Martin Suchanek, Infomail 1222, 9. Mai 2023
Vorweg: Wir verurteilen den reaktionären russischen Angriff auf die Ukraine – und zwar von Beginn an. Wir stehen auf der Seite der russischen Antikriegsbewegung und der ukrainischen Bevölkerung, die die Hauptlast dieses Kriegs trägt.
Wir schicken das vorweg, wohl wissend, dass uns in einem Land der demokratischen Kriegstreiberei und des deutschen NATO-Patriotismus schon allein deshalb der Vorwurf der „Putin-Versteherei“ entgegengehalten wird, weil wir auch die Kriegspolitik und Ziele des Westens bekämpfen.
Und dieser Kampf findet statt – nicht nur mit einem Sanktionsregime und Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch mittels Aufrüstung, Umstellung auf Kriegsproduktion, NATO-Erweiterung. Und er findet natürlich auch auf dem Feld von Ideologie und vor Gerichten statt.
Die Berliner Justiz setzte am 8. Mai ihrerseits ein Zeichen, dass sie bei dieser Konfrontation nicht abseitsstehen will. Auf Antrag der Berliner Polizei erklärte das Oberverwaltungsgericht das Verbot russischer Fahnen, von St.-Georgs-Bändern und -Fahnen sowie das von Flaggen der Sowjetunion (!) am 8./9. Mai für rechtens.
Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das Fahnenverbot noch für rechtswidrig erklärt. Doch die höchste Instanz hob diesen Entscheid auf Antrag der Polizei Berlin auf, weil die Flaggen als „Sympathiebekundung für die Kriegsführung (Russlands; Anm. d. Red.) verstanden werden“ könnten und „Gewaltbereitschaft“ vermitteln würden.
Dass russische Fahnen für einige Träger:innen auch eine Sympathie für Putin zum Ausdruck bringen, mag ja sein. Dass diese Sympathie politisch kritisiert werden darf und soll, ist sicher zutreffend.
Aber ebenso gut gilt die russische Fahne für andere als Symbol der Befreiung vom Faschismus, ganz so wie die US-amerikanische, britische oder französische – und bislang hat noch niemand deren Verbot anlässlich reaktionärer imperialistischer Interventionen gefordert.
Dass es sich bei dem Urteil um einen leicht durchschaubaren, aber nicht minder symbolträchtigen Akt politischer Justiz handelt, zeigt das Verbot der sowjetischen Fahnen. Russland ist anerkanntermaßen Kriegspartei in der Ukraine, das aus dem Zarismus stammende Georgs-Symbol ein imperiales Zeichen. Doch die Sowjetunion? Führt die etwa auch Krieg in der Ukraine? Allenfalls in der Einbildung von Reaktionär:innen, für die der Kalte Krieg nie zu Ende ging, für die es weder einen Bruch zwischen der frühen Sowjetunion Lenins und Trotzkis mit der bürokratischen Diktatur Stalins als auch der neuen imperialistischen Diktatur Putins gibt.
Es ist aber bezeichnend für das Geschichtsbild von Polizei und Justiz, dass sie diese Verknüpfung mit Verbotsantrag und -begründung ebenfalls vorgenommen haben. Russland sei gleich der Sowjetunion – damit entsorgt oder relativiert man symbolisch auch die für den deutschen Imperialismus lästige Tatsache, dass die Rote Armee maßgeblich die Niederlage der Wehrmacht und des Naziregimes herbeigeführt, die Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen hat.
Das Verbot der sowjetischen Fahnen stellt nicht nur einen Akt politischer Justiz, sondern einen politischen Skandal, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar.
Das aktuelle Verbot stellt leider keinen Einzelfall dar. Schon 2022 hatte die Berliner Polizei ein skandalöses Verbot russischer und ukrainischer Nationalsymbole für Demonstrationen und Kundgebungen am 8. und 9. Mai, zum Tag der Befreiung, durchgesetzt. In diesem Jahr hoben die Gerichte jedoch die Verbote in der ersten Instanz auf – und gegen jene von ukrainischen Fahnen wurde zum Glück nicht geklagt. Es stellte natürlich auch einen Skandal dar, dass ukrainische Geflüchtete 2022 ihre Fahnen ebenfalls nicht tragen durften – trotz aller medial zur Schau gestellten „Solidarität“ der Regierenden.
Doch wir kennen reaktionäre solche Verbote auch zur Genüge gegen Kräfte des antiimperialistischen Widerstandes, seien es PKK-Fahnen und -Symbole, seien es solche von palästinensischen Organisationen.
Es handelt sich dabei um gesetzliche, polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und jeder weitere Fall führt zur „Normalisierung“ dieser repressiven Praxis. Jedes weitere Verbot liefert der Polizei einen Vorwand zur Kontrolle und Schikane von Demonstrierenden. Die Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sind natürlich kein Zufall, sondern eine Ergänzung zur verschärften imperialistischen Konfrontation, zur Militarisierung, zum Rassismus, zu Preiserhöhungen und zunehmender Verarmung. Und es gehört zur ideologischen Begleitmusik der „demokratischen“ Öffentlichkeit, alle, die die Politik ihres Staates, ihres Imperialismus kritisieren, als „Agent:innen“ der Gegenseite, in diesem Fall als Putin-Versteher:innen zu diffamieren. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen! Daher müssen die Fahnenverbote wie jeder Angriff auf demokratische Rechte kritisiert und bekämpft werden.