Arbeiter:innenmacht

Der Zusammenbruch des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

„In Wirklichkeit könnte der Kapitalismus – wenn das überhaupt möglich wäre – nur mit Hilfe eines grausamen konterrevolutionären Umsturzes in Russland wiedererstehen, der zehnmal soviel Opfer fordern würde wie die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg zusammen.“ (1)

Trotzkis Prognose ist offensichtlich nicht eingetroffen. Die stalinistischen Bürokratien sind in den meisten Ländern nicht durch eine blutige Konterrevolution von der Herrschaft verjagt worden. Vielmehr ist die herrschende Kaste selbst ins Lager der sozialen Konterrevolution übergegangen. Sie spaltete sich und ihr Gros suchte ihr Heil im Bündnis mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften im Inneren oder mit dem Imperialismus.

Doch warum trat Trotzkis Prognose nicht ein? Erstens hatte die bürokratische Herrschaft die ökonomischen Grundlagen ihres Regimes erschöpft. Für eine gewisse Periode war es ihr möglich gewesen, die Potenzen der Planwirtschaft zum eigenen Machterhalt zu nutzen. Doch diese waren spätestens in den 1980er Jahren erschöpft. Die Unhaltbarkeit der bürokratischen Diktatur, ihre Rolle als wirtschaftliche und politische Totengräberin des (degenerierten) ArbeiterInnenstaates kam dann voll zur Geltung.

Zweitens erwies sich, dass die bürgerliche Form des Staatsapparates im degenerierten ArbeiterInnenstaat mit den Aufgaben der herrschenden Klasse kompatibel, vereinbar war. Hier musste nichts „zerschlagen“ werden. Es reichten eine Auswechslung mancher Spitzenfunktionärinnen und die Umstrukturierung des Apparats. Nur in der DDR wurde der staatliche Apparat zerstört. Doch der Grund dafür lag nicht in einer anderen Qualität dessen, sondern in der Existenz der BRD. Es existierte hier bereits ein imperialistischer Staatsapparat, große Teile des DDR-Staatsapparates waren einfach überflüssig.

Drittens hatte die bürokratische Herrschaft die ArbeiterInnenklasse politisch atomisiert, entmündigt. Das Proletariat betrachtete „seinen Staat“ immer weniger, schließlich gar nicht mehr als den seinen. Die ArbeiterInnen wollten (zumindest zu großen Teilen) die Bürokratie stürzen – und wirkten auch aktiv an deren Sturz mit –, aber sie hatten gleichzeitig die Hoffnung in eine andere Gesellschaft verloren. Der „real existierende Sozialismus“ war für sie zu einer real existierenden Katastrophe geworden. Sie waren am Beginn keineswegs bewusst für die Wiedereinführung der Marktwirtschaft und hatten auch keine klare politische Zielvorstellung. Sie wussten aber, was sie – zu Recht – nicht wollten: die Fortdauer der bürokratischen Herrschaft.

Schließlich war die Existenz des stalinistischen Übergangsregimes als Juniorpartner in einer weiterhin vom Imperialismus dominierten Weltordnung in seinen wechselnden Formen von „Kaltem Krieg“ und „friedlicher Koexistenz“ auf Dauer unmöglich. Die Stagnation der bürokratischen Herrschaft stand den gewaltigen dynamischen Potenzen der kapitalistischen Welt gegenüber. Sie blieb hinter deren Wachstumsschüben zurück, um gleichzeitig von ihren Krisen mitbetroffen zu sein. Hochrüstung und technologisches Zurückbleiben bürdeten den sowieso schon kränkelnden Planwirtschaften ungeheure Kosten auf, verhinderten Konzentration auf Infrastruktur- und Konsumgüterinvestitionen. Mit den „Marktreformen“ und „Öffnungen“ stiegen Verschuldung, Abhängigkeit von Exportmärkten und die Korruption. Es bildeten sich jene Netze von Bürokraten-ManagerInnen, Proto-UnternehmerInnen und imperialistischen Mittelsmännern/-frauen, die zur sozialen Grundlage der Restauration werden sollten.

Ökonomische Ursachen des Zusammenbruchs

Der Stalinismus engte die Planwirtschaft auf die jeweiligen Landesgrenzen ein. Er verhinderte aktiv die Ausbreitung der proletarischen Revolution auf wirtschaftlich entwickeltere Regionen. Er schnitt die Ökonomien der degenerierten ArbeiterInnenstaaten von den Vorteilen eines Zugangs zur höchsten Konzentration an Produktionsmitteln und von der Integration in die internationale Arbeitsteilung ab. Das Außenhandelsmonopol gewährt einen unverzichtbaren Schutz für den ArbeiterInnenstaat gegen die kapitalistische Konkurrenz und die Auswirkungen der Krisen dieses Systems. Aber das Ziel dieses Monopols ist nicht, alle agrarischen und industriellen Sektoren, die es im Rest der Welt gibt, innerhalb der Grenzen eines jeden ArbeiterInnenstaats einzurichten.

