Arbeiter:innenmacht

Britannien nach der Labour-Niederlage – das Scheitern einer Strategie

Red Flag, 13. Dezember 2019, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

Die krachende Niederlage für die Labour-Partei durch Boris Johnson ist ein bitterer Tag für Millionen von klassenbewussten ArbeiterInnen und die meisten jungen Menschen.

Mit 365 Sitzen im Unterhaus verfügt der britische Trump nun über eine absolute Gesamtmehrheit – ein Zugewinn von 48 Sitzen, während Labour 60 verlor. Jeremy Corbyn hat angekündigt, dass er als Vorsitzender zurücktreten werde, sobald die Partei die Ergebnisse der Niederlage analysiert hat. Der prozentuale Zuwachs der Konservativen war mit 1,2 % nicht sehr groß, der Verlust von Labour lag jedoch bei fast 8 %.

Wahlkampf

Wie Jeremy Corbyn selbst erklärte, war es Brexit, der die Berücksichtigung der radikalen Versprechen des Wahlmanifests verschleierte. Das Problem ist, dass die Führung den Wahlkampf so geführt hatte als lebten wir noch im Jahr Wahl 2017, als Brexit noch nicht im Vordergrund stand und die Sparpolitik das Schlüsselthema bildete. Seitdem prägte die Brexit-Lähmung das Land, und die Tories haben demagogisch und vage versprochen, in Gesundheitswesen und Infrastruktur zu investieren.

Was Corbyn nicht zugeben kann, ist, dass es die hoffnungslose Mehrdeutigkeit der Botschaft Labours war, die die Partei in Bezug auf das zentrale Wahlkampfthema verwundbar machte, und alle Versuche, davon abzuweichen, scheiterten kläglich. Die Aushandlung eines arbeiterInnenklassenfreundlichen Brexit-Deals mit der EU und die Durchführung eines weiteren Referendums verwirrten die WählerInnen und machten sie anfällig für die einfache „Ziehen wir den Brexit durch“-Botschaft von Johnson. Anstatt sowohl Labour Brexiteers als auch Remainers zu gefallen, gefiel die Labour-Politik beiden nicht, betrachteten sie beide Seiten zurecht als unklar und ausweichend.

Ein Hauptthema der liberalen Presse und der BBC, die alles in ihrer Macht Stehende taten, um Corbyn zu einer Hassfigur zu machen, bestand darin, ihn als einen „Antisemiten“ hinzustellen, weil er die PalästinenserInnen unterstützte, als einen „Terroristenanhänger“ wegen seine Gespräche mit irischen RepublikanerInnen und einen „privilegierten“ Londoner (als ob die Hauptstadt nicht viele Bezirke hätte, die so verarmt sind wie jede nördliche Stadt).

Ein so genannter roter Gürtel von Wahlkreisen im Nordosten Englands, im Norden und in den Midlands – die meisten in kleinen Städten, die seit den 1980er Jahren einen massiven industriellen Niedergang erlebt haben – wurde blau umgefärbt. Die Tories siegten dort. Aber es ist falsch, ihn als Kernland der Labour Party zu bezeichnen, außer in einem historischen Sinne.

Dies sind Bereiche, in denen unter Tony Blairs und Gordon Browns New Labour von 1997–2010 wenig getan wurde, um neue tariflich bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen oder angemessene Wohnungen zu errichten. Sie waren auch jene Bereiche, in denen im Allgemeinen rechte Labour-Abgeordnete und Ortsgruppen vertreten waren, die vom Corbyn-Zustrom von Mitgliedern wenig berührt wurden.

Aber ihr Abschneiden wird bereits benutzt, um Corbyn und die von ihm vertretene linke Politik zu diskreditieren, indem behauptet wird, er habe die ArbeiterInnenklasse für die privilegierten Eliten Londons und des Südostens vernachlässigt. Hier werden Vorurteile gegen MigrantInnen als Charakterzug der ArbeiterInnenklasse herbeizitiert – ähnlich dem Argument, das über Trumps „Basis“ in den Rostgürtelstaaten der USA verbreitet wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Dämonisierung von Jeremy Corbyn in den Boulevardzeitungen, die von den meisten gewöhnlichen Menschen gelesen werden, die Sichtweise auf ihn seit 2017 massiv negativ beeinflusst hat.

