Arbeiter:innenmacht

Ein Jahr nach Hanau: kein Vergeben, kein Vergessen!

Jonathan Frühling, Infomail 1139, 19. März 2021

In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 erschoss in Hanau ein faschistischer Attentäter neun Menschen, weitere wurden schwer verletzt. Dabei nahm der Rassist Tobias Rathjen gezielt MigrantInnen ins Visier. Nach den Anschlägen flüchtete er nach Hause, tötete seine Mutter und nahm sich selbst das Leben.

Rechtsruck und faschistischer Terror

Der Attentäter von Hanau war aller Wahrscheinlichkeit nach in einschlägigen Incel-Foren unterwegs, wo sich Männer austauschen, radikalisieren und gegenseitig zu (terroristischen) Gewalttaten anstacheln. (Incel: Abkürzung für „involuntary celibate“; „unfreiwilliges Zölibat“) Tiefer Hass auf Frauen, eliminatorischer Rassismus und wahnhafte Verschwörungstheorien, angetrieben von tiefem Narzissmus, waren Teil von Rathjens menschenfeindlicher Ideologie, die er vor der Tat im Internet ähnlich anderen Rechtsterroristen wie Breivik (Norwegen), Balliet (Halle a. d. Saale) oder Tarrant (Christchurch/Neuseeland) auslebte und propagierte.

Die etablierte Politik hatte natürlich sofort das Märchen vom psychisch kranken Einzeltäter bemüht. Ein verwahrloster und dissozialer Mann, der durch Frust auf die schiefe Bahn geraten und dann auf eigene Rechnung aktiv geworden sei. Dieser Ansatz greift aber viel zu kurz.

Das Massaker fand nicht unabhängig von der Gesellschaft im luftleeren Raum statt, sondern ist Teil eines nationalen und internationalen Rechtsrucks, der von faschistischen bis rechtspopulistischen Parteien und Organisationen, aber auch von Parteien der sogenannten „Mitte“ aktiv befördert wird. Dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, kriminelle AusländerInnen abzuschieben seien, Warnungen vor deutschem „Identitätsverlust“, all das wird auch immer wieder vom bürgerlichen Mainstream von Union über FDP bis Grüne vertreten. Dass die Migration kontrolliert werden müsse und die Geflüchteten nicht noch einmal in Massen nach Europa kommen dürften – dem widersprechen auch SPD, Gewerkschaftsführungen, ja selbst bedeutende Teile der Linkspartei nicht.

Antisemitismus feiert derzeit durch die CoronaleugnerInnen ein unheimliches Comeback. Dass geheime Mächte unsere Welt steuern und es einen Überlegenheitsanspruch einer sogenannten „weißen Rasse“ gibt, das sind nicht nur die Vorstellungen eines psychisch kranken Terroristen. Sie bilden auch das ideologische Futter einer neuen rechten Massenbewegung, die sich aus weiten Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten zusammensetzt, die, wirtschaftlich zunehmend entgleist und individualisiert, anfällig werden für Verschwörungstheorien, Rassismus und den Glauben an eine höhere Volksidentität.

Was tun?

Auf die Polizei können wir uns im Kampf gegen den Rechtsruck nicht verlassen. Das zeigt gerade der Anschlag von Hanau. Obwohl sie mehrmals gerufen wurde, kam der Notruf nicht durch. Auch andere Vorwürfe wurden ihr gegenüber laut. Zudem hatte der Täter bereits Ende 2019 einen Brief an die Hanauer Staatsanwaltschaft geschrieben, in dem er seine rechtsextremen Ansichten offenlegte. Seinen Waffenschein durfte er trotzdem behalten.

Außerdem ist die Polizei mit der Umsetzung der rassistischen Regierungspolitik betraut, setzt Abschiebungen, „racial profiling“ und das Abriegeln der Außengrenzen um. Zahlreiche FaschistInnen sind in der Polizei, wie das Auffliegen diverser rechter Netzwerke hier beweist. Folglich ist das Gerede von Einzelfällen genauso lächerlich wie gegenüber den Attentätern von Halle und Hanau.

Die Hinterbliebenen und Angehörigen der Opfer vom 19. Februar fordern Aufklärung, Konsequenzen und Gerechtigkeit, doch diese werden von Staat und Regierung wohl kaum kommen. Die Frage des Selbstschutzes und der Aufklärung gegen rechten Terror und Drangsalierung durch Polizei und Staat wird deshalb gerade seit Hanau vermehrt durch die nicht-weiße Community aufgeworfen. Wir halten dies für einen richtigen Schritt, aus dem dauerhafte antirassistische und antifaschistische Selbstverteidigungsstrukturen weiter entwickelt werden sollten.

Faschismus und Rassismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel in der Linken und ArbeiterInnenbewegung. Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch daher, dass sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. In Wirklichkeit frustriert sie mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit nicht nur die eigene Basis, sie stößt auch jene Lohnabhängigen, die sie in den letzten Jahren verloren hat, weiter ab. GewerkschafterInnen wählten überdurchschnittlich die AfD. Wir setzen dem die Aktionseinheit der ArbeiterInnenbewegung, von SPD, der Linkspartei, der Gewerkschaften und der MigrantInnen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck, verbunden mit einem Kampf gegen die Auswirkungen der aktuellen Krise, für bessere Gesundheitsversorgung, Aufteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden entgegen!

Wir rufen alle AntifaschistInnen auf, sich an den Gedenkkundgebungen zu beteiligen, um den Angehörigen unser Beileid und unsere Anteilnahme zu zeigen. Aber die Teilnahme muss auch eine Machtdemonstration von linken Kräften gegen die rechte Bedrohung beinhalten. Die große Anzahl an angemeldeten Demos zeigt, dass das gelingen kann. Lasst uns unsere Wut, Trauer, Zorn und Solidarität auf die Straße tragen!

Liste der Kundgebungen und Demos in Deutschland und Österreich

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