägt der Aufruf entsprechende Testkapazitäten, Nachverfolgungsstrukturen und Quarantäne-Mechanismen im Infektionsfall vor. Es wird dabei auch vorgerechnet, dass ein solcher kurzfristiger Total-Lockdown weitaus weniger kostet als ein langwieriger Teil-Lockdown samt gesundheitlicher Folgeschäden. Die inzwischen oft vorgebrachte Kritik, „zero Covid“ sei gar nicht möglich, da ja das Virus durch diese Strategie nicht völlig verschwinden kann (was erst bei Herdenimmunität möglich ist), geht also ins Leere: Die Strategie ist eine, die für die Zeit, bis Herdenimmunität erreicht wird, das Niveau der Neuinfektionen soweit senkt, dass keine weitere Infektionswelle über das Land schwappt.

Wenn eine Kritik gerechtfertigt ist, dann, dass es sich um ein Programm rein für Europa handelt – und hier um eine Eindämmung durch synchronisierte Maßnahmen in der EU bei Aufrechterhaltung der offenen Grenzen handelt. Eine wirklich wirksame Strategie des „zero Covid“ müsste global koordiniert solche Maßnahmen umsetzen, um tatsächlich eine weitere globale Infektionswelle auszuschalten.

Daneben ist zu dem Aufruf in „The Lancet“ natürlich noch anderes zu bemerken: Die positive Bezugnahme auf China oder Australien, die angeblich erfolgreich auf eine „zero Covid“-Strategie gesetzt haben, ist mehr als fragwürdig. Im Fall von China ist ungewiss, inwiefern die drakonischen und autoritären Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung (im Rahmen der Verhängung von Kriegsrecht über Quarantäneregionen) tatsächlich die behaupteten Erfolge gezeitigt haben. Im Fall von Australien und Neuseeland wurden die Maßnahmen sicherlich nicht unter der Vorgabe von „offenen Grenzen“ durchgeführt. Ein weiterer kritischer Punkt an dem WissenschafterInnen-Aufruf ist natürlich, dass er sehr unkonkret bleibt, woraus die nun notwendigen Shutdown-Maßnahmen denn bestehen sollen.

Schranke Kapitalinteresse

Auch wenn es daher zu begrüßen ist, dass führende WissenschaftlerInnen erkannt haben, dass die von den herrschenden Regierungen in der EU durchgeführten Maßnahmen völlig unzureichend und nicht zielführend sind, so bleiben sie in der Ursachenforschung unterhalb der Erkenntnis, dass dies etwas mit den herrschenden Kapitalverhältnissen in der EU zu tun haben könnte.

Die Reaktion der Kapitalverbände (und wie nicht anders zu erwarten auch der Gewerkschaftsführungen) war trotzdem eindeutig: Eine Lockdown-Strategie, die auch die Privatwirtschaft betreffen würde und die geheiligten Lieferketten unterbricht, wäre völlig unakzeptabel und hätte „unabsehbare“ ökonomische Folgen. So meinte etwa der Präsident des BDI, dass ein Industrie-Shutdown schon von einer Woche zu einem Wachstumseinbruch von 5 % führen würde.

Verschwiegen wird sowohl, dass natürlich auch bei einem Zero-Covid-Shutdown Wirtschaftsbereiche, die für das Überleben notwendig sind, z. B. für Lebensmittelproduktion, weiterarbeiten müssten. Verschwiegen wird auch, dass nach dem ersten Lockdown die Lieferketten, anders als jetzt angedroht, nicht wochenlang wieder für den Anlauf brauchten. Verschwiegen wird natürlich auch, dass die deutsche Industrie momentan gerade im Export mit China wieder Milliardenprofite macht – und dies die Hauptsorge vor einem neuerlichen Lockdown ist, dass diese wieder wegbrechen.

Daher werden auch gerade jetzt wieder in solchen Branchen wie der Automobilindustrie Überstunden gefahren – und wird auf Beschäftigte Druck ausgeübt, jedenfalls zur Arbeit zu kommen und ja nicht sich etwa wegen einer Covid-Erkrankung krankzumelden (wegen der Quarantänefolgen, die das haben könnte). Hier gilt also wieder der volle Einsatz unter Lebensgefahr für „unsere Wirtschaft“, sprich ihre Profite!

Solidarischer Shutdown

Es ist daher eine sehr wichtige und richtige Initiative, dass der WissenschaftlerInnen-Aufruf von „The Lancet“ von der Kampagne „#ZeroCovid“ aufgegriffen und kritisch durch einen Aufruf „Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ erweitert wurde (https://zero-covid.org/). Die InitiatorInnen dieses Aufrufs stammen überwiegend aus linken Organisationen oder sind bekannte progressive WissenschaftlerInnen und Kulturschaffende. Viele Unterzeichnende kommen auch aus Gewerkschaften oder sind aktiv in sozialen Bewegungen. Auch wenn der Aufruf von Menschen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland propagiert wurde und bis zum 25. Januar über 80.000 UnterzeichnerInnen mobilisieren konnte, so läuft er jedoch auch parallel zu ähnlichen Aufrufen in Großbritannien, Spanien und anderen europäischen Ländern.

Im Unterschied zum WissenschaftlerInnenaufruf benennt er auch konkret, dass der Shutodwn auch den Arbeitsbereich betreffen muss: „Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen.“

Hier wird auch ein entscheidender Punkt angesprochen: Die temporäre Stilllegung all der genannten Bereiche darf nicht den Regierungen, Ordnungsbehörden oder Unternehmerverbänden überlassen werden – wir wissen, was sie unter „lebensnotwendigen Arbeiten“ alles verstehen. Sowohl, was die noch weiterarbeitenden Betriebe (vor allem die im Gesundheitsbereich) als auch die Stilllegungen betrifft, müssen die dort Beschäftigten die Kontrolle über diese Maßnahmen übernehmen!

Insofern ist es sehr wichtig, dass der Aufruf auch die Vergesellschaftung des Gesundheitsbereichs, insbesondere die Zurücknahme der Privatisierungen in diesem Sektor fordert. Wenn nach der Erreichung der oben n  genannten Ziele wieder eine Kontrolle über die Pandemie erreicht ist, muss eine Neuordnung des Gesundheitsbereichs, eine Aufstockung der Institutionen stattfinden, die die Infektionen nachverfolgen  – und vor allem auch eine Überführung solcher Kontrollaufgaben weg von Ordnungsbehörden hin zu echten kommunalen Einrichtungen, die unter Kontrolle der dort lebenden Bevölkerung stehen.

Die Reichen müssen zahlen!

Weiterhin sind natürlich auch die Forderungen zur Finanzierung der Folgen des Shutdowns und zur sozialen Sicherung aller von den Maßnahmen betroffenen ArbeiterInnen, kleinen Selbstständigen und prekär Beschäftigten richtig und notwendig. Sie – nicht die großen und kleineren Konzerne – sind es, die vor allem unter der Krise bisher zu leiden hatten -, und denen sicherlich in naher Zukunft die ganze Last der weiteren Kosten noch aufgebürdet werden soll.

Insofern ist es richtig, schon jetzt, gerade durch die Organisierung einer wirksamen Pandemiebekämpfung die Strukturen des Widerstandes gegen die Krisenpolitik des Kapitals aufzubauen. Gerade hier zeigt es sich, wie sehr es notwendig ist, solche Initiativen wie „#ZeroCovid“ mit dem Aufbau von bundes- und europaweit koordinierten Antikrisenbündnissen zu verbinden.

Schließlich ist auch richtig an dem Aufruf, dass trotz der Zielrichtung eines „europäischen Shutdowns“ die Frage der globalen Pandemiebekämpfung klar aufgegriffen wird. Hier wird gefordert, die globale Produktion von Impfstoffen der Kontrolle der Konzerne zu entreißen, ihre Patente zu globalen öffentlichen Gütern zu machen. Allerdings bleibt diese Forderung  inkonsequent formuliert – klarerweise müsste die Stoßrichtung auf eine Enteignung dieser Konzerne und einen globalen Plan zur Herstellung, Verteilung und Verabreichung der Impfstoffe unter Kontrolle von Beschäftigten und Stadtteilen, ländlichen Gemeinden etc. zielen.

Von einer Unterschriftensammlung zur Aktionseinheit

Sicherlich bleibt auch dieser Aufruf in vielen Punkten vage, z. B. wer die AkteurInnen seiner Umsetzung sein sollten. Zwar werden auch die Gewerkschaften aufgefordert, für diese Ziele zu mobilisieren und an vielen Stellen wird von der Kontrolle durch Betroffene oder Beschäftigte geredet. Klar ist auch, dass in den Gewerkschaften solche Forderungen gegen einen Großteil der Führung hart erkämpft werden müssen, dass in den Parteien wie der LINKEN unterschiedliche Interessen vorherrschen, die in Bezug auf solche Forderungen heute positives Aufgreifen, morgen wieder völliges Dementieren erkennen lassen.

Auch wenn es in vielen Teilen der arbeitenden Bevölkerung große Sympathien für die Forderungen gibt, so herrscht doch auch große Angst über die Folgen eines weitergehenden Shutdowns, auch was die eigene soziale Situation betrifft. Daher ist es mit einem Aufruf bei weitem nicht getan. Die zigtausend UnterstützerInnen müssen organisiert werden, Druck in den Gewerkschaften, aber auch Parteien, Kommunen und Medien entwickeln, um diese Forderungen auch tatsächlich zu einer konkreten Option zu machen, die sich vor Ort und in den Betrieben umsetzen lässt. Die begonnene Gründung von Ortsgruppen und Kampagnenstrukturen stellt dazu einen essentiellen, richtigen Schritt dar.

Im Unterschied zu der Situation der letzten Monate, in der es nur die Alternative „Regierungs-Lockdown“ oder Proteste der von der Realität der Pandemie völlig entfernten QuerdenkerInnen, vor allem auch in Verbindung mit der politischen Rechten, gab, bietet der Kampf um den solidarischen Shutdown eine echte linke Perspektive. Er lässt sich nur gegen Kapital und Regierung durchsetzen und erfordert die selbstbestimmte Eigeninitiative von Arbeitenden und von sozialen Härten Betroffenen.

Bei aller Kritik an Mängeln, Fehlern und Leerstellen der Initiative – sie bietet eine Gelegenheit, die wir unbedingt ergreifen müssen, wollen wir nicht vollständig vor der gescheiterten Strategie der Regierenden kapitulieren und hinnehmen, dass die Folgen sowohl gesundheitlich wie ökonomisch dann wiederum der ArbeiterInnenklasse und den armen Teilen der Bevölkerung aufgebürdet werden. Wenn wir jetzt die Initiative ergreifen, werden wir dann im Kampf gegen diese Folgen und die uns sicher noch lange belastende Pandemie wesentlich besser eingreifen können!

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