Dieser Weg erwies sich als utopisch (z. B. in Nordkorea und Albanien) und führte zu unnötigen Opfern, die von der ArbeiterInnenklasse in diesen Ländern mit einer Planwirtschaft erbracht wurden. Nur die Ausbreitung der sozialen Revolution in die Metropolen des Weltkapitalismus würde einen entscheidenden Durchbruch zum Aufbau des Sozialismus und einer globalen Planwirtschaft ermöglichen. Das beschränkte, nationalistische Programm des „Sozialismus in einem Land“ ließ die Entwicklung der Produktivkräfte zurückbleiben – zuerst relativ, schließlich absolut.

Gerade die Unterdrückung der ArbeiterInnendemokratie sorgte dafür, dass der Plan der stalinistischen Bürokratie auf ungenauen, ja falschen Informationen basieren musste und die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Wirtschaft ignorierte. Die bürokratische Planung erzielte in den ersten Jahrzehnten einige Erfolge, als sie  v. a. eine Angelegenheit der industriellen Ausweitung war. Zunehmend aber überstiegen Innovation und ständige technologische Erneuerung die Fähigkeiten bürokratischer Planung.

Die herrschende Kaste hatte den dynamischen Stachel der Konkurrenz abgeschafft. Sie war zugleich unfähig und nicht bereit, die unmittelbaren ProduzentInnen mit ihrem schöpferischen Eigeninteresse am Planungsprozess teilnehmen zu lassen. Das Ergebnis war ein unvermeidbarer Fall der Arbeitsproduktivität und ein verheerendes Zurückbleiben hinter dem imperialistischen Kapitalismus.

Die Bürokratie verstand es, wirtschaftliche Ressourcen für den eigenen üppigen Konsumbedarf und zur Absicherung ihrer Tyrannei einzusetzen. Je weiter Produktions- und Verteilungssektoren von diesen Prioritäten entfernt waren, desto mehr wurden Mängel und schlechte Warenqualität zur Norm. Der Militär- und Verteidigungssektor einschließlich des riesigen Polizei- und Sicherheitsapparates genossen absoluten Vorrang, was Ausgaben anbelangte, und arbeiteten relativ effizient.

Aber bezüglich der Konsumbedürfnisse der Massen erwiesen sich die bürokratischen Planmechanismen als unfähig, hochwertige Güter herzustellen, die Arbeit zuhause oder in der Produktion zu erleichtern oder zu verkürzen und das Ausmaß und die Qualität der Freizeit zu steigern. Nach erstaunlichen Anfangserfolgen in Erziehung und Wohlfahrt wurden selbst sie Opfer der Stagnation bürokratischer Planung. Die Erfahrung von Versagen und Niedergang untergrub letzten Endes national wie international selbst die Idee der geplanten Produktion im Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse. Die bürgerliche Propaganda konnte immer erfolgreicher die „Lehre“ verbreiten, dass dies das notwendige Resultat aller Versuche sei, eine Wirtschaft zu planen.

Aber die stalinistische Bürokratie war und ist kein Ausdruck der Planlogik selbst. Effektive Planung setzt die Kontrolle über die Produktion durch den zentralisierten und bewussten Willen der ProduzentInnen selbst voraus. Die Ziele der stalinistischen Kommandoplanung wurden durch einen winzigen Kern von PlanerInnen abgesteckt, der wiederum von einer bonapartistischen Clique von SpitzenbürokratInnen gegängelt wurde. Die Wirkweise des Plans wurde wiederholt aus dem Gleichgewicht gebracht und unterbrochen durch rivalisierende Schichten von Partei- und Wirtschaftsbürokratie. Die atomisierten und entfremdeten Arbeitskräfte, die weder über die Planziele entschieden noch sie verstanden, traten der Produktion zusehends mit Apathie entgegen. Eine chronische Stagnation steuerte in den 1980er Jahren auf eine kritische Lage zu und stürzte die herrschenden Bürokratien in immer tiefere politische Krisen.