Aber in Wirklichkeit wählten in den Großstädten im Norden (Liverpool, Manchester, Leeds und große Teile von Birmingham), also Zentren der multiethnischen ArbeiterInnenklasse und die Beschäftigten im Gesundheitswesen, in der Bildung, im Verkehr und vor allem die Jugendlichen Labour. Hinzu kommt Schottland, wo unter New Labour die große Mehrheit der Sitze an die schottischen NationalistInnen verlorenging, einschließlich der gesamten ArbeiterInnenklasse Glasgows, einem echten Labour-Kernland. Die SNP stahl die reformistischen Kleider der Labour Party, um ihren kleinbürgerlichen Nationalismus und die reaktionäre Chimäre eines unabhängigen bürgerlichen Schottlands zu verkleiden.

Die Hoffnungen der Labour-UnterstützerInnen und der Jugend, die Verwüstungen der Sparprogramme umzukehren und den Klimawandel nach einem Wahlsieg ernsthaft anzugehen und die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze abzuschaffen, sind grausam zerschlagen worden. Bewaffnet mit einer riesigen Unterhaus-Mehrheit, mit einem Blankoscheck für sein reaktionäres Programm, müssen wir uns auf ein Johnson-Kabinett von Thatcher-SchülerInnen vorbereiten, das eine Reihe von wirtschaftlich und sozial reaktionären Angriffen einleiten wird.

Was droht?

Großbritannien wird Europa am 31. Januar 2020 mit einer Regierung verlassen, die entschlossen ist, ein bestende ArbeiterInnenrechten und Umweltvorschriften aufzuheben und die Wirtschaft des Landes für Trumps „massive“ Handelsabkommen zu öffnen. Der Karneval der Reaktion, vor dem InternationalistInnen seit dem Referendum 2016 gewarnt haben, wird noch schlimmer werden, wenn die ArbeitsmigrantInnen vom Kontinent unter Druck gesetzt werden zu gehen.

Kurz gesagt, ein kaltes, dunkles Jahrzehnt bricht an – eines, dessen Herausforderungen das Chaos von Brexit, eine sich nähernde schwere Rezession, der Beginn des Klimawandels und die Gefahr eines Krieges ausmachen werden, wenn Trump versucht, Amerika wieder groß zu machen. All dies deutet auf die Unvermeidlichkeit harter vor uns liegender Klassenkämpfe hin.

Sowohl die Labour-Partei als auch die Gewerkschaften müssen dringend die Lehren aus dieser Niederlage ziehen, wenn sie für diese Kämpfe fit gemacht werden sollen. Sie werden nicht in sozialen Medien oder durch Wahlkampf und ein „Weiter so im alten Trott“ gewonnen, sondern müssen auf der Straße und am Arbeitsplatz ausgetragen werden. Dazu brauchen wir eine Kampfpartei, und Labour hat sich als alles andere als eine solche erwiesen.

Obwohl die Corbyn-Bewegung die Größe der Partei mehr als verdoppelte, stellte sie ihre Abgeordneten im Parlament und ihre kommunalen VertreterInnen nicht unter demokratische Kontrolle, gab sie den Jugendlichen, die für ihn kämpften, kein wirkliches Mitspracherecht in der Parteipolitik. Schlimmer noch, drei Jahre lang hielt sie eine halbe Million Mitglieder außer für Wahlkampfmaßnahmen still.

Eine Niederlage in einer solchen Größenordnung deutet auf ein grundlegendes Scheitern der Strategie hin. Natürlich gab es eine Pressekampagne der Verunglimpfung. Natürlich hat der rechte Flügel der Partei die Vorwürfe von „Antisemitismus“ und „Terrorismus“ stillschweigend geduldet, und das hat zur Niederlage beigetragen. Natürlich verleumdeten die Medien Corbyn selbst, unterstützt durch den Versuch, einen Persönlichkeitskult um ihn herum aufzubauen, muss man sagen. Aber all dies war zu erwarten, und eine sinnvolle Strategie müsste dem entgegenwirken und sich gerade nicht für ihre Prinzipien entschuldigen bzw. gar für völlig aus der Luft gegriffene, erfundene Anschuldigungen.

Die grundlegenden Fehler waren mehrfach: zuerst die Befriedung des rechten Parteiflügels, dann der ZionistInnen und dann, der entscheidende Fehler, der „LexiterInnen“. Außerdem war es drei Jahre lang nicht gelungen, Labour zu einer Partei zu machen, die gegen die Sparmaßnahmen der Tories kämpfte und nicht nur auf eine Wahl wartete.

Die mangelnde Bereitschaft, ja die Weigerung, einen offenen Kampf gegen die Rechte zu führen, ging mit der Weigerung einher, die neu eingetreten linken Mitglieder in der Partei zu einer unabhängig orientierten politischen Strömung werde zu lassen. Der Mechanismus dafür war die Unterstützung von Jon Lansmans (Mitglied der Leitung von Labour) Putsch in Momentum, der aus einer vielversprechenden Initiative der Parteilinken zunächst eine Spielwiese und dann ein Hindernis für den Aufbau einer antikapitalistischen Strömung machte.

Die Beschwichtigung der Rechten verkehrte Jeremy Corbyns prinzipielle Haltung der Unterstützung von ArbeiterInnenbewegungen im Inland und antiimperialistischer Bewegungen im Ausland, die Hunderttausende zum Beitritt zur Partei bewogen, zur Hauptwaffe gegen ihn.

Wenn ihn das schwächte und die Bewegung hinter ihm, so führte die andere Seite seiner Politik, die Fantasie des linken Flügels von einem nationalen parlamentarischen Weg zum Sozialismus, zu seiner und der Niederlage der Partei. Diese „Strategie“ machte das Verlassen der EU zur Voraussetzung für den sozialistischen Fortschritt und brachte Corbyn und Co. damit auf die gleiche Seite der Brexit-Debatte wie Farage und Bannon, Trump und Johnson.

Das Bekenntnis zu dieser Strategie stärkte den Widerstand gegen die Demokratisierung der Partei und ihrer Beziehungen zu den Gewerkschaften. Auf der letzten Konferenz reichten Hunderte von Labour-Wahlkreisen, eindeutig die Mehrheit der Mitglieder, Anträge zur Unterstützung von „Verbleib in der EU“ ein. Angesichts dessen bestanden die „Lexiteers“ (linke Brexit-BefürworterInnen) im Führungsgremium und die Gewerkschaftsbürokratie auf Brexit, fügten aber ein Referendum hinzu und produzierten die sicherlich am wenigsten überzeugende Kampagnenstrategie aller Zeiten.

Zu behaupten, dass es bei den Wahlen „wirklich“ um das Gesundheitswesen, Obdachlosigkeit und Bildung ging, während die ganze Welt wusste, dass der Brexit im Zentrum stand, durchzog die Kampagne der Labour Party wie ein Krebsgeschwür. Dass Corbyn dies erst nach der Niederlage erkannte, zeigt, wie falsch seine Strategie war.

Anstatt durch eine konzertierte Kampagne, um zu erklären, was Brexit bedeuten wird, warum es von der US-Alt-Right-Regierung unterstützt und finanziert wurde und Labour trotz des Referendums weiterhin dagegen argumentiert, verpflichteten die Corbyn-Führung und ihre Verbündeten die Partei zu der lächerlichen Idee, dass eine Labour-Regierung (welche Labour-Regierung?) ein Abkommen aushandeln würde, das alle Vorteile und Standards der EU-Mitgliedschaft beibehielte – und gleichzeitig die Union verlassen würde!

Ergebnisse und Perspektiven

Das Ausmaß der Niederlage von Labour – die Partei wurde nicht nur geschlagen, sondern regelrecht verprügelt – ist historisch. Freitag, der 13., wird als Wendepunkt in Erinnerung bleiben, nicht nur für die Partei, sondern auch für das Land. Aber eine Wendung in welche Richtung? Es muss eine grundlegende Bilanz und es sollte einen Bruch geben geben.

Die Blair-AnhängerInnen haben darauf gelauert und ihre Messer geschärft, während sie gewartet haben. Sie werden darauf bestehen, dass die Partei offen für die EU hätte sein sollen und nie ein radikales Programm verabschiedet haben dürfte. Die LexiterInnen, die immer bereit sind, dem Patriotismus und den rückständigsten Teilen der Klasse Vorschub zu leisten, werden ebenso darauf bestehen, dass die Partei offen gegen die EU hätte sein und Corbyns eigene Opposition gegen die Freizügigkeit stärker hätte betonen sollen.

Die sozialistischen InternationalistInnen in der Partei müssen sich diesen beiden falschen Strategien widersetzen, diesen beiden Ausreden für das Scheitern. Unser Internationalismus ist nicht der der pro-europäischen Rechten, deren Ziel es ist, dem britischen Kapital einen einfachen Zugang zum größten und reichsten Handelsblock der Welt zu sichern. Unser Sozialismus ist nicht der der LexiterInnen, die törichterweise glauben, dass das britische Kapital im Gegensatz zum EU-Kapital die radikale Verstaatlichung und Planung sanftmütig akzeptieren wird, falls Labour jemals eine parlamentarische Mehrheit gewinnen würde.

Unser Internationalismus basiert auf der Richtigkeit von Marx‘ These, dass die ArbeiterInnenklasse kein Vaterland hat. Es war keine lediglich rhetorische Floskel: Der Kapitalismus ist ein internationales Wirtschaftssystem, in dem das Kapital die Arbeit auf der ganzen Welt ausbeutet, sich aber im Besitz der herrschenden Klassen befindet, die auf dem Boden der Nationalstaaten verwurzelt sind. Im Gegensatz dazu verkauft die ArbeiterInnenklasse ihre Arbeitskraft an KapitalistInnen, die ihren Sitz überall auf der Welt haben können. Als Klasse ist sie daher international, obwohl sie natürlich in bestimmten Ländern lebt und arbeitet.

Aufgrund ihres nationalen Charakters können die KapitalistInnen Europas es niemals friedlich in einen einzigen, multinationalen Staat integrieren. Die ArbeiterInnen Europas arbeiten jedoch bereits für Unternehmen, die nicht nur die nationalen Grenzen innerhalb der EU, sondern aller Kontinente der Welt überschreiten. Diese Unternehmen selbst sind Finanzinstituten untergeordnet, die Investitionen dorthin lenken, wo sie die höchsten Gewinne erwarten. So werden alle europäischen ArbeiterInnen, ja alle ArbeiterInnen der Welt, vom internationalen kapitalistischen System ausgebeutet – und hegen ein gemeinsames Interesse daran, diese Ausbeutung zu beenden.

Nach einer so heftigen Niederlage wird es zu Recht einen intensiven internen Kampf innerhalb der Labour-Partei geben. In diesem Kampf müssen sich die sozialistischen InternationalistInnen um eine Strategie aufstellen, die sich aus diesem Weltbild ableitet, eine Strategie, die die gemeinsamen Interessen aller ArbeiterInnen fördert und die Organisationen und Ziele vorschlägt, die diese Interessen voranbringen können.

Johnsons Brexit wird eine Offensive gegen die Rechte der ArbeiterInnen, Beschäftigungssicherheit und Arbeitsbedingungen sowie gegen die Überreste des „Sozialstaates“ garantieren. Die Wahrscheinlichkeit eines internationalen Wirtschaftsabschwungs, ja sogar eines weiteren Finanzkollapses, wird die Krise in diesem Land verschärfen. Zweifellos werden die Tories und wahrscheinlich auch die LexiterInnen „Europa“ für ihre Leiden verantwortlich machen. Zweifellos wird auch die extreme Rechte zur Beschuldigung und zum Angriff auf MigrantInnen und die Linke ermutigt werden.

Das sind die Bedingungen, denen sich die Linke stellen muss. Das ist die Realität, auf die  eine revolutionäre Strategie eine Antwort bieten muss. „Red Flag“ hat seinen eigenen Vorschlag, ein Aktionsprogramm unterbreitet, das darauf abzielt, einen Weg nach vorn aufzuzeigen. Wir bieten es nicht als irgendein Ultimatum an, sondern als Vorschlag zur Diskussion und Änderung durch all diejenigen, ob in der Labour-Partei oder außerhalb, die die Notwendigkeit sehen, die Lehren aus dem „Corbynismus“ zu ziehen und sozialistische InternationalistInnen für die kommenden Kämpfe umzugruppieren.

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