Bruno Tesch/Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)
Die Deutschlandpolitik der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs war Ausdruck der neuen Nachkriegsordnung. Mit der endgültigen Niederzwingung des „durchgeknallten“ innerimperialistischen Konkurrenten Deutschland und der kriegsbedingten Unterordnung der imperialistischen Verbündeten Frankreich und Britannien stieg der US-Imperialismus als neuer Hegemon empor. Zugleich bescherte der Sieg über den deutschen Faschismus aber auch der UdSSR und damit der stalinistischen Bürokratie eine Stärkung. Die im Krieg durch das volksfrontartige Zweckbündnis verschleierten Klassengegensätze mussten wieder voll durchbrechen. Ein neuer, „Kalter“ Krieg war vorprogrammiert.
Deutschland wurde nun zu dessen besonderem Austragungsort. Das Potsdamer Abkommen der Kriegsalliierten vom August 1945 mit seinen Plänen zur Entmilitarisierung, Abschaffung der Rüstungsproduktion, Entflechtung von Kartellen und Behandlung Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit war bald darauf Makulatur. Die Installation des Besatzungsrechts drückte bereits das gegenseitige Misstrauen aus, denn die Durchführung von Maßnahmen oblag den jeweiligen Militärregierungen der verschiedenen Besatzungszonen. Der gemeinsame Kontrollrat stellte nur ein Koordinationsgremium ohne direkte Weisungsbefugnisse dar. Zudem kam es schon vor Potsdam zu empfindlichen atmosphärischen Störungen zwischen den „Waffenbrüdern“, als die US-Administration der SU weitere Hilfsleistungen verweigerte.
In den USA gab es noch während des Krieges Kontroversen über ein mögliches militärisches Vorgehen gegen die Sowjetunion, weil das Kriegsgeschehen ein Vorrücken der Roten Armee nach Mitteleuropa mit sich brachte. Eine neue kriegerische Konfrontation wäre aber zu riskant gewesen. Immerhin zwang die veränderte Lage, den Blick über Deutschland hinaus auf Gesamteuropa zu richten. Die Absichten zur Zerstückelung und der Morgenthau-Plan von 1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden fallengelassen zugunsten einer modifizierten imperialistischen Strategie, die schließlich im Marshall-Plan mündete. Danach sollten die von der Roten Armee besetzten und von bürgerlichen ArbeiterInnen- oder Volksfrontregierungen verwalteten Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der Kreml-Bürokratie friedlich wieder entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So wurden die geopolitisch und ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands mittels Marshall-Plan zum Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus ausgebaut.
Die stalinistische Politik war von einem extremen Sicherheitsdenken dominiert. Was wie weltrevolutionäre Ausweitungsgelüste wirkte, war in Wahrheit nichts weiter als der Versuch, die durch den Kriegsverlauf errungenen Gebietsgewinne zu einem Schutzgürtel für die bürokratischen Interessen auszubauen. So wurden das Baltikum und Ostpolen unmittelbar dem eigenen Territorium einverleibt, die Staaten Osteuropas von Polen bis Bulgarien sollten die eigentliche Pufferzone bilden, während Deutschland (zu dieser Überlegung gehörte ursprünglich auch Österreich) als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich geführtes und ungeteiltes Land vorgeschaltet sein sollte.
Jedoch weder der US-imperialistische noch der Plan Moskaus gingen wie anfangs konzipiert auf. Ein Erstarken der Bourgeoisie in Osteuropa konnte die Kreml-Bürokratie nicht hinnehmen; sie entschied sich für deren Enteignung und die Errichtung von ArbeiterInnenstaaten. Ihre Pläne für einen gesamtdeutschen Staat wiederum wurden durch den Aufbau eines westdeutschen Separatstaates durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine Wahl mehr, und die Kreml-Bürokratie musste nachziehen und auf ihrem Besatzungsgebiet ebenfalls einen ArbeiterInnenstaat als Schutzzone etablieren.
Die beiden deutschen Teilstaaten sind also Frucht eines weltpolitischen Prozesses und vereinen die Gegensätze der Nachkriegsordnung auf unmittelbar benachbartem und daher besonders spannungsgeladenem Raum, im Sonderstatus von Berlin sogar schicksalhaft in einer Stadt. Die DDR blieb sogar bis 1952, also drei Jahre nach ihrer Gründung, als die deutschlandpolitische „Stalin-Note“ den Westbesatzungsmächten den Abschluss eines Friedensvertrags und die deutsche Wiedervereinigung (als kapitalistische) anbot, bloße Verhandlungsmasse für die Interessen der Kreml-BürokratInnen. Im Grunde hat sich diese Haltung bis zum Ende der DDR nicht geändert und all jene enttäuscht, die sich an den Strohhalm klammerten, Gorbatschow würde die kapitalistische Wiedervereinigung nicht zulassen.
