Arbeiter:innenmacht

Jerusalemer Deklaration zu Antisemitismus

Interview mit Isabel Frey, Infomail 1148, 5. Mai 2021

Isabel Frey ist eine jiddische Sängerin und Aktivistin bei LINKS aus Wien. Spezialisiert auf jiddische Revolutions- und Widerstandslieder möchte sie die Tradition des linken jüdischen Aktivismus wiederbeleben und mit modernen politischen Themen verbinden. Das Interview führte die Redaktion des Arbeiter*innenstandpunkt, unserer österreichischen Schwesterorganisation.

Redaktion: Vor kurzem ist eine neue Antisemitismus-Definition erschienen. Die Jerusalemer Deklaration wurde von mehr als 200 Wissenschafter*innen der Antisemitismus- und Holocaustforschung, jüdischen Israel- und Nahost-Studien unterzeichnet. Kannst du kurz umreißen, worum es dabei geht?

Isabel: Die JDA ist eine Reaktion auf die vielfach umstrittene Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Allianz zum Gedenken an den Holocaust; IHRA). Diese Definition wurde die letzten Jahre vielfach instrumentalisiert, um jegliche Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und Palästina-Solidarität zu delegitimieren und kriminalisieren. Deshalb lehnen auch weite Teile der jüdischen Linken, sowohl in Israel als auch in der Diaspora, die IHRA-Definition ab. Die JDA ist eine Antwort auf diese zunehmende Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus von rechts. Sie arbeitet explizit heraus, wann Kritik an der Lage in Israel-Palästina antisemitisch ist und wann nicht. Zum Beispiel sagt sie explizit, dass Antizionismus und Antisemitismus nicht dasselbe sind und auch der Aufruf zu Boykott, Divestment und Sanktionen (BDS) nicht per se antisemitisch ist. Das ist ein wichtiger Schritt sowohl im Kampf gegen Antisemitismus als auch zur Dekriminalisierung von Palästina-Solidarität.

Redaktion: Schon seit längerem gibt es die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Wie unterscheidet sie sich von der Jerusalemer Deklaration?

Isabel: Die JDA ist weniger eine Alternative, sondern mehr eine Ergänzung oder eine Verbesserung der IHRA-Definition. Sie baut auf der IHRA-Definition auf, da sie auch versucht, das Phänomen des „israelbezogenen Antisemitismus“ zu definieren. Das ist insofern wichtig, weil neue Formen von Antisemitismus tatsächlich manchmal Israel in antisemitische Hetze miteinbeziehen. Allerdings ist es genauso wichtig, zu unterscheiden, wo und wann Kritik an Israel antisemitisch ist und wo nicht. Das Problem an der IHRA-Definition ist, dass sie viel zu vage ist und sich daher leicht instrumentalisieren lässt. Die JDA ist viel präziser und weist auch darauf hin, dass der Kontext einer Aussage zentral ist. Wenn zum Beispiel Herbert Kickl bei einer Demo von Coronaleugner*innen über israelische „Gesundheitsapartheid“ spricht, dann tut er das nicht aus Solidarität mit Palästinenser*innen, die nicht geimpft werden, sondern weil er auf antisemitische Verschwörungsmythen, die bei diesem Publikum sehr beliebt sind, anspielt. Wenn allerdings Palästinenser*innen oder Linke, die solidarisch mit ihnen sind, die israelische Impfpolitik kritisieren, ist das nicht antisemitisch motiviert. Genau bei solchen Unterscheidungen hilft die JDA.

Redaktion: Siehst du Schwächen in der Jerusalemer Deklaration und, wenn ja, welche?

Isabel: Da die JDA auf der IHRA-Definition aufbaut, reproduziert sie einige ihrer Schwächen. Eine davon ist, dass Antisemitismus nicht als ein historisch spezifisches und kulturell verankertes Phänomen verstanden wird, das sich aus der christlich-westlichen Gesellschaft gebildet hat und heute nach wie vor hauptsächlich ein rechtes Phänomen ist. Die JDA schafft es nicht zu benennen, dass die Gefahr nach wie vor von rechts ausgeht und nicht in erster Linie durch einen vermeintlich „linken“ oder „muslimischen Antisemitismus“, wie es Rechte oft sagen.

