Arbeiter:innenmacht

Erneuerung der Gewerkschaften – oder des Apparats?

Bild: Simon Zamora Martin, https://www.klassegegenklasse.org/

Mattis Molde, Neue Internationale 274, Juni 2023

Es war die fünfte Konferenz dieser Reihe und von der Teilnehmer:innenzahl, die bei weitem größte. “Gewerkschaftliche Erneuerung“ ist ihr Titel. Die erste dieser Art 2011 in Stuttgart hatte noch „Erneuerung durch Streik“ als Perspektive. Das wäre aber etwas zu dick aufgetragen gewesen, angesichts der Tatsache, dass die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, ver.di bei der Post und im Öffentlichen Dienst mit aller Macht Streiks verhinderten und Reallohnverluste für die nächsten Jahre vereinbart haben.

Abfeiern der Tarifrunden

1700 Teilnehmer:innen in Bochum belegen, dass ein Interesse am Austausch und an einer Diskussion der Zukunft der Gewerkschaften angesichts von Inflation, Krieg und Klimakatastrophe besteht.

Streiks, die mit Erfolgen enden, hätten die Gewerkschaften in Deutschland aber definitiv mehr in Bewegung gebracht, als diese Konferenz.

Bei den großen Tarifrunden im letzten halben Jahr waren Hunderttausende in Warnstreiks und ähnlichen Aktionen beteiligt. Erkämpfte Erfolge gegen die Inflation und Siege gegen Angriffe auf das Streikrecht wären eine reale „better practice“ der Gewerkschaften gewesen, als die vielen kleinen Beispiele von best practice, die in Bochum verklärt wurden. Eine realistische Bilanz der Tarifrunden kam mit ihren zentralen Fragestellungen in Bochum nicht oder kaum vor.

Beim Eröffnungsplenum kam weder bei Hans-Jürgen Urban vom IGM Vorstand, noch bei Heinz Bierbaum, dem Vorsitzenden der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), das Wort Reallohnverlust oder – entwicklung vor. Eine „völlige Kompensation der Inflation“ sei zwar nicht gelungen, so zitierte Bierbaum in dem Beitrag „Gewerkschaftliche Kämpfe im Aufwind“ vor der Konferenz Kritiker:innen aus der IGM. Der folgenden Lobeshymne tat das aber keinen Abbruch:

„Die Resultate, die bislang in den Tarifrunden erreicht wurden, können sich sehen lassen. Den Anfang machte die IG BCE im Oktober letzten Jahres mit einem Abschluss von 6,5 Prozent und einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Etwas höher war der Abschluss der IG Metall im November 2022 mit einer Erhöhung von 8,5 Prozent bei einer zweijährigen Laufzeit und einer Zahlung von 3.000 Euro netto zum Ausgleich der Inflation. Allerdings gab es auch erheblich Kritik an diesem Abschluss. Trotz der massiven Warnstreiks sei die Mobilisierung unzureichend gewesen, so dass auch keine völlige Kompensation der Inflation gelungen sei. Auf der anderen Seite ist der Abschluss auf einen breiten Konsens der Beschäftigten gestoßen. Und man muss auch berücksichtigen, dass die Lage in der Metallindustrie äußerst schwierig ist, verursacht nicht nur durch die schwache Konjunktur, sondern besonders auch durch die tiefgreifenden Transformationsprozesse. Sehr bemerkenswert ist der Abschluss bei der Post, die bei einer Forderung von 15 Prozent neben beträchtlichen Einmalzahlungen mit einer Lohnerhöhung von 340 Euro im Schnitt eine Erhöhung um 11 Prozent erreicht hat, die sogar bei den untersten Lohngruppen noch deutlich höher ausfällt. Offensichtlich haben die erfolgreiche Urabstimmung und die Entschlossenheit, auch zu streiken, ausgereicht, um zu diesem Abschluss zu kommen.“

Dasselbe Abfeiern der Tarifergebnisse gab es auch aus dem Munde von Thorsten Schulten vom WSI, dem Institut der Hans-Böckler-Stiftung in der AG „Tarifrunden in Zeiten von Inflation, sozialem Protest und konzertierter Aktion“. Auch die anderen Redner:innen bemühten sich darum, die Tarifergebnisse schönzureden, einzig Jana Kamischke, Vertrauensfrau und Betriebsrätin am Hamburger Hafen vertrat eine kritischere Position.

In einem solchen politischen Rahmen erhalten die an sich richtigen Aussagen, dass es in Tarifrunden insbesondere bei der Post und im Öffentlichen Dienst eine bemerkenswerte Beteiligung von neuen und jungen Kolleg:innen gegeben hatte, eine andere Bedeutung.

Denn das kritiklose Abfeiern der gestiegenen Aktivitäten bedeutet nichts weiter als eine politische Flankendeckung des Apparates. Und die weitgehende Akzeptanz dieser Politik auf der Bochumer Konferenz verdeutlichen leider, dass es bislang gelungen ist, auch diese gestiegene Kampfbereitschaft in die Bahnen der Kontrolle durch den Apparat zu halten. Die Organisator:innen der Konferenz, die selbst aus dem linken Apparat stammen und politisch den Gewerkschaftsflügel der Linkspartei ausmachen, vergaßen dabei nicht zu erwähnen, dass dies ihren „innovativen“ Methoden geschuldet sei und dass es folglich nötig sei, dass diese linken Apparatschiks eine größere Rolle brauchen für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele mit rechten Bürokrat:innen.

Die „gewerkschaftliche Erneuerung“, so ließen viele Vertreter:innen der RLS und der verschiedenen Organizing-Initiativen verlauten, das sind „wir“. Und mit dem „wir“ meinen sie nicht die gewerkschaftliche Basis, sondern die hauptamtlichen Kräfte und die als Organizer:innen Angestellten, die letztlich den linken Flügel des Apparates, aber keine antibürokratische Kraft bilden.

Kritik an der Gewerkschaftsführung?

Nur in wenigen Beiträgen von den Podien schimmerte eine Kritik an der derzeitigen Orientierung der Gewerkschaften und ihrer Führung durch.

So kritisierte Frank Deppe im Themenseminar „Die Waffen nieder! Gewerkschaften in Kriegszeiten gestern und heute“ die sozialpatriotische Politik der Gewerkschaften und ihre faktische Unterstützung von NATO-Erweiterung und Aufrüstung offen und eine Reihe von Redner:innen forderte unter Applaus, dass diese Konferenz eine klare Positionierung gegen die Politik wie überhaupt eine Abschlussresolution verabschieden solle, die sich gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss mit der Regierung wendet. Doch dabei blieb es auch. Die Organisator:innen der Konferenz hatten nie vorgesehen, dass am Ende der Veranstaltung eine politische Resolution stehen solle, die sie zu einem politischen Handeln verpflichten könnte.

Einigermaßen kritische Töne gegen den Apparat und dessen Legalismus gab es nach Abschluss der Konferenz durch Wolfgang Däubler, der auf die Notwendigkeit des Generalstreiks als politische Waffe gegen die aktuellen Angriffe hinwies.

Bezeichnenderweise hielten diese Beiträge nicht Vertreter:innen der Gewerkschaften, sondern emeritierte Professoren. Sie bildeten letztlich nicht mehr als die kritische Filmmusik zum selbstgefälligen Abfeiern der eigenen „Erneuerung“. So werden Beiträge, die eigentlich konkretisiert und gegen die Bürokratie gerichtet werden müssten, noch zum Beleg für die „Offenheit“ und „Selbstkritik“ der gesamten Veranstaltung.

Kritik an den Apparaten fand insgesamt kaum statt. Wurde in irgendeiner der vielen AGen die Aussage der DGB-Vorsitzenden Fahimi angesprochen, die vor einem halben Jahr gefordert hatte, dass auch Betriebe, die Staatsknete als Energie-Beihilfen erhalten, Boni und Dividenden ausschütten dürfen? Wurde der „Aktionstag“ von IGM, IGBCE und IGBAU skandalisiert, an dem die „bezahlbare Energie“ von der Regierung gefordert wurde – nicht für die Arbeitenden, sondern für die Großunternehmen der Stahl-, Alu und Chemieindustrie? Wo wurde die „Konzertierte Aktion“ angegriffen, als Ausdruck der prinzipiell falschen Sozialpartnerschaft, deren verhängnisvolle Rolle sich gerade in den Tarifkämpfen gezeigt hatte?

Schönreden der Klimapolitik

In der AG 4 „Abseits des Fossilen Pfades“, der tatsächlich noch eine Autobahn, eine Highway to hell ist, bemühte sich Stefan Lehndorf, auch noch jede Alibi-Aktion von Unternehmen, Regierung und IGM schönzureden. So gäbe es „Transformations.Workshops“ in den Betrieben, die durch die Produktumstellung von Arbeitsplatzabbau bedroht seien. Ist Transformation – oder Konversion, wie eine Vertreter der „Initiative Klassenkampf und Klimaschutz“ forderte – der Produktion ein gesellschaftliches Problem oder ein betriebliches? Müssten gerade Gewerkschaften, die sich als „Treiber der Transformation“ sehen (Lehndorf) nicht betriebsübergreifend eine Programmatik und Aktionsplanung haben, anstatt nur betrieblich dem Kapital alternative Produkte vorzuschlagen und es seiner Willkür zu überlassen, ob und wo diese produziert werden?

In dieser AG war immerhin – im Unterschied zu vielen anderen – Diskussion zugelassen, nicht nur Fragen, wie z. B. in der AG 16 (Gegen Betriebsschließungen) oder ergänzende Berichte, wie im Forum zu Tarifrunde Nahverkehr. Wo es mal Kritik gab, wurde diese mit Selbstzensur vortragen oder von den Adressat:innen übergangen.

Beispiel Borbet Solingen: Rund 15 Beschäftigte waren zur Konferenz nach Bochum gekommen und zeigten mit Sprechchören ihre Empörung. Auf dem Podium aber saß neben den neuen Belegschaftsvertretern und Aktivisten Alakus und Cankaya der Geschäftsführer der IGM Solingen-Remscheid, Röhrig, der nichts dazu sagte, warum die IG Metall den früheren Betriebsratsvorsitzenden unterstützt hatte, warum sie ein Jahr lang fruchtlose Verhandlungen mitgemacht hatte, ohne einen betrieblichen Widerstand aufzubauen.

„Lösung“ im Kleinformat

Grundsätzlich lag das politische Problem der Konferenz aber darin, dass der Blick auf die Probleme – und somit auf die möglichen Lösungen – selbst im voraus verengt wurde. Und dies ist kein Betriebsunfalls, sondern gewollt, ja erscheint geradezu als Erfolgsgarant. So heißt es im Artikel „Durch Erneuerung in die Offensive“ von Fanny Zeise und Florian Wilde:

„Zu den Erfolgsrezepten der Konferenzen gehört, dass sie nicht ideologisch-programmatische Fragen zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Herausforderungen der tagtäglichen Gewerkschaftsarbeit und das breit geteilte Bedürfnis nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Dadurch kann sie Anschlussfähigkeit über die klassischen linksgewerkschaftlichen Milieus hinaus erreichen sowie eine gewerkschafts- und generationenübergreifende Ausstrahlung entfalten. Wichtig ist dabei auch, dass kritische Positionen nicht sektiererisch und rückwärtsgewandt, sondern solidarisch, vorwärtsgewandt und im Sinne einer Stärkung der Gewerkschaften formuliert werden.“

Das aktive Verdrängen der „ideologisch-programmatischen“ Fragen ist nichts anderes als ein Codewort dafür, die Kritik an der Gewerkschaftsführung und das Herausarbeiten ihrer Ursachen zu tabuisieren. Die Abgrenzung von angeblichem Sektierer:innentum und Rückwärtsgewandtheit ist nur ein Codewort dafür, keine offene Bilanz der Tarifabschlüsse, von Sozialpartner:innenschaft, Standortpolitik und Klassenkollaboration zu ziehen. Die Gewerkschaftsbürokratie erscheint natürlich längst nicht mehr als Agent der herrschenden Klasse in der Arbeiter:innenbewegung, sondern allenfalls als etwas trägerer Mitstreiter.

Mit der Fokussierung auf „tägliche Gewerkschaftsarbeit“ wird die Praxis nicht nur verengt, die reale Politik, die reale Praxis der Gewerkschaften gerät aus dem Blick. Die gesamtgesellschaftlichten, internationalen politischen und ökonomischen Voraussetzungen des eigenen Handeln, aller betrieblichen wie gewerkschaftlichen Fragen erscheinen allenfalls Nebenfragen. Die Krise der Gewerkschaften erscheint im Grund nur noch als Frage der „kreativen“, dynamischen Umsetzung einer eigentlich richtigen Politik. Die Politik und Strategie der Bürokratie bildet kein zentrale Problem gewerkschaftlicher Erneuerung, sondern vielmehr deren Kritiker:innen, deren angebliches Sektierer:innentum und deren Insistierung politisch-ideologischen Fragen wie Krieg und Wirtschaftskrise, auf Kritik der Bürokratie und der Klassenzusammenarbeit.

Damit stehen die Protagonist:innen und die Organisator:innen der Konferenz real – unabhängig davon, was immer sie von sich glauben – fest auf dem Boden des Reformismus der Linkspartei, irgendwo zwischen Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen. Politisch wurden die ganzen Trugbilder neu belebt, dass im Kapitalismus „Gute Arbeit-gutes Leben“ möglich bleibt, dass die „Transformation sozial und ökologisch“ vonstattengehen könne, und dass die Gewerkschaften wieder stärker werden, wenn sie nur besser „organized“ werden. Und das angesichts der „Polykrise des Kapitalismus“ (Urban).

Kämpferische Gewerkschaften wird es letztlich nur im Bruch mit Bürokratie und ihrer Politik zu haben geben. Das bleibt offensichtlich die Aufgabe von Linken Gewerkschafter:innen, die mit der Veranstaltung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften einen der wenigen politischen Lichtblicke in Bochum veranstaltet haben.

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