Die Errichtung von degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach dem Vorbild der UdSSR war für die StalinistInnen stets nur ein Mittel, um sich mit dem Imperialismus zu arrangieren. So sehr diese Gebilde der Weltbourgeoisie auch ein Dorn im Auge waren, garantierte die Bürokratenherrschaft doch andererseits eine gewisse Berechenbarkeit und Stabilität der Verhältnisse, die dem Imperialismus seine politischen und ökonomischen Geschäfte erleichterte. Als oberstes Gebot für die Kreml-Bürokratie, bevor sie zur Schaffung dieser besonderen, bürokratisierten Form von ArbeiterInnenstaat schritt, galt stets, sicherzugehen, dass jedwede Art von Eigenständigkeit der ArbeiterInnenbewegung, die ihre Herrschaft in Frage stellen könnte, restlos zerstört war. Erst wenn sie die Keime einer revolutionären Entfaltung ausgerottet hatte, nahm sie die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in Angriff.
Notwendige Voraussetzung für diesen Weg war auch in Deutschland die Ausschaltung eigenständiger revolutionärer Bestrebungen aus der ArbeiterInnenklasse in Gestalt von Antifa-Ausschüssen und Betriebsräten, die vielfach auf örtlicher und betrieblicher Ebene das Machtvakuum der alten geflohenen oder desavouierten Verwaltungs- und BetriebsdirektorInnen ausfüllten. Diese Organe einer potentiellen rätedemokratischen ArbeiterInnenmacht wurden von der sowjetischen Militärverwaltung und ihren HelfershelferInnen aus den Reihen der entstehenden ArbeiterInnenbürokratie zerschlagen. Damit erwies sich der Stalinismus als Agentur des Imperialismus auf dem Boden eines noch bürgerlichen Staates und bediente sich dessen Instrumentarien.
Wie das Beispiel Ostösterreichs zeigt, war die Enteignung der Kapitalistenklasse und die Errichtung eines von Beginn an bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaates keineswegs ein unvermeidliches Produkt der stalinistischen Kontrolle über den Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone. Dieser Schritt zur Enteignung der Bourgeoisie durch die StalinistInnen war vielmehr Produkt der internationalen Entwicklung und der Herausbildung der Nachkriegsordnung.
Dieses Vorgehen der StalinistInnen hatte wesentliche Konsequenzen. Die Etablierung nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse – für sich genommen zweifellos ein Fortschritt – wurde auf konterrevolutionäre Weise vollzogen. Ihre innerdeutschen, aber vor allem ihre internationalen Auswirkungen waren mit einer Stabilisierung der imperialistischen Weltherrschaft und einer Ruhigstellung des revolutionären Potentials des Proletariats verbunden.
Die ArbeiterInnenklasse in der DDR (und in der BRD) spielte nicht nur keine aktive politische Rolle. Ihr wurde mit dem „ersten ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenstaat auf deutschem Boden“ auch gleich die erste bürokratische Diktatur verpasst und damit von Beginn an der „Sozialismus“ in Ost und West diskreditiert. Die DDR-Staatsmaschinerie war vom Typus her bürgerlich, ein abgehobener allmächtiger Apparat, ein Heer an Repressionskräften und StaatsdienerInnen. Es ist kein Wunder, dass dieser Apparat später keinerlei Widerstand gegen die Restauration des Kapitalismus leistete, sondern im Gegenteil die meisten BürokratInnen versuchten, im vereinten imperialistischen Deutschland unterzukommen. Dass ihnen das oft nicht allzu gut gelang, liegt daran, dass die westdeutsche Kapitalistenklasse schon einen erprobten Staatsapparat hatte und auf einen großen Teil der NVA, der Volkspolizei und der Beamtenschaft nicht angewiesen war.
Dass sich das Proletariat keineswegs freiwillig in die Etablierung der Nachkriegsordnung fügte, beweisen der ArbeiterInnenaufstand 1953 in der DDR ebenso wie die Kämpfe um die Verstaatlichung der Grundstoffindustrie und gegen die Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes im Westen. Der „Kommunismus“ war rasch in der ArbeiterInnenklasse in Ost und West diskreditiert. Hinzu kam, dass die stalinistische Diktatur in der DDR jede unabhängige Subjektbildung der ArbeiterInnenklasse, selbst verglichen mit vielen osteuropäischen „Bruderländern“ besonders systematisch kontrollierte und somit das Subjekt jeder sozialistischen Umgestaltung zerstörte.
Zweitens war die Errichtung der DDR (wie des gesamten Ostblocks) Teil der Etablierung einer reaktionären Nachkriegsordnung, die neben der territorialen Ausdehnung bürokratischer Planung v. a. die konterrevolutionäre Aufteilung zwischen Ost und West, unter unbedingter Anerkennung der Herrschaft des Kapitals in den imperialistischen Sphären, implizierte. Die Errichtung degenerierter ArbeiterInnenstaaten war nur die andere Seite der Preisgabe des griechischen Widerstandes gegen die Bürgerlichen und die BritInnen, der Entwaffnung der ArbeiterInnen durch PCI und KPF. In der Teilung Deutschlands fassten sich alle Probleme und Widersprüche dieser reaktionären Nachkriegsordnung zusammen.
Hier standen einander nicht nur die militärischen Apparate der DDR und der BRD gegenüber, sondern Deutschland war auch zentraler Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte die deutsche Teilung auch zu einer territorial fixierten Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung unter die Apparate von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – ein politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten. Zweifellos hatten beide ein beachtliches Eigeninteresse an diesem Monopol und der Säuberung der ArbeiterInnenbewegung von allen widerspenstigen Elementen. Zugleich waren sie aber auch verlängerter Arm der führenden politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.
