Arbeiter:innenmacht

Tarifrunde öffentlicher Dienst und Gesundheitswesen: Schluss mit der Politik der “ausgestreckten Hand”!

Helga Müller, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Auch nach der zweiten Verhandlungsrunde am 19./20.9. stellen sich die öffentlichen Arbeit„geber“Innen, also der Bund und die Kommunen, stur. Sie verweisen auf die leeren Kassen aufgrund der zahlreichen Krisenpakete der Bundesregierung. Da wurden Milliarden Subventionen an die sogenannten „systemrelevanten“ Konzerne gegeben, um diese nach dem Einbruch der Wirtschaft zu stützen! Allein Lufthansa erhielt davon 9 Mrd. Euro – ohne irgendwelche Bedingungen, was z. B. die Umweltverträglichkeit oder den Erhalt von Arbeitsplätzen angeht.

Die Wirtschaftskrise hatte sich schon lange vorher als eine schwere Rezession angekündigt. Sie wurde nicht durch die  Corona-Pandemie verursacht, aber durch sie beschleunigt. Auf jeden Fall tragen nicht die Beschäftigten die Schuld für die Krise des Systems! Aber die Arbeit„geber“verbände wollen die Beschäftigten für die Krise zahlen lassen: Sie wollen eine lange Laufzeit – am besten bis 2023 – , keinen Mindestbetrag und keine Arbeitszeitverkürzung in welcher Form auch immer (Flugblatt ver.di vom 20.9.).

Hauptforderungen

Die Hauptforderungen von ver.di bestehen immer noch in der Erhöhung von 4,8 %, mindestens aber 150 Euro monatlich, der Aufstockung der Entgelte der Azubis, Studierenden und PraktikantInnen um 100 Euro monatlich, einer Laufzeit von 12 Monaten, Tarifierung der Ausbildungsbedingungen der Studierenden im dualen Studiengang und der Angleichung der Arbeitszeit im Osten an die im Westen. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – in einer ver.di-Umfrage haben sich die meisten KollegInnen für mehr Freizeit ausgesprochen – wurde allerdings gar nicht mehr erhoben.

Vor allem die kommunale Arbeit„geber“vereinigung VKA hält an ihrer Linie fest: Sie hatte noch vor Beginn der Tarifrunde die „ausgestreckte Hand“ von ver.di (Zitat Wernecke, Pressemitteilung ver.di Bundesvorstand vom 18.6.2020) ausgeschlagen. Für die ver.di-Führung eine bittere Pille. Schließlich schwebt ihr eine Vereinbarung mit den öffentlichen Arbeit„geber“Innen ganz nach alter sozialpartnerschaftlicher Manier vor: Einmalzahlung und Aufschieben der eigentlichen Tarifrunde auf das nächste Jahr.

Die VKA wertete diese Taktik als das, was sie ist – ein Zeichen der Schwäche und des Zurückweichens. Sie will diese Tarifrunde nutzen, um das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern, ver.di in die Knie zwingen, um die Krisenlasten auf die breite Mehrheit der Beschäftigten abzuwälzen. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass die Streikbereitschaft bei den Beschäftigten aufgrund der Pandemie-Situation nicht allzu groß ist.

Spekulation der VKA

Sie spekuliert darauf, dass viele KollegInnen aus der Verwaltung Zurückhaltung zeigen, in Bezug auf eine höhere Gehaltsforderung aktiv werden zu wollen, geschweige denn zu streiken. Die Angst vor Arbeitsplatzabbau aufgrund der diversen materiellen Hilfsprogramme der Regierung zur Rettung vor allem der großen Konzerne, die die Haushalte wieder ausbluten, scheint bei vielen größer als die Notwendigkeit, für eine angemessene Bezahlung zu streiken. Gerade vor diesem Hintergrund wäre es notwendig gewesen, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung – vor allem in Verbindung mit vollem Lohn- und Personalausgleich –  aufzustellen, denn dies wäre eine zentrale Antwort auf die Frage des Erhalts der Arbeitsplätze gewesen.

Auch die Mobilisierung im ErzieherInnenbereich wird nicht ganz unproblematisch sein, da die Beschäftigten die Eltern nicht nochmals belasten wollen, nachdem letztere während des Shutdowns monatelang neben der Arbeit auch die Kinder betreuen mussten.

Die auf einen „partnerschaftlichen“ Deal berechnete Taktik von ver.di verstärkt natürlich die Unsicherheiten bei den Beschäftigten. Angesichts der harten Haltung der VKA muss der Apparat in der aktuellen Situation umorientieren – um, so die Devise, die Arbeit„geber“Innen zu einem vernünftigen Angebot an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Gesundheitsbereich

In dieser Gemengelage kamen nun die ver.di-Verantwortlichen auf die Idee, den Bereich, der während des Shutdowns am meisten in der Öffentlichkeit stand und in dem aufgrund des schon jahrelang herrschenden Personalnotstands derzeit am meisten Kampfbereitschaft vorhanden ist – nämlich den Gesundheitsbereich – hauptsächlich zu mobilisieren, um die „Kohlen aus dem Feuer“ zu holen.

Die Crux dabei ist, dass die Hauptforderungen dieser Tarifrunde keine Antwort auf die eigentliche Problematik, die die KollegInnen jeden Tag zu spüren bekommen – nämlich auf die Frage des Personalnotstands – geben.

Auch der Trick mit dem separaten Verhandlungstisch zur Gesundheit – insbesondere zur Pflege -, in dem es um eine Pflegezulage, Zuschlag bei Samstagsarbeit, bessere Bezahlung, Pausenregelung bei Wechselschichtarbeit geht -, bringt in Bezug auf die Einstellung von ausreichend Personal nicht weiter. Schon bei den ersten Verhandlungen am 18.9. hat sich herausgestellt, dass die VKA bei allen Fragen, die irgendwie mit einer Entlastung zu tun haben könnten, blockiert. Aber bei den Forderungen nach Zuschlägen und einer besseren Bezahlung im Gesundheitsbereich ist sie durchaus offen  (Flugblatt ver.di vom 18.9.20).

Dies könnte schon jetzt auf einen möglichen Abschluss hinweisen: Die ver.di-Spitze  könnte darauf abzielen, mit der VKA und dem Bund zu vereinbaren, dass es für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich einen größeren Schluck aus der Pulle gibt und für die übrigen einen Abschluss, der mehr oder weniger über der Inflationsrate liegt. Es könnte sein, dass sich die öffentlichen Arbeit„geber“Innen bei den dritten Verhandlungen, die traditionell im öffentlichen Dienst die letzten sind, am 23./24. Oktober darauf einlassen. Das hängt natürlich davon ab, wie weit ver.di jetzt die Belegschaften zu Warnstreiks überhaupt mobilisieren kann und will.

Die Warnstreiks zeigten, dass die Beschäftigten in den Krankenhäusern durchaus mobilisierbar sind. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob die Forderung nach einer besseren Bezahlung ausreicht, um die Beschäftigen für einen längerfristigen Erzwingungsstreik rausholen zu können. Die Bezahlung ist sicherlich eine Grundlage, um diesen Bereich lukrativer zu machen, aber damit wird die Weigerung der Klinikführungen, mehr Personal einzustellen, nicht durchbrochen werden können. Aber genau das ist die Erfahrung der KollegInnen aus der Entlastungskampagne von ver.di, in der auf tarifvertraglicher Ebene durchaus mehr Personal erstritten oder gar erstreikt werden konnte, was aber in den meisten Krankenhäusern nur auf dem Papier steht und nicht umgesetzt worden ist.

Die ver.di-Verantwortlichen haben durchaus verstanden, dass die Forderung nach einem gesetzlichen Pflegeschlüssel sinnvoll ist und von den Beschäftigten erwartet wird. Dass sie aber nicht in die Tarifrunde mit aufgenommen wird, wird mittlerweile damit begründet, dass dies eine Forderung sei, die sich direkt an die Politik wendet. Sie sollte dann in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion am 30. September, dem Tag der GesundheitsministerInnenkonferenz, an Gesundheitsminister Spahn in Form einer Fotopetition übergeben werden. Zwar unterschrieben Tausende, die Aktion selbst hat aber wohl eher Schwäche denn Kampfkraft zum Ausdruck gebracht.

Den, für sich genommen, richtigen Verweis darauf, dass die Frage des Pflegeschlüssels eine politisch ist, nimmt der Apparat zum Vorwand, grundlegende Probleme aus der Tarifrunde zu halten, um so leichter zu einem Deal mit der VKA zu kommen. Für die Mobilisierung ist dieses Heraushalten gesellschaftlicher Fragen, das sklavische Festhalten an den Grenzen des Tarifrundenrituals, das Vermeiden einer echten Massenaktion jedoch fatal.

Politische Fragen

Angesichts der Krise bedarf es einer grundlegend anderen Tarifpolitik. Es geht dabei um viel: Die Arbeit„geber“Innen im öffentlichen Dienst wie in der Privatwirtschaft wollen die Beschäftigten für die Krise des Kapitalismus zahlen lassen – vor Entlassungen schrecken sie lediglich noch zurück. Entsprechend könnte und müsste die Tarifrunde auch organisiert werden. Die ver.di-Führung hingegen hofft weiter auf eine „partnerschaftliche“ Runde, der mit etwas mehr Warnstreiks auf die Sprünge geholfen werden soll, so dass die VKA doch noch die „ausgestreckte Hand“ ergreift.

Nach der groben Fehleinschätzung, dass man schnell eine Einigung im Sinne des großen Corona-Miteinander-Füreinander erreichen könnte, waren die ersten Aktionstage und Warnstreiks erst für Ende September bis Mitte Oktober geplant. Nachdem die Blockade der öffentlichen Arbeit„geber“Innen deutlich geworden war, musste die ver.di-Spitze bereits früher loslegen. Am Dienstag, dem 22.9., wurden die ersten erste Warnstreiks in verschiedenen Städten durchgeführt. Aber durch die Fehlplanung und das totale Abtauchen des ver.di-Apparats während des Shutdowns mussten dieser und auch die Aktiven in den Einrichtungen auf Mobilisierung umgepolt werden, was nur teilweise gelang.

Damit diese Tarifrunde nicht in einem Desaster endet – ein bisschen was für die Pflegekräfte und der Rest kriegt vielleicht den Inflationsausgleich -, muss sie mit folgender Ausrichtung verbunden werden:

  • Wir zahlen nicht für die Krise der großen Konzerne und Vermögenden!
  • Wir brauchen nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Personal!
  • Das Geld dafür ist da – allein in Deutschland besitzen die  reichsten 10 % 7.300 Milliarden Euro (das sind 52 % des gesamten privaten Vermögens)!
  • Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine progressive Erhöhung der Unternehmenssteuern!
  • Kein Geld aus den öffentlichen Kassen für UnternehmerInnen, die entlassen wollen! Schluss mit Privatisierung!
  • Rekommunalisierung aller Einrichtungen im Gesundheitsbereich unter Kontrolle der Beschäftigten, PatientInnen und BewohnerInnen!

Zudem braucht es über die bisherigen Forderungen nach mehr Geld und freien Tagen hinaus folgende:

  • Arbeitszeitverkürzung für alle – bei vollem Lohn- und Personalausgleich: Verteilung der vorhandenen Arbeit auf mehr Schultern! Einführung der 30-Stunden- und Vier-Tage-Woche als erster Schritt!
  • Aufbau von mehr Personal im Gesundheitsbereich entsprechend dem Bedarf – Durchsetzung der PPR.2 wie von verdi, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat erarbeitet!

Dafür volle Mobilisierung aller KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst von Anfang an statt Warnstreiks in einzelnen Bereichen und Bezirken!

Dafür ist es notwendig, dass die KollegInnen sich zum einen nicht gegeneinander ausspielen lassen – nach dem Motto, wenn die Beschäftigten im Krankenhaus ein etwas besseres Angebot erhalten, ist für sie die Tarifrunde zu Ende.

Zum anderen müssen die KollegInnen – vor allem in den Krankenhäusern – die Verantwortlichen dazu auffordern, dass ihre Anliegen nach mehr Personal und zwar verbindlich in die Verhandlungen mit der VKA und dem Bund aufgenommen werden und diese auch in den Krankenhäusern zusammen mit den anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst durch Warnstreiks und Durchsetzungsstreiks erfochten werden müssen.

Dafür aber müssen sie sich selbst zusammenschließen und den Kampf unter ihre Kontrolle bekommen. Dafür sind Vollversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben, auf regionaler Ebene und bundesweit nötig, in denen die streikenden KollegInnen ihre Delegierten wählen und mit Hilfe derer über die Forderungen und über Aktionen bis hin zu Durchsetzungsstreiks diskutiert und beschlossen wird.

Ein unmittelbarer Schritt zur Stärkung der Mobilisierung bestände in der Koordinierung der Tarifrunde mit jener im öffentlichen Personennahverkehr, um die Schlagkraft zu erhöhen und diese auch bei gemeinsamen Massendemonstrationen zum Ausdruck zu bringen.

Schließlich ist es nötig, die arbeitende Bevölkerung insgesamt mit einzubeziehen. Corona hat noch deutlicher gezeigt, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem ist! Das sollte zu einem Schwerpunkt von Aktionskomitees gegen die Abwälzung der Krisenlasten werden, zum Schwerpunkt von Demonstrationen lokal und bundesweit!

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