Eine andere Schwäche, ist dass durch eine separate Antisemitismusdefinition dieser künstlich von Rassismus getrennt wird. Die JDA deutet zwar an, dass Antisemitismus eng mit anderen Formen von Unterdrückung, wie Rassismus und Sexismus, zusammenhängt, erklärt aber nicht diesen Zusammenhang. Dabei wäre es für eine breite antirassistische Koalition heute so wichtig, eine Analyse zu haben, die diese zwei Phänomene zusammen denkt bzw. Antisemitismus als eine spezifische Form von Rassismus versteht. In der eigentlichen Definition der JDA wird das Wort Rassismus aber nicht einmal verwendet. Das erscheint mir absurd – was ist Antisemitismus, wenn nicht zumindest auch ein Rassismus? Es heißt ja nicht ohne Sinn Nürnberger Rassengesetze?

Redaktion: Nahezu ausschließlich in der deutschsprachigen Linken wird das Thema Israel und Antizionismus sehr kontrovers diskutiert. Was, denkst du, wäre wichtig, in der Diskussion zu berücksichtigen?

Isabel: Das Wichtigste für die deutschsprachige Linke wäre, endlich diese Diskussion offen und ohne Angst anzugehen. Das Thema ist teilweise so kontrovers, dass es gar nicht mehr diskutiert, sondern jegliche Diskussion unterbunden wird. Erstmal muss das repressive Klima des Schweigens gebrochen werden, um überhaupt eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema zu haben. Dann wäre das Wichtigste zu verstehen, dass Antizionismus nicht gleich Antisemitismus ist. Es gibt durchaus legitime Gründe, insbesondere für Palästinenser*innen und deren Unterstützer*innen, antizionistisch zu sein – das heißt, Israel als einen jüdischen Ethnostaat in einer binationalen Region abzulehnen. Wie die Zukunft in diesem schwierigen Konflikt ausschauen kann, ist eine wichtige Frage, die aber vom Kampf gegen Antisemitismus weitgehend getrennt werden muss.

Redaktion: Im letzten Jahr haben wir im Zuge der coronaskeptischen Bewegung einen deutlichen Anstieg von Antisemitismus erleben müssen. Woher kommt das und was, denkst du, wäre wichtig, dagegen zu tun?

Isabel: Historisch waren Epidemien in Europa, genauso wie Wirtschaftskrisen, mit einem Anstieg von Antisemitismus verbunden. Das ist also nichts Außergewöhnliches. Allerdings ist der Antisemitismus, der heute unter den Coronaleugner*innen wächst, ein besonders gefährlicher: Er verbindet uralte Formen von christlichem Judenhass, NS-Verherrlichung und Holocaustleugnung, die „Großer Austausch“-Thesen der neuen Rechten und neue antisemitische Verschwörungsmythen über die Coronapandemie als jüdische Weltverschwörungen. Antisemitismus ist hier ein zentrales Bindeglied, das diese verschiedenen Ideologien zusammenhält und noch dazu ein starkes Mobilisierungspotential hat. Durch den Pseudo-Antikapitalismus der antisemitischen Verschwörungsmythen wird auch das revolutionäre Potenzial der Menschen, die von der Krise betroffen sind, auf den Sündenbock der vermeintlich allmächtigen Jüd*innen gerichtet. Das ist nicht nur antisemitisch, sondern auch hinderlich für klassenkämpferische Bewegungen. Der Kampf gegen Antisemitismus ist daher auch ein zentraler Baustein eines Kampfes gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus und muss daher Teil einer breiten antirassistischen, antifaschistischen und revolutionären Gegenbewegung sein.

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