Anders als die Oktoberrevolution brachte die Schaffung degenerierter ArbeiterInnenstaaten in Osteuropa keinen revolutionären Impuls für die internationale ArbeiterInnenbewegung mit sich. Im Gegenteil, sie führte zur Versteinerung der politischen Verhältnisse und läutete eine rund zwei Jahrzehnte andauernde konterrevolutionäre Periode ein.
Diese Politik des Stalinismus konnte sich natürlich nicht nur auf die Rote Armee stützen. Um rasch ein politisches Gegengewicht gegen die Gefahr einer revolutionären Organisierung der ArbeiterInnenklasse schaffen zu können, wurden von der sowjetischen Militärverwaltung nicht nur früher als in den Westzonen Parteien zugelassen, sondern es sollte ein verlässliches Kontrollorgan der ArbeiterInnenschaft entstehen. Dazu bediente man sich seitens der StalinistInnen der tiefen Sehnsucht in der ArbeiterInnenklasse nach Einigkeit, die gerade aus der schmerzlichen Erfahrung der historischen Niederlage des deutschen Proletariats gegen den Faschismus resultierte.
Die deutschen StalinistInnen der KPD folgten auch nach dem Krieg der seit 1935 für alle KPen verbindlichen Volksfront-Linie, d. h. sie forderten eine bürgerliche Republik unter Einschluss aller antifaschistischen demokratischen Kräfte und schlossen ein Rätedeutschland aus. Sie verfochten ein Etappenmodell, wonach durch die Blockaden der deutschen Geschichte zunächst die bürgerlich-demokratischen Aufgaben von 1848 erfüllt werden müssten. Dann erst könne an die Aufgaben eines gesellschaftlichen Zukunftsmodells, des Sozialismus, gedacht werden. Programmatisch fiel die KPD damit deutlich hinter die andere ArbeiterInnenmassenpartei, die SPD, zurück, die immerhin für die sofortige Verstaatlichung der Schlüsselindustrien eintrat und von der auch das Motto „Deutschlands Zukunft wird sozialistisch oder gar nicht sein“ (Dr. Kurt Schumacher) stammte.
Die Vereinigung beider Parteien wurde im Ostteil von den StalinistInnen aktiv betrieben, als sie sich sicher sein konnten, die Kontrolle über diesen Prozess ausüben zu können. Es handelte sich jedoch nicht einfach um eine „Zwangsvereinigung“. Dieser Prozess reflektierte auch Bedürfnisse nach Einheit der ArbeiterInnenklasse und reale Unterstützung dieses Projekts durch bedeutende Teile der SPD-Mitgliedschaft. Hinzu kommt, dass sich SPD und KPD politisch-programmatisch keineswegs grundsätzlich unterschieden. Beide waren bürgerliche ArbeiterInnenparteien, Parteien der sozialen Reform, wenn auch mit grundlegend anderer internationaler Ausrichtung.
Dadurch geriet die Ost-SPD mehr und mehr in die Defensive. Die Mentorin der KPD – die sowjetische Besatzungsmacht – kontrollierte den Staatsapparat im Osten. Die West-Führung der SPD hintertrieb gleichzeitig jede Vereinigungsbestrebung ebenso bürokratisch, wie sie von der KPD-Führung ihrerseits vorangetrieben wurde. Die Führung um Schumacher setzte vor allem auf den britischen Imperialismus und dessen Labour-Premierminister Attlee.
Der Zusammenschluss von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1946 war nicht das Ergebnis prinzipienfester Bilanz- und Perspektivdiskussionen, die eine Vereinheitlichung des Bewusstseins der ArbeiterInnenbewegung auf einem höheren Niveau sich auch nur zum Ziel gesetzt hätte. Es ging um einen rein organisatorischen Akt, der ins nackte Machtkalkül der stalinistischen BürokratInnen passte, die damit eine Legimitationsbasis für ihre spätere Rolle als Staatspartei schufen. Die Strukturen der SED waren von Anfang an undemokratisch, ihr Programm reformistisch und ihre Praxis konterrevolutionär und immer an den Erfordernissen der Kreml-Bürokratie orientiert. Als erste Visitenkarte ihrer frisch erlangten Monopolstellung in den Ost-Gewerkschaften schaffte die SED das Streikrecht ab. Die unabhängigen Betriebsräte wurden mit Beginn des 2-Jahresplans 1948 ausgemerzt.
Im Laufe der 40-jährigen DDR-Geschichte hat es verschiedene Kurswechsel der SED gegeben. Der erste kam sehr bald nach der Verkündung des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der zweiten Parteikonferenz 1952. Zwangskollektivierung von Kleinbauern/-bäuerinnen und Vorgehen gegen das Kleinbürgertum in Handel und Dienstleistung verursachten eine dramatische Verschlechterung der Versorgungslage, so dass diese Maßnahmen schon ein Jahr später wieder wirtschaftlichen Vergünstigungen für die kleinbürgerlichen Schichten und gleichzeitigen Belastungen des Proletariats (Normenerhöhungen in der Produktion) wichen. Dies brachte wiederum die ArbeiterInnen der DDR in Aufruhr. Die Regierung Ulbricht stand kurz vor der Ablösung, doch paradoxerweise rettete gerade der Aufstand das Regime, das er eigentlich stürzen wollte, denn die Kreml-Bürokratie konnte sich in der Situation keinen Rückzug oder Schwäche leisten, sonst hätten sie womöglich die unterdrückten Massen anderswo in ihrem Einzugsgebiet zu ähnlichen Aufständen ermutigt.
Dass die Ulbricht-Ära doch zum Auslaufmodell wurde, lag daran, dass das 1963 ins Leben gerufene NÖSPL- (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung)-Experiment, das erhebliche Mehrbelastung v. a. des Arbeitszeiteinsatzes für die ArbeiterInnenklasse mit sich brachte, Mitte der 1960er Jahre verhältnismäßig erfolglos wieder abgebrochen werden musste, aber keine neuen Impulse mehr von dieser Regierungsspitze ausgingen.
Das sie 1971 ablösende Honecker-Regime konnte kurzfristig ebenfalls wirtschaftliche Erfolge vorweisen: Kaufkraft und Warenangebot stiegen. Dies wurde erreicht durch die taktische Wende, „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ genannt, womit eine Einengung des Entscheidungsspielraums der einzelnen Betriebe gemeint war. Die sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Bedingungen mit gestiegenen Rohstoffpreisen, Verschuldung und erhöhten technologischen Anforderungen schlugen in den 1980er Jahren voll durch. Mangelerscheinungen konnten in der DDR zunehmend weniger kaschiert werden. Das Honecker-Regime war untragbar geworden.
Bevor wir zum Zusammenbruch der DDR kommen, wollen wir noch einmal auf die Bedeutung der nationalen Frage eingehen.
Die beiden deutschen Teilstaaten blieben immer ein Symbol für die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre gegenseitige Beziehung ein Barometer für den jeweiligen Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Hauptmächten des Status quo, dem US-Imperialismus und der UdSSR. Nicht zufällig fällt gerade das sinnbildhafteste Ereignis der deutschen Teilung, der Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als die internationalen Beziehungen auf dem Gefrierpunkt angelangt und der Kalte Krieg in einen heißen atomaren Krieg (Kubakrise) umzuschlagen drohte.
1961 markierte einen Wendepunkt in den innerdeutschen Verhältnissen und auch eine Abkehr der in der DDR herrschenden SED-Bürokratie selbst von einem verbal positiven Bezug zur deutschen Einheit und eine Hinwendung zum Versuch des Aufbaus einer eigenständigen Nationalidentität der DDR. Maßnahmen von Zwangskollektivierung, Enteignung und Denunziation hatten bereits seit den frühen 1950er Jahren zur Flucht von Bauern/Bäuerinnen, HandwerkerInnen und KleineigentümerInnen in den deutschen Weststaat geführt. Nach der Niederschlagung des ArbeiterInnenaufstands 1953 und dem am Ende des Jahrzehnts immer spürbarer werdenden Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West drohte die DDR an qualifizierten industriellen Arbeitskräften, die ebenfalls in die BRD abwanderten, auszubluten. Dagegen musste etwas unternommen werden.
Das Nadelöhr Berlin mit Flüchtlingsauffangstellen, hundertausenden Ost-West-ArbeitspendlerInnen und den Wechselstuben, wo sich der Verfall der DDR-Währung empfindlich bemerkbar machte, wurde zugemauert. Die PendlerInnen waren für Westfirmen besonders lukrativ und für die DDR verheerend, da die ArbeiterInnen mit Wohnsitz im Osten und Arbeitsstelle im Westen Sozialleistungen der DDR bezogen und die Valuta im Verhältnis 1:10 rückgetauscht wurde. Auch ein gesunder ArbeiterInnenstaat hätte die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse schützen müssen, aber niemals um den Preis, die Bevölkerung in einer geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung nur in die „sozialistischen Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die deutsche Spaltung auf Dauer buchstäblich betoniert zu sein.
Zwar erholte sich die DDR bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer noch günstigen Weltkonjunktur, doch in den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte sich das stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und besonders in der BRD dem Antikommunismus auch in der ArbeiterInnenschaft immens Vorschub geleistet. Die DDR-ArbeiterInnenklasse erstickte ideologisch im Provinzmief, verfiel durch die nun noch effektivere Gängelung seitens der Bürokratie in politische Apathie und wurde so erst recht zum „Fallobst“ für die BetreiberInnen der kapitalistischen Restauration.
1972 wurde der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis der DDR-Bürokratie bedienten, das Paradoxon eines größeren ökonomischen Bewegungsspielraums in der DDR. Auf dieser Grundlage konnten sich die innerdeutschen Beziehungen „normalisieren“, die ein prima Klima v. a. unter der CDU-geführten Regierung der 1980er Jahre schufen.
Das scheinbare politische Laisser-faire war allerdings begleitet durch eine neue imperialistische Offensivstrategie der „Totrüstung“ gegen die ArbeiterInnenstaaten, die zusätzlich die Wirtschaft der DDR neben den hausgemachten Problemen mit den abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in Mitleidenschaft zog. So ließ sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als einvernehmliche Hilfe anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit der DDR von der BRD, da die RGW-Zusammenarbeit des Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz am Bein wurde.
Aus der Schuldenfalle und der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung von Devisen auf Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die DDR schließlich mit den herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus eigener Kraft befreien, so dass der BRD-Imperialismus die Wiedervereinigung in seinem Sinne über diesen Umweg vorbereiten half.
40 Jahre unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und eine praktische Abschottung gegeneinander sind natürlich nicht spurlos am Bewusstsein insbesondere der ArbeiterInnenklasse diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze vorübergezogen, dennoch ist die nationale Frage immer wieder aufgetaucht: 1953, 1961, 1970 (Brandt-Besuch). Der Mauerfall 1989 war die Bestätigung, dass die seit dem Mauerbau scheinbar negativ gelöste Frage der deutschen Wiedervereinigung plötzlich wieder zur realen Perspektive wurde. Es war nicht entscheidend, dass in diesem Augenblick kaum jemand der DDR-BesucherInnen im Westen an die Möglichkeit geglaubt hatte, sondern vielmehr, dass das frisch gewonnene Selbstbewusstsein, durch Druck etwas zu erreichen, aber auch die Verinnerlichung der beeindruckenden Konsumkulisse der BRD beide Optionen, sowohl die der revolutionären Wiedervereinigung wie die der kapitalistischen Restauration der DDR zuließen.
Die nationale Frage in Deutschland war immer eng mit der Nachkriegsordnung verbunden. Die Frage der politischen Revolution in der DDR und der sozialen Revolution in der BRD sowie ihrer Kombination zur Errichtung einer gesamtdeutschen Räterepublik musste notwendigerweise immer zum direkten Angriff auf diese Ordnung werden.
Jede Revolution in Deutschland nach 1945 hätte nicht nur mit dem BRD- oder DDR-Staatsapparat, sondern auch mit der Sowjet-Armee bzw. den US-amerikanischen, britischen und französischen Truppen zu tun gehabt. Das bestätigte auch die politisch revolutionäre Krise in der DDR, wenn auch mit konterrevolutionärem Ausgang. Ohne Einverständnis v. a. der Sowjetunion zur praktischen Einverleibung in die BRD, zum „Beitritt“ der DDR, v. a. aber zur Ausdehnung der NATO auf dieses Territorium wäre die deutsche Einheit in dieser Form fraglos nicht zustande gekommen.
Die Teilung Deutschlands führte natürlich auch zu einer massiven Einschränkung demokratischer Rechte, der Reisefreiheit im Besonderen. Diese war immer ein wichtiger Nährboden für politische Unzufriedenheit und Proteste, vor allem gegen das SED-Regime.
Es ist damit klar, dass die Teilung Deutschlands als solche bei der ArbeiterInnenklasse keine wie immer geartete Legitimität erwarten konnte. Die Versuche des SED-Regimes, die Existenz einer DDR-Nation zu beweisen, waren von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Mit der immer tiefer werdenden Krise der bürokratischen Planung und dem damit verbundenen Schwinden der sozialen Stützen des SED-Regimes musste die nationale Frage daher früher oder später akut werden.
Die Existenz der DDR als ökonomisch immer schwächer werdender Teil Deutschlands stand und fiel in Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens der Stabilität der Nachkriegsordnung. Zweitens damit, den Arbeitern und Arbeiterinnen in der DDR eine wirtschaftliche und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können. Wie jedes Regime der Welt konnte sich auch die stalinistische Herrschaft nicht nur auf Repression stützen, sondern beinhaltete ein Element des Kompromisses mit der ArbeiterInnenklasse, besonders mit den oberen Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung, die teilweise in die unteren Ebenen der Bürokratenkaste übergingen.
Dieser Ausgleich erstreckte sich auch auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, ja musste diese als sozial stärkste Schicht umfassen. Er bestand vor allem darin, dass das Regime – politische Ruhe vorausgesetzt – zumindest eine spürbare Steigerung des Lebensstandards bringen müsse. Diese Notwendigkeit reflektierte auch Honeckers Wende zu vermehrter Konsumgüterproduktion am Beginn der 1970er Jahre.
Die DDR blieb jedoch ökonomisch immer mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse spürte diese Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der Produktionsmittel, immer stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den Export bei gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der Lebensbedingungen, immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem Westen. Hinzu kam, dass die „Betonköpfe“ in der SED-Führung verglichen mit den polnischen oder ungarischen „Bruderländern“ sehr viel unbeweglicher und „reformfeindlicher“ wirkten, was die Hoffnung in eine schrittweise Reform à la Gorbatschow immer unrealistischer erscheinen ließ.
Daraus ergibt sich, dass erstens eine tiefe politische Krise der SED-Herrschaft recht rasch die Frage der wirtschaftlichen Zukunft aufwerfen musste; dass zweitens die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System der bürokratischen Planung schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990 geschichtlich zur Disposition stand. In der Wirklichkeit hatte, wie sich herausstellen sollte, selbst die Bürokratie die Hoffnung verloren, dass dieses System durch eine reformierte Variante der SED-Herrschaft wieder in Schwung zu bringen sei.
Damit war das gesamte DDR-Gesellschaftssystem in Frage gestellt. Dass die nationale Frage im Herbst 1989 rasch solche Bedeutung erlangen musste, hatte also vor allem gesellschaftliche Ursachen (wie das bei der nationalen Frage immer der Fall ist). Sie war keineswegs reaktionären „Urinstinkten der Deutschen“ geschuldet, schon gar nicht wurde sie einfach „von außen“ durch die Kohl-Regierung „hineingetragen“ oder „künstlich“ aufgebauscht.
Es handelt sich vielmehr um eine spezifische historische Form, in der die nationale Frage aufgeworfen wurde: um die Infragestellung der reaktionären Nachkriegsordnung, die sich in der deutschen Teilung manifestierte. Der Zusammenbruch eines der Pfeiler dieser Nachkriegsordnung eröffnete die Möglichkeit, dass die in der Blockbildung erstarrten Klassenwidersprüche auch im anderen Teil dieser Nachkriegsordnung wieder in Bewegung gerieten.
Gerade wenn wir die zentralen Aufgaben der politischen Revolution in der DDR – der Eroberung der Staatsmacht und Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar deutlich, dass diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und sozialen Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?
Der Zusammenbruch eines Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der DDR konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution, politische Revolution oder soziale Konterrevolution. Die bürokratische Konterrevolution wäre zwar im Herbst 1989 noch möglich gewesen. Sie hätte aber angesichts der wirtschaftlichen Krise der bürokratischen Planung ziemlich rasch zur nächsten manifesten politischen Krise führen müssen, wahrscheinlich mit einer ArbeiterInnenklasse, die von „Sozialismus“ endgültig genug gehabt hätte und die noch empfänglicher für bürgerlich-demokratische Lockungen gewesen wäre. Daher waren im größeren geschichtlichen Maßstab nur zwei Optionen wirklich offen: politische Revolution oder soziale Konterrevolution.
Die Frage eines mutigen und revolutionären Aufgreifens der nationalen Frage ergab sich daher für Kommunisten und Kommunistinnen nicht aus irgendwelcher Einheitstümelei, sondern aus der Analyse der sozialen Voraussetzungen, der politischen und wirtschaftlichen Dynamik der Krise des SED-Regimes. Daher war die Losung einer Vereinigten Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale Frage vom Beginn der Massenbewegung in der DDR an.
Sie musste jedoch konkret übersetzt werden in Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen zwischen den Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in ein Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären ArbeiterInnenregierung verbunden werden musste. Die LRKI (Vorläuferin der LFI) hat von Beginn an die Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu bekämpfen. Wir dokumentieren den Abschnitt zur nationalen Frage aus einer der ersten Stellungnahmen unserer internationalen Tendenz vom November 1989 am Ende dieses Textes.
Die Frage der Wiedervereinigung war von Beginn an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen der Mobilisierung gegen die Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing damit zusammen, dass gerade in den Stellungnahmen des Großteils der kleinbürgerlich geprägten „Bürgerbewegung“ die Forderungen im Wesentlichen auf demokratische Reformlosungen beschränkt waren. Diese Ziele drückten zweifellos berechtigten Unmut aus und ihr Gehalt musste von RevolutionärInnen in dieser Phase aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.
Die Blindheit gegenüber den ökonomischen Fragen fand ihren Ausdruck allerdings nicht nur in direkter Ignoranz. Wo die Bürgerbewegung und besonders ihr linker Flügel wirtschaftliche Forderungen und Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen Planwirtschaft entweder eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“ entgegen. Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie die Vereinigte Linke zu, die in der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“ nach jugoslawischem Muster das Wort redete.
Hinzu kam, dass die Bürgerbewegung insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates vertrat. Die Macht lag zwar auf der Straße, wie ein geflügeltes Wort dieser Tage hieß – aufheben wollte sie allerdings in dieser Phase niemand. Der Druck der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden Tische“, die sowohl der perspektivlosen und konfusen Opposition wie auch der noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.
Sie erlaubten allen Kräften, vor allem die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“ Gremien zu vertrösten. Hinzu kam außerdem, dass auch die zunehmende Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen zur Volkskammer dazu beitrug, die politische Energie von der Straße an die Wahlurnen zu verlagern.
Die Bürgerbewegung übergab in dieser Phase die Initiative, die sie ohnedies nie haben wollte, an die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS andererseits.
Vom Sommer 1989 bis zur Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Bis zum November 1989 befand sich die Massenbewegung, befand sich die Revolution in der Offensive. Es schien hier nur vorwärtszugehen. Der scheinbar aus Stahl gegossene Parteiapparat, die Stasi usw. mussten Schritt für Schritt zurückweichen, zeigten, wie marode das Regime schon war.
Nachdem Gorbatschow klargemacht hatte, dass die sowjetischen Truppen nicht gegen die Bevölkerung eingesetzt würden und die SU ein solches Vorgehen von den Staatsorganen der DDR missbilligen würde, waren die Tage der Honeckers und Co. gezählt. Wie oft in solchen Krisen tat die herrschende Schicht ihr Übriges, den letzen Kredit zu verlieren, so z. B. als Honecker den hunderttausenden, die im Sommer die DDR fluchtartig verlassen hatten, noch ausrichten ließ, dass er ihnen keine Träne nachweine. Solche „Botschaften“ der stalinistischen Führung haben dazu beigetragen, dass die unten nicht länger bereit waren, die oben wie bisher weitermachen zu lassen.
Mehr noch, die tiefe Krise in der DDR hatte auch in der SED, z. B. auf dem Parteitag von Dezember 1989, zu einer politischen Differenzierung geführt. Unter den Millionen, die in der DDR auf die Straße gingen, waren auch hunderttausende SED-Mitglieder, die von „ihrer Parteiführung“ endgültig die Schnauze voll hatten.
Es war in den ersten Monaten der Wende keineswegs der Fall, dass die Restauration des Kapitalismus – sei es in der DDR selbst oder in Form einer kapitalistischen Wiedervereinigung bewusstes Ziel der Massenbewegung war. Auch der BRD-Imperialismus, die SPD und noch viel mehr die westlichen imperialistischen Mächte sahen hier noch nicht die Chance einer raschen Ausdehnung des Kapitalismus in den Osten (und viele imperialistische PolitikerInnen waren darüber auch froh, da sie keineswegs ein Interesse an einem erstarkenden deutschen imperialistischen Rivalen hatten).
Die Antwort darauf liegt grundsätzlich nicht darin, dass besonders kluge oder dumme Aktionen einzelner PolitikerInnen dazu geführt hätten. Natürlich war z. B. die Maueröffnung auch auf einen Akt der „Panik“ des Politbüros zurückzuführen. Er macht allerdings durchaus Sinn vom Standpunkt der Selbsterhaltung der Bürokratie, die zu diesem Zeitpunkt ein Interesse daran hatte, dass die Bürger und Bürgerinnen der DDR „Dampf ablassen“ frei nach dem Motto: Wer bei Aldi einkauft, läuft nicht auf Demos gegen das DDR-Regime. Es ist überhaupt eine verschwörungstheoretische Geschichtsinterpretation, wenn gemeint wird, dass der Fortbestand des reaktionären Grenzregimes irgendeine grundsätzliche Änderung gebracht hätte.
Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:
Diese Faktoren und die internationale Bedeutung der politisch-revolutionären Krise implizierten von Beginn an, dass sich die Ereignisse in der DDR überaus rasch entwickeln würden. Doch trotz ungünstiger Voraussetzungen – Zerstörung des proletarischen Klassenbewusstseins und Fehlen einer revolutionären Avantgardepartei weltweit – entwickelten sich im Zuge der Krise politische Strömungen, die den Wunsch nach einer fortschrittlichen, proletarisch-revolutionären Lösung zum Ausdruck brachten. Das betraf vor allem in der Frühphase der Bewegung die Vereinigte Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit und einen Anhang unter der Intelligenz und Teilen der bewussten ArbeiterInnenschaft stützen konnte und einige hundert Aktivisten und Aktivistinnen und zehntausende AnhängerInnen umfasste. Ebenso führten die Ereignisse zur politischen Oppositionsbildung in den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige Gewerkschaften – und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in der SED-PDS.
In diesen politischen Bewegungen nach links hätten Revolutionäre und Revolutionärinnen das Rohmaterial für eine wirklich revolutionäre Partei finden können.
Die Entwicklung in der DDR wurde allerdings noch dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht nur nicht als bewusstes politisches Subjekt auftauchte, sondern auch betriebliche und kommunale Formen proletarischer Selbstorganisation sehr rar blieben (obwohl es dokumentierte Fälle von betrieblichen Räten in der DDR gibt). Es wäre jedoch verkürzt, das Ausbleiben proletarischer Machtorgane im Betrieb und in der Gesellschaft nur auf ein geringes Niveau des Klassenbewusstseins zurückzuführen.
Die SED-Bürokratie war sehr rasch zurückgewichen. Im Betrieb erschien die Bürokratie kaum noch als Gegnerin. Damit entfiel ein unmittelbarer praktischer Grund, die Macht im Betrieb, gestützt auf Machtorgane der Arbeiter und Arbeiterinnen, direkt in die Hand zu nehmen.
Revolutionäre Agitation und Propaganda mussten sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von räteähnlichen Strukturen und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen konzentrieren und diese mit der Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbinden. Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen, ohne den revolutionären Sturz der SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die Forderung nach Abzug der sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei, Armee, Betriebskampfgruppen und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.
Ein zweiter zentraler Punkt war der Kampf gegen demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des fehlenden Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik des Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems mit Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden dieser Illusionen zu minimieren.
Eine solche Herangehensweise war umso dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess November/Dezember 1989 seinen Schwung verloren hatte, die spontane Massenmobilisierung mehr und mehr unter die Fuchtel offen restaurationistischer Führungen geriet und auch SED, SED-PDS (später die PDS) unter Krenz, Modrow und Gysi auf den Kurs der kapitalistischen Wiedervereinigung umschwenkten. Bezeichnenderweise war es in dieser Phase Krenz, der als erster von einem „Vierten Reich“ sprach, das er entstehen sah.
Die „Runden Tische“ waren in dieser Hinsicht für alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen Kräfte ein Mittel, sich dem Druck der Arbeiter und Arbeiterinnen zu entziehen. In dieser Phase wurde von der westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die Frage der kapitalistischen Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.
Im Januar 1990 versuchte die SED-PDS einen letzten Vorstoß zur Restabilisierung der Stasi, zu der sie auch das Auftauchen faschistischer Schmierereien nutzte. Doch dieser Versuch versandete rasch und die SED-PDS willigte ein, im März 1990 Wahlen abzuhalten.
Die Massenbewegung war damit von der Straße weg vor die Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es die SPD, die nun die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten in der DDR auf sich zog. Aber die SPD hatte einen Wiedervereinigungsplan, der weder die historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot: Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer Wiedervereinigung“ stand).
Die zögerliche Haltung der SPD hatte nichts mit antiimperialistischen Überlegungen zu tun, sondern spiegelte ihre soziale Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie wider, die borniert, aber nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die Expansion des deutschen Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den Klassenbrüdern und -schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterInnenklasse im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend.
Statt gemeinsam gegen die Angriffe des Kapitals zu kämpfen, dem Feldzug des deutschen Kapitals im Osten gemeinsam entgegenzutreten und gleichzeitig für die Reorganisation der Planwirtschaft auf Kosten der Profite der deutschen Multis zu kämpfen, redete die SPD einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren Kosten allerdings nur die ostdeutschen Arbeiter und Arbeiterinnen hätten begleichen müssen.
Diese sahen sich daher zu Recht von der SPD in Stich gelassen. Die Reformkonzepte der Bürgerbewegung, die Sonntagsreden vom „Dritten Weg“ hatten nicht nur einen recht offensichtlichen utopischen Charakter, sie klangen auch nach der allzu bekannten Ankündigungspolitik der SED. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung light nicht aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch die/der unpolitischste DDR-ArbeiterIn.
Selbst eine einigermaßen große kämpfende Propagandagruppe revolutionärer Kommunisten und Kommunistinnen hätte in dieser Phase zumindest der Avantgarde eine politische Orientierung geben können. Es existierte aber kein solcher Kern.
Die Haltung der westdeutschen ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die Position der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in der DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten nicht nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sie sicherten dem westdeutschen Imperialismus nebenbei auch ein ruhiges Hinterland.
Andererseits hatte die BRD-Regierung unter Kohl als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale der Situation nicht nur begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse der langfristigen Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative ergriffen. Der „ideelle Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze Sektoren des deutschen Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite geschoben und Kurs auf eine rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen. Wenige Wochen vor der letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche Imperialismus in die Offensive. Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner Regierung, gewann die Wahl. Der eigentliche Sieger war Kohl.
Keine einzige größere Partei, die zur Wahl stand, hatte auch nur die Absicht, die kapitalistische Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon unter der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die endgültige Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß der staatliche Nachvollzug dieser Regelung.
Zu den letzten Volkskammerwahlen konnten Revolutionäre und Revolutionärinnen keine der antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in einer ganz entscheidenden Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über die Existenz der Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite der Barrikaden. Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den meisten osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.
Im Frühjahr 1990 hätte das Schwergewicht der Intervention revolutionärer Kommunisten und Kommunistinnen auf folgende Punkte konzentriert werden müssen: die Verteidigung der existierenden Errungenschaften, den Kampf gegen den beginnenden Ausverkauf der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung enger Verbindung zu den Arbeitern und Arbeiterinnen im Westen (besonders in jenen Konzernen und Banken, die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und Zuspitzung der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu Organisatorinnen von Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und sowjetische Truppen hätten ausgebaut werden müssen.
Solche Organe hätten gleichzeitig die Grundlage für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung sein können, für die Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die Errichtung einer proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche Entwicklung hätte die revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft progressiver Dynamik auf die Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der Zusammenbruch der alten Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der Revolution nach Ost- und Westeuropa begonnen.
Dass es nicht so gekommen ist, lag zweifellos an ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen Zeitspanne, die für die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für eine grundlegende Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt werden hätte müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine Niederlage für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das Proletariat in der ehemaligen DDR.
Es ist kein Zufall, dass seit den frühen 1990er Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die Errungenschaften im Westen durch „Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet werden. Die Deindustrialisierung und die riesige industrielle Reservearmee, aber auch der Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und Bereitschaft des Proletariats in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen BRD geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen Imperialismus im letzten Jahrzehnt enorm gestärkt. Die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland steht heute einem Klassengegner gegenüber, der sich viel mehr gestärkt hat, als es die Betrachtung der rein territorialen Ausdehnung wiedergibt.
Welches Potential in der ArbeiterInnenklasse noch immer steckt, lässt sich freilich daran ermessen, dass es der Bourgeoisie trotz ihres historischen Erfolgs 1990 noch nicht gelungen ist, die Errungenschaften der westdeutschen ArbeiterInnenbewegung und die Stärke dieser Bewegung zu vernichten. Zweifellos hat sich das Kräfteverhältnis insgesamt zugunsten der Kapitalistenklasse verschoben – aber diese Verschiebung hatte bisher einen im Wesentlichen graduellen, keinen qualitativen Charakter. Für die deutsche Bourgeoisie ist dieser Schritt aus internationalen politischen und ökonomischen Erwägungen notwendig, da nur so für den deutschen Imperialismus alle Früchte aus der kapitalistischen Wiedervereinigung geerntet werden können.
Um diesen noch ausstehenden Kampf gewinnen zu können, muss die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland auch die Ursachen der Niederlage des ostdeutschen Proletariats begreifen und die politischen Lehren daraus ziehen!