Dilara Lorin, Infomail 1077, 14. November 2019
Ägypten, Irak, Libanon – hier gehen die Menschen seit Wochen massenhaft und militant auf die Straße, weil sie ihre schlechte Lebenssituation nicht mehr hinnehmen! Die Arbeitslosenzahl ist sehr hoch, vor allem unter den Jugendlichen, und gleichzeitig stiegen in Libanon und Irak die Steuern. Libanon ist im arabischen Raum dafür bekannt, dass auf viele Produkte nicht nur Steuern erhoben, sondern diese immer wieder mal erhöht werden. Diesmal sollte wieder eine Steuererhöhung kommen, wie auf Internet, WhatsApp etc. Und genau das wollten die Menschen nicht mehr hinnehmen. Diesmal aber entfacht dies eine Massenbewegung, an der sich die große Mehrheit der Bevölkerung beteiligt. Unzählige Videos und Bilder dokumentieren, wie die großen Plätze überfüllt wurden. Selbst in den Seitenstraßen beteiligten sich die EinwohnerInnen, so dass zeitweise ganze Städte oder Wohngebiete vollzählig an den Protesten teilnahmen. Dabei werden die Rufe nach mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und Demokratie immer lauter. Gleichzeitig sind die Massen wütend auf die Korruption und die Aufteilung der Pfründe nach religiösen/sektiererischen Linien unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes. Während sich die Taschen der Reichen füllen, werden jene der Armen noch leerer gemacht.
Ähnlich auch im Irak. Die Worte eines Demonstranten zeigen deutlich, wie groß der Hass auf die Bourgeoisie und ihre Parteien ist: „Diese Männer repräsentieren uns nicht. Wir wollen keine Parteien mehr. Wir möchten nicht, dass jemand in unserem Namen spricht.“
Die DemonstrantInnen bestritten jegliche Verbindungen zu Parteien und Milizengruppen, denn diese sehen sie auch als Teil der zahlreichen Probleme an. In der südlichen Stadt im Irak Nasiriya haben DemonstrantInnen Büros von 6 politischen Parteien angezündet. Diese hatten versucht, die Situation auszunutzen.
Der Irak ist der fünftgrößte Ölproduzent der Welt, aber die Bevölkerung bekommt von diesem „Reichtum“ nichts mit aufgrund der massiven Korruption der Regierung und Verwaltung. 22 % der Bevölkerung leben laut den Vereinten Nationen in absoluter Armut und 25 % der Jugendlichen sind laut der Weltbank arbeitslos, die Dunkelziffer liegt noch viel höher. Seit 17 Jahren gibt es gravierende Korruption und Ungerechtigkeit im Irak, und auch der Sieg über den „Islamischen Staat“ (IS) vor zwei Jahren, welcher von der USA so sehr gefeiert wurde, veränderte nichts an der Lebenssituation der IrakerInnen.
Die Massenarbeitslosigkeit, das Fehlen der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und die brutale Gewalt des Staates gegen die DemonstrantInnen bewegte Tausende auf die Straße. Im Bezirk Sadr City von Bagdad, wo 3,5 Millionen Menschen leben, wurde die Demonstration brutal niedergeschlagen. Insgesamt wurden in den Protesten im ganzen Land bis zu 300 Menschen getötet und bis zu 6.000 verletzt. Die Regierung hat den Zugang zu WhatsApp und Facebook eingeschränkt, um die Mobilisierungen zu stoppen.
Die Protestierenden verlangen den Sturz von Premierminister Adil Abd al-Mahdi. Die irakischen Regierungen sind seit 2003 im Grunde in Koalitionen rivalisierender Parteien, um die Ressourcen des Landes zu plündern. Und die Forderungen der Massen gehen noch weiter, sie verlangen mehr Mitbestimmung, sie sprechen sich gegen das Mullah- Regime aus, welches bis heute viele wichtige Teile der irakischen Politik koordiniert und es werden Rufe laut wie: „Iran raus raus, Bagdad bleibt frei.“
Vor allem die Jugend, die seit zwei Jahrzehnten nichts gesehen und erlebt hat außer Krieg, Terror, Verelendung, Arbeitslosigkeit und Armut findet sich in den ersten Reihen der Demonstrationen, Streiks und Besetzungen.
So entstanden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad nach einer Woche der Proteste Formen der Selbstorganisation. Es gibt freies Essen und Strom. Street Art zeigt den Geist der Massen. Eines der höchsten Gebäude am Tahrir-Platz, in welchem sich ein türkisches Restaurant befand, wurde besetzt und ist zum Symbol der andauernden Proteste im Land geworden.
Am vergangenen Wochenende haben die ArbeiterInnen von Basra den Hafen der Stadt und die Ölfelder bestreikt.
Und der Staat versucht mit allen Mitteln, die Protestierenden zu unterdrücken. Mit Tränengas und Scharfschützen der Polizei versuchen sie, die Menschen auf den Straßen zu zerstreuen.
Bis jetzt hat die Regierung zwei verzweifelte Pakete von sozialen Reformen versprochen. Aber wenn einmal die Massen entschlossen sind, die korrupte Bande von PolitikerInnen, Geistlichen und Gelehrten loszuwerden, ist es unwahrscheinlich, dass solche schwachen Abhilfemaßnahmen die Dinge für lange Zeit zum Schweigen bringen. Die nächste Konfrontation und weitere Zuspitzung sind vorprogrammiert.
Auch hier finden Massenproteste gegen Korruption einerseits sowie gegen die klientelistische Aufteilung des Landes und den politischen Einfluss entlang konfessioneller Linien andererseits statt. Auf den Straßen von Beirut hört man sogar den Slogan „Klasse gegen Klasse“, auch wenn die Bewegung insgesamt nicht nur von den proletarischen, sondern auch den kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung getragen wird.
Und auch im Libanon sehen wir, dass wie in der Arabischen Revolution die Straßen und Plätze besetzt wurden, auch wenn das Land – anders als Irak, Syrien, Ägypten oder Libyen – keine Diktatur war.
Das Land an der Mittelmeerküste ist jedoch tief verschuldet. Die Staatsverschuldung erreicht 150 % der Wirtschaftsleistung. Aber auch im Libanon sind wichtige Dienstleistungen nicht bis kaum vorhanden. Es gibt keine Züge oder öffentlichen Nahverkehr. Für Stunden fällt auch die Stromversorgung immer wieder aus. Die Menschen in Beirut bekommen ihr Wasser per Lastwagen und aufgrund der seit 2015 nicht mehr funktionierenden Müllentsorgung verschmutzt die Küste am Beiruter Flughafen, weil hier der Müll am Strand abgelagert wird. Vor allem die sehr hohe Armuts- und Arbeitslosenrate brachte die Massen zu Hunderttausenden auf die Straße: 37 % der Jugendlichen sind arbeitslos. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen beträgt die Arbeitslosenrate 25 %. Außerdem leben rund 28,5 % der Menschen unterhalb der Armutsgrenze und am stärksten sind die Geflüchteten im Libanon betroffen. Dabei ist anzumerken, dass im Land bis zu 1,5 Millionen Geflüchtete leben. 65 % der Geflüchteten aus Syrien fristen ihr Dasein unterhalb der Armutsgrenze so wie 65 % der palästinensischen Flüchtlinge und 89 % der palästinensischen Flüchtlinge, die aus Syrien kamen.
Als weitere Steuern auf die Nutzung von WhatsApp kommen und die ArbeiterInnen und Jugendlichen wieder zur Kasse gebeten werden sollten, reichte es der Bevölkerung. An vorderster Front stehen oft Jugendliche und Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, die es satt haben, dass durch die starke Elitenbildung und Korruption mehr Geld den Reichsten und PolitikerInnenfamilien zugutekommt, diese dann in riesigen Villen mit Swimmingpool leben, während mehr als 3,2 Millionen Menschen in vollkommener Armut leben (Bevölkerungsanzahl insgesamt 5,9 Millionen).
Der Präsident das Landes, Michel Aoun, kündigte an, den Libanon mit einem 3-Punkte-Plan aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise zu führen. Zuvor hatte schon Hariri, der Premierminister, Reformen angekündigt. Aber alle diese vorgeschobenen Maßnahmen konnten die Massen bislang nicht täuschen. Saad Hariri trat schließlich am 29. Oktober nach massenhaften Protesten zurück.
Er hatte seinen Rücktritt angekündigt, nachdem die schiitische Hisbollahmiliz und die Amal-Bewegung, eine konservative und populistische Partei der SchiitInnen im Libanon, ein Protestcamp zerstört und die DemonstrantInnen auf dem Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut verprügelt hatten. Die Hisbollah präsentierte sich in der Vergangenheit zwar oft als „soziale Kraft“ und Vertreterin der Armen, aber sie ist selbst eine wichtige Stütze des herrschenden Systems. Während ihr Vorsitzender Nasrallah verbal zu Beginn „Verständnis“ für die Proteste bekundete, so lehnte er doch den Rücktritt Hariris ab. Die Hisbollah stellt nicht nur eine wichtige Verbündete des Iran und des Assad-Regimes in Syrien dar, sie ist auch eine der wichtigsten politischen Kräfte im Land, verfügt über eigene militärische Stärke und kontrolliert wichtige Transportknotenpunkte wie Flughafen und Häfen. Die schiitische Miliz rief ihre AnhängerInnen dazu auf, an den Protesten nicht teilzunehmen, nachdem in den von ihr beherrschten Stadtteilen Beiruts und in den Hochburgen im Süden des Landes Menschen ebenfalls gegen Korruption und Misswirtschaft auf die Straße gingen.
Der politische Einfluss im Land war seit seiner Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht immer unter verschiedenen konfessionell verankerten Parteien aufgeteilt und umkämpft. Umso beeindruckender ist es, dass heute die Menschen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit Seite an Seite für eine revolutionäre Erneuerung kämpfen. Trotz aller Gewalt, mit der man gegen die Demonstrierenden vorgeht, lassen sich die Menschen nicht unterdrücken und mundtot machen. Vor allem Generalstreiks legten und legen weiterhin viele Produktionsstätten des Landes lahm. Man lernt aus den Fehlern des Arabischen Frühlings und Gewerkschaften sind mit an der vordersten Front dabei. Und nicht nur die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in Gewerkschaften verdeutlicht das Potential. Teilweise zeigten die Aktionen auch antikapitalistischen Charakter. So wurde die Losung „Nieder mit dem Kapital“ von den Demonstrationen durch die Straßen von Beirut getragen, bis es die Bankiers und politischen FührerInnen hören konnten.
Seit Wochen sieht man, wie Beirut und Tripoli brennen und es auf den Hauptstraßen keinen Platz mehr gibt, da sie von Menschen überfüllt sind. Am 13. November wandte sich Präsident Aoun an die DemonstrantInnen und erklärte, dass er eine TechnokratInnen-Regierung gründen werde. Wer damit nicht einverstanden sei, solle in ein anderes Land auswandern. Dies zeigt das zynische Gesicht dieses Staates und den Unwillen der Herrschenden, einen Schritt auf die demonstrierenden Massen zuzugehen. Am gleichen Tag starb Alaa Abou Fakher, ein Mitglied der progressiven Sozialistischen Partei, bei einer Straßenblockade in Beirut. Er ist der erste Märtyrer der aufkommenden Rebellion im Libanon.
Eins wird in diesen Protesten deutlich: Die Menschen sind bereit, mit ihrem Leben dafür zu kämpfen, dass es Veränderungen gibt, die ihren Interessen entsprechen und nicht derjenigen, die alles besitzen und die ArbeiterInnenklasse ausbeuten und verelenden lassen.
Im Irak wie im Libanon erheben die Massen politisch-demokratische und soziale Forderungen – es kommt darauf an, diese zu verbinden und zu bündeln. Heute bilden demokratische Ziele – Abschaffung des Klientelismus, der Korruption, Verfassungsreform – den Kern der Forderungen auf den Straßen. RevolutionärInnen müssen diese z. B. durch die Forderung nach verfassunggebenden Versammlungen aufgreifen und mit der Errichtung von Kampforganen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten – Aktionsräten, Selbstverteidigungsorganen – verbinden. Auf diesem Weg könnte die Massenbewegung zu einer revolutionären Bewegung werden, wo der Kampf für demokratische und soziale Rechte mit dem für eine sozialistische Umwälzung verbunden wird.
Es scheint, als sei der Arabische Frühling nach einer langen Eiszeit der Konterrevolutionen und Diktaturen wieder erblüht, als würden Länder wie Ägypten, Irak oder der Libanon von einer neuen Welle der Revolutionen erfasst. Die Massen zeigen ihre Widerständigkeit auf den Straßen, sie besetzen wichtige Straßen und Transportknotenpunkte. Die ArbeiterInnen streiken mehrere Tage und legen die Produktionen des Landes lahm. Vor allem die Streiks, Massendemonstrationen und Besetzungen der Straßen und Gebäude zeigen die Macht der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, und dass, wenn sie einmal den Schleier des Kapitalismus und Nationalismus überwunden haben, auch die Korruption und Misswirtschaft erkennen.
Es bleibt die Frage, ob sie aus den Fehlern des im Jahr 2010 aufkommenden Arabischen Frühlings lernen und eine Strategie sowie eine Führung finden, um eine Revolution angehen zu können, die die Macht in die Hände der unteren und unterdrückten Klassen legt und eine demokratische Organisierung der ArbeiterInnenklasse gewährleistet, um es auch den KonterrevolutionärInnen wie den Generälen und Staatsoberhäuptern und dem Imperialismus unmöglich zu machen, diese Revolution zu zerschlagen.
Wir rufen zur internationalen Solidarität mit all jenen auf, die auf den Straßen von Bagdad und Beirut kämpfen. Was wir brauchen, ist eine unabhängige, massenhafte und militante Organisierung der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, um die Staatsapparate des Nahen Ostens, deren Grenzen mit dem Lineal der ehemaligen Kolonialmächte gezogen wurden, zu zerschlagen und eine Sozialistische Föderation des Nahen Osten auszurufen – von Rojava bis Palästina, von Libanon bis Irak.