Arbeiter:innenmacht

Tübinger Testmodell – Vorbild oder Irrsinn?

Katharina Wagner, Infomail 1145, 7. April 2021

Wie lässt sich das exponentielle Wachstum stoppen beziehungsweise verlangsamen? Welche Maßnahmen sind dafür am geeignetsten? Und wie und ob überhaupt kann man ein Stückchen Normalität zurückholen? Diese Fragen werden im Moment viel diskutiert. PolitikerInnen und Kommunen halten massive Einschränkungen in Bezug auf persönliche Grundrechte für notwendig und Lockerungen für ausgeschlossen, betroffen ist hierbei freilich nur der private Bereich. Zusätzlich wird schon wieder über Ausgangssperren diskutiert, immer mehr Bundesländer erwägen die Wiedereinführung einer nächtlichen Ausgangssperre oder haben diese bereits umgesetzt.

Tübinger Modellprojekt

Ganz anders ist die Situation in Tübingen, wo im Zuge eines Landesmodellprojekts untersucht wird, in welcher Form Schnelltests eine sinnvolle Maßnahme bei Lockerungen seien bzw. diese ermöglichen können. So dürfen seit dem 16. März Außengastronomie und Einzelhandel für die KundInnen öffnen. Voraussetzung für die Nutzung ist ein sogenanntes Tagesticket, welches nach einem tagesaktuellen, negativem Schnelltest ausgestellt wird. An verschiedenen Standorten in der Innenstadt befinden sich die Stationen, wo innerhalb von 15 Minuten ein kostenloser Schnelltest durchgeführt werden kann. Von diesen finden pro Tag finden ca. 8000 Stück statt, der Anteil der positiven Tests liegt nach Aussage von Lisa Federle, der Entwicklerin des Modells, bei 1/1000.

Ich selbst habe bereits dieses Angebot genutzt und war zunächst einmal recht beeindruckt. Unter den Augen eines Sicherheitsbeamten, welcher Maskenpflicht und Einhaltung der Abstandsregeln kontrolliert, ist zunächst einmal ein QR-Code mit den eigenen persönlichen Daten zu generieren, welcher vor dem eigentlichen Test und nach Kontrolle des Personalausweises gescannt und in der Datenbank mit dem Teströhrchen verknüpft wird. Nach einem Nasenabstrich werden diese vor Ort sofort ausgewertet und man erhält sein Testergebnis innerhalb von 15-20 Minuten. Allerdings dauerte es bei mir mit über 40 min doch etwas länger.

Für den formalen Nachweis kann man zwischen einem Tagesausweis in Papierform oder einem Armband mit aufgedrucktem QR-Code auswählen. Das Armband wird allerdings aus Zeitgründen schon vor dem tatsächlichen Vorliegen eines Testergebnisses ausgegeben. Beides wird bei Stichproben oder beim Betreten bestimmter Einrichtungen wie Restaurants eingescannt und somit das negative Testergebnis überprüft. Solange man zwar den Nachweis aber noch kein Testergebnis vorliegen hat, wird man lediglich gebeten, noch keinen Laden oder Biergarten zu betreten, in die Innenstadt darf man aber trotzdem. Auch hier setzt man auf Eigenverantwortung, denn nicht überall kann streng kontrolliert werden. Bei einem positiven Testergebnisses wird man telefonisch informiert und gebeten, sich am einem zentralen Standort einem PCR-Test zu unterziehen, dessen Ergebnis dann auch an die Gesundheitsämter weitergeleitet wird. Aber auch hier hofft man darauf, dass die Betroffenen sich eigenverantwortlich tatsächlich nochmals nachtesten lassen.

Wirkliches Vorbild oder falscher Ansatz?

Mit diesem ausgedehnten Testangebot soll ermöglicht werden, dass neben gastronomischen und kulturellen Orten auch die Einzelhändler wieder für die Bevölkerung geöffnet werden können. Doch kann damit ein Anstieg der Infektionszahlen wirklich verhindert werden? Anfangs waren die Infektionszahlen tatsächlich deutlich geringer als im landesweiten Durchschnitt und Tübingen die erste Stadt in Baden-Württemberg mit einer Inzidenz unter 50, trotz vermehrter Testung. Das Tübinger Modellprojekt war daher zunächst ein Vorbild vieler Landkreise und Regionen, mehr als 50 hatten in den letzten Wochen einen Antrag auf Öffnungen in Kombination mit Schnelltests beim zuständigen Ministerium gestellt. Mittlerweile sind alle diese Anträge auf Eis gelegt, da seit dem 1. April auch Tübingen die 100er-Marke überschritten hat.

Auch sah sich die Stadt wegen sehr starker Nachfrage nach Tagestickets und voller Innenstadt dazu gezwungen, den Zulauf stark einzugrenzen, da auch zahlreiche Personen aus anderen Landkreisen und sogar Bundesländern dieses Angebot genutzt haben. Von Gründonnerstag bis einschließlich Ostermontag (1. – 4. April) wurden die Tickets nur noch an Tübinger BürgerInnen ausgegeben. Aus diesen Gründen mehren sich inzwischen die kritischen Stimmen, manche fordern bereits einen vorzeitigen Stopp des Modellprojekts, welches ursprünglich bis zum 18. April geplant war.

Zudem wird die Zuverlässigkeit der Antigentests gezweifelt. Laut dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach zeigen bei 10 asymptomatisch Infizierten lediglich 6 Schnelltests ein positives Ergebnis an, bei vier Personen werde dagegen die Infektion nicht erkannt. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer findet dagegen weiterhin nur lobende Worte für das Projekt und sieht die Gründe für die erhöhten Inzidenzzahlen zum einen bei vermehrter Testung, frei nach dem Motto: wer viel testet, der findet viel. Zum anderen sei ein größerer Ausbruch in einer Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete verantwortlich für den raschen Anstieg der Infektionszahlen. Auf diese Art rechnet Palmen die „eigentliche“ Inzidenzahl für Tübingen runter. Den Geflüchteten unterstellt er, auf das nationalistische Ressentiment spekulierend, dass der Ausbruch die Inzidenz um mindestens 15 Punkte nach obengetrieben hätte, für weiter 20 wäre vor allem auswärtiges Partyvolk verantwortlich, das ungetestet durch die Straßen gelaufen wäre. Die „eigentliche“ Inzidenz lege lt. Palmer weit unter 100. So kann man einen Modellversuch auch mit allen Mitteln schönreden.

Richtiger Lösungsansatz – solidarischer Lockdown

Meiner Meinung nach benötigen wir eine Kombination aus vermehrter Testung, sehr viel schnellerem Impftempo und vor allem einem solidarischen Lockdown, der nicht nur den privaten Bereich stark einschränkt, sondern auch die Wirtschaft mit einschließt. Die Forderung nach einem 2-wöchigen harten Lockdown wird inzwischen wieder von zahlreichen IntensivmedizinerInnen und WissenschaftlerInnen gefordert, mit gleichzeitiger Rücknahme aller geplanten oder bereits implementierten Lockerungen. Nur so sei es überhaupt möglich, das exponentielle Wachstum der britischen Mutante B.1.1.7, die mittlerweile über 80% der Neuinfektionen ausmacht, zu verlangsamen.

Denn anders als uns manche PolitikerInnen noch immer glauben lassen wollen, finden Infektionen eben nicht nur im privaten Bereich, sondern auch am Arbeitsplatz, in Schule oder Kita statt. Ich selbst habe das „Glück“, in einem vollbesetzten Großraumbüro mit 19 anderen Personen sitzen zu dürfen, wobei nur außerhalb des eigenen Schreibtisches eine Maske getragen werden muss. Arbeitssicherheit und Infektionsschutz sehen für mich anders aus. Mithilfe eines solidarischen Lockdowns, wie ihn die Initiative #ZeroCovid seit geraumer Zeit fordert, könnte man die Infektionszahlen drastisch senken und danach mit einer Kombination aus verstärktem Impfen, PCR- und Schnelltests sowie weiterer strikter Einhaltung der Hygienevorschriften und digitaler Nachverfolgung vorsichtige Lockerungen einführen.

Aber wer bezahlt diesen Lockdown? Bedeutet zwei Wochen Lockdown nicht zwei unbezahlte Urlaubswochen für die Lohnabhängigen? Bedeuten zwei Wochen Lockdown für Eltern nicht zwei Wochen ohne Kinderbetreuung? Um genau das zu verhindern, ist es wichtig dafür einzutreten, dass die Kosten für diesen Lockdown dabei von den Unternehmen und Vermögenden übernommen werden, beispielsweise durch eine Sonderabgabe auf Gewinne und große Vermögen. Daher fordert #ZeroCovid auch 3 Wochen bezahlten Zusatzurlaub statt generell einen harten Lockdown, für den meist die Lohnabhängigen aufkommen müssen, während die Unternehmen durch staatliche Hilfen Entschädigungen erhalten. Daher braucht es auch einen zusätzlichen, bezahlten Urlaubsmonat für alle Menschen mit Kinderverantwortung.

Daher sollten wir als Lohnabhängige den Aktionstag von #ZeroCovid am 10. April durch Aktionen auf der Straße unterstützen, natürlich unter Beachtung der geltenden Hygienevorschriften. Denn nur gemeinsam können wir für einen solidarischen Lockdown, bezahlt von Unternehmen und Vermögenden, kämpfen.

  • 3 Wochen bezahlter Zusatzurlaub ab jetzt, um die dritte Welle zu brechen!
  • Einführung einer europaweiten Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne sowie Finanztransaktionen zur Finanzierung des Shutdowns und für den Ausbau des Gesundheitssystems!
  • Kontrolle des Infektionsschutzes in den Betrieben durch Gewerkschaft und Kommitees der Beschäftigten!
  • Einführung einer Testpflicht für alle Unternehmen sowie an Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen mit mind. 2 kostenlosen Tests pro Woche! Keine Auslagerung von Testung in den privaten Bereich!
  • Beschleunigung des Impftempos durch Aufhebung des Patentrechts und massivem Ausbau der Produktionskapazitäten für die Impfstoffherstellung. Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit.

Der Artikel wurde ursprünglich auf www.zero-covid.org veröffentlicht.

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