Von Moskau bis Peking, von Belgrad bis Hanoi war die herrschende Kaste in einander sich befehdende Fraktionen gespalten. Alle Versuche, ihr System durch Beimengungen von „Marktelementen“ und „Marktsozialismus“ wiederzubeleben, waren zum Scheitern verurteilt. Diese Maßnahmen zerrissen und desorganisierten den bürokratischen Plan, ohne ihn durch eine wirklich kapitalistische Ökonomie zu ersetzen, zunächst in Ungarn und Jugoslawien, am spektakulärsten dann unter Gorbatschow in der UdSSR.

Die Zersetzung und der Zusammenbruch der Produktion, ein blühender Schwarzmarkt und Korruption, gigantische Budgetdefizite und Unternehmensbankrotte, aufgeschoben nur durch Hyperinflation, markieren die Todesagonie der bürokratischen Planwirtschaft.

Für die ArbeiterInnenklasse ist der Zweck der postkapitalistischen Eigentumsverhältnisse der Übergang zu einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Sie ermöglicht die Planung der Produktion nach menschlichen Bedürfnissen, das Ende von Unterdrückung und die fortschreitende Beseitigung von Ungleichheiten.

Dies zu erreichen, erfordert die aktive und bewusste Teilnahme des Proletariats als ProduzentInnen und KonsumentInnen. Diese müssen als unmittelbare ProduzentInnen mit in der Geschichte erstmaligem unmittelbaren Interesse und schöpferischer Fähigkeit zur Entfaltung der Produktivkräfte souverän sein.

ArbeiterInnenstaaten müssen einen Weg zunehmender ökonomischer Integration und gemeinsamer Planung einschlagen, um von der internationalen Arbeitsteilung, die auch für eine sozialistische Ökonomie notwendig ist, den effektivsten Gebrauch zu machen. Die stalinistischen Bürokratien waren nicht fähig, diese Vorteile zu nutzen. Tatsächlich blieben die degenerierten ArbeiterInnenstaaten mehr und mehr hinter der Internationalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft zurück.

Der erste Schritt eines gesunden ArbeiterInnenstaats in diese Richtung würde die Errichtung von gemeinsamen Planungseinrichtungen für wichtige Branchen und gemeinsame Pläne für eine Gruppe von Staaten verbunden mit einer gemeinsamen Währung darstellen. Ein solches System kann nur durch die revolutionäre Aktion der ArbeiterInnenklasse, die ihre Ziele bewusst verfolgt, umgesetzt werden.

Die stalinistischen Bürokratien sind historisch illegitime Kasten. Von ihrer Entstehung an neigten sie zur Herausbildung von Fraktionen und Flügeln als Antwort auf den langfristigen Druck seitens des Imperialismus und der ArbeiterInnenklasse. In der UdSSR, in Ungarn, Jugoslawien und China entwickelten sich Fraktionen, die allmählich dominanter wurden und den Plan insgesamt demontieren und Preise, Löhne und Produktion durch „Marktmechanismen“ bestimmen lassen wollten.

Sie versuchten, den Soziallohn in Form subventionierter Lebensmittel und Sozialdienste, die den ArbeiterInnen als Ergebnis der Beseitigung des Kapitalismus zugutekamen, abzuschaffen. Diese AnwältInnen der Dezentralisierung, des freien Marktes und der Öffnung ihrer Ökonomien für die multinationalen Konzerne zeigten eine immer offener restaurationistische Haltung und zweifelten nicht nur an der bürokratischen Zentralplanung, sondern auch an der Fähigkeit ihrer Kaste, sich an der Macht zu halten.

Diese Fraktion war mit der Direktorenschicht eng verwoben und erhoffte sich eine Etablierung als direkte AgentInnen, wenn nicht gar Mitglieder einer neuen Kapitalistenklasse. Solche bewussten RestaurationistInnen waren, wie die Ereignisse in der UdSSR nach 1990/91 zeigten, mit bemerkenswerter Geschwindigkeit imstande, ihr stalinistisches Hemd gegen ein sozialdemokratisches, liberales, christdemokratisches oder protofaschistisches einzutauschen.

Daneben hatten die Marktreformen, die Unterhöhlung des Außenhandelsmonopols und die Öffnung für Auslandsinvestitionen vielfältige Wege für das Wirken des Imperialismus selbst geöffnet. Ein Großteil der COMECON-Staaten und Jugoslawien waren in eine enorme Schuldenfalle getappt und mussten sich mit den Forderungen und Auflagen der internationalen Finanzinstitutionen herumschlagen. Um die Devisenprobleme zu lösen, wurde die Exportorientierung immer stärker, bestimmte Betriebe wurden immer mehr zu verlängerten Werkbänken imperialistischer Konzerne. Das technologische Zurückbleiben führte umgekehrt zur Abhängigkeit von Devisen verschlingenden Importen. Alle drei Faktoren machten die nachkapitalistischen Ökonomien anfällig für die Industrie-, Finanz- und Konjunkturkrisen der kapitalistischen Weltwirtschaft in den 1980er Jahren.

Neben der verstärkten Rolle imperialistischer Finanz- und Konzernvertretungen in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bildete sich entlang der Marktreformen eine Schicht von GeschäftemacherInnen, KleinbürgerInnen bzw. halblegalen oder kriminellen KapitalistInnen. Der Imperialismus nutzte alle Schwachpunkte des Systems, um prokapitalistische Oppositionen zu bilden oder zu fördern. So wurden insbesondere die Kirchen zu einem Zentrum für die Sammlung von Oppositionskräften. Aber auch ehemalige Sammlungspunkte für ArbeiterInnenopposition wie Solidarnosc in Polen konnten nach dem reaktionären Niederwalzen der ArbeiterInnenproteste in reaktionäre, kleinbürgerlich-konterrevolutionäre Parteien umgewandelt werden.

Ende der 1980er Jahre war in fast allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten eine Situation entstanden, in welcher der Spitze der krisengeschüttelten Bürokratie eine breite Front von prokapitalistischen BürokratInnen, kleinbürgerlichen Oppositionskräften und der verstärkte Druck des Imperialismus gegenüberstanden.

Die Rolle des Staatsapparates

Die Periode des Marktsozialismus markiert in vielen degenerierten ArbeiterInnenstaaten die Endphase des stalinistischen Regimes. Die Einführung von Marktmechanismen – selbst Ausdruck der Krise der bürokratischen Misswirtschaft – blieb jedoch insgesamt den Mechanismen direkter und indirekter Planung untergeordnet. Entgegen den Intentionen marktwirtschaftlicher ReformerInnen vom Schlage eines Gorbatschow trugen diese Maßnahmen nicht zur Revitalisierung der Ökonomien so unterschiedlicher Länder wie Russland, Jugoslawien oder Ungarn bei; sie kombinierten vielmehr die Schwächen beider Systeme, von bürokratischer Planung und eingeschränkter Konkurrenzwirtschaft.

Aber auch die weitestgehende Liberalisierung der bürokratischen Planung, ihre immer stärker werdende Unterhöhlung waren nicht ausreichend, um eine qualitative Transformation der Gesellschaftsordnung zu bewirken. Sie führten jedoch dazu, dass die Bürokratie selbst immer stärker restaurationistische Tendenzen entwickelte, dass verschiedene Flügel der Bürokratie immer offener einen prokapitalistischen Kurs steuerten, sich mit entstehenden kleinbürgerlichen Schichten zu verbünden suchten und selbst Geld anhäuften, das zu einem späteren Zeitpunkt die Funktion von Kapital spielen konnte.

Jene Teile der Bürokratie, die aufgrund ihrer Stellung in Partei, Armee, Staatsapparat befürchten mussten, ihre Privilegien beim Übergang zum Kapitalismus zu verlieren, gerieten auf ökonomischer Ebene in eine immer verzweifeltere Situation. Sie hatten das Vertrauen in eine Wiederbelebung bürokratischer Planungsmechanismen verloren. Wo die Bürokratie solche Versuche unternommen hatte – wie in Rumänien – waren die wirtschaftlichen Resultate eher noch desaströser als in anderen Ländern.

In China zog dieser Teil der Bürokratie aus der Niederschlagung der Massenbewegung chinesischer ArbeiterInnen und Mittelschichten am Tian’anmen-Platz 1989 den Schluss, dass die Einheit der Partei – und damit die Unterordnung unter deren restaurationistischen Flügel – das geringere Übel gegenüber einer ArbeiterInnenrevolution war.

In Russland versuchte der stalinistische Hardlinerflügel in einem verzweifelten Aufstand gegen Gorbatschow, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Der Putschversuch um Janajew, der sich in erste Linie gegen die politischen Freiheiten, die die ArbeiterInnenklasse und die Intelligenz Gorbatschow abgerungen hatten, richtete, endete in einer raschen und verdienten Niederlage. Er hätte nicht zur „Rettung des ArbeiterInnenstaates“, sondern zur brutalen Unterjochung des Proletariats geführt, „bestenfalls“ zur zeitweiligen Restauration von Kommandoplanung und zu einem autoritären, staatskapitalistischen Weg zum Kapitalismus.

Der von Jelzin geführte Flügel der Bürokratie ergriff die Gunst der Stunde und übernahm die politische Macht, bemächtigte sich des vorhandenen Staatsapparates, den er zwar von den Spitzen der PutschistInnen und der KP säuberte, der aber insgesamt intakt blieb.

Trotzkis Einschätzung, dass sich in der Bürokratie eine Vielzahl politischer Ausrichtungen tummeln, die im Zuge ihrer Todeskrise offen hervortreten würden – von einer proto-faschistischen bis zur revolutionären – bewahrheitete sich nur bedingt. Ganz eindeutig ging eine Vielzahl politischer Tendenzen aus ihr hervor. Eine auch nur ansatzweise revolutionäre bildete sich jedoch nicht.

Wenn wir den anti-proletarischen Charakter der Bürokratie in Betracht ziehen, ist das auch kein Wunder. Die Bildung eines solchen Flügels war immer nur eine Möglichkeit – und sicher eine größere in den 1930er Jahren, als die revolutionäre Tradition der Oktoberrevolution in der Gesellschaft noch lebendig war. Ende der 1980er Jahre war die Herrschaft der Bürokratie an einem historischen Endpunkt angelangt, waren die ökonomischen Grundlagen ihrer Herrschaft erschöpft. Damit war die Bildung eines linken oder gar revolutionären Flügels sehr unwahrscheinlich geworden.

Auch in den 1930er Jahren war die Bildung eines solchen Minderheitsflügels überhaupt kein Automatismus. Er setzte immer die Existenz einer revolutionären Avantgarde, den Druck der revolutionären ArbeiterInnenschaft voraus. Nur so hätte ein Teil der Bürokratie zum Proletariat „überlaufen“ können.

Dass die Bildung eines solchen Flügels keine notwendige Entwicklung darstellen konnte, liegt aber auch an einem wichtigen sozialen Umstand. Alle anderen politischen Optionen der Bürokratie – weitere parasitäre Ausplünderung des ArbeiterInnenstaates als herrschende Kaste, als Dienerin einer neuen Bourgeoisie oder die Transformation in eine neue Kapitalistenklasse – schlossen die Beibehaltung ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung ein.

Hinzu kam, dass sich 1989–1991keine revolutionäre Strömung im Proletariat bildete, die Massenanhang oder auch nur eine starke Verankerung in der Avantgarde der Klasse gehabt hätte. Die politische Atomisierung des Proletariats durch die stalinistische Diktatur hatte zur Zerstörung des Klassenbewusstseins geführt und dessen Bildung systematisch verhindert. Darin besteht auch eines der Hauptverbrechen des Stalinismus im geschichtlichen Maßstab.

Die wirtschaftliche Lage führte dazu, dass die Bürokratie in allen Ländern Osteuropas der Restauration wenig oder gar keinen Widerstand leistete und auch kaum leisten konnte.

In Osteuropa, in der Sowjetunion und in China entstanden Massenbewegungen gegen die bürokratische Herrschaft, die ursprünglich als Bewegung der Reform des Systems auftraten, gleichzeitig aber mit dem Fortbestand des alten Regimes unvereinbar waren. Eine politisch-revolutionäre Krise entstand, die in all diesen Ländern die Frage nach der politischen Macht objektiv aufwarf.

Die Auseinandersetzungen endeten (außer in Rumänien und – in anderer Weise – in Jugoslawien) mit dem unblutigen, „friedlichen“ Abdanken der Bürokratie als herrschender Kaste. Die politische Macht ging an offen restaurationistische Regierungen über, die sich entweder aus der ehemaligen kleinbürgerlichen Opposition oder aus der ehemaligen herrschenden Kaste oder einer Koalition beider zusammensetzen. Es bildeten sich bürgerliche ArbeiterInnenregierungen oder Volksfrontregierungen, die der Einführung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dienten. In China (1992/93) und Serbien (mit dem Machtantritt Milosevics) vollzog sich dieser Prozess, indem innerhalb der KP bei Beibehaltung ihres Machtmonopols der offen restaurationistische Flügel die Macht und Kontrolle über den Staatsapparat übernahm.

Wir charakterisieren diese Länder als bürgerlich-restaurationistische Staaten. Die Regierungsgewalt und die Staatsmacht gingen bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Koalitionen und der Formen – bürgerlich-demokratisch oder diktatorisch – von einer Kaste, deren politische Herrschaft auf der Verteidigung und Reproduktion nach-kapitalistischer Eigentumsverhältnisse beruhte, über zu den politischen VertreterInnen einer neuen herrschenden Klasse, zu einer entstehenden Bourgeoisie.

Wie Trotzki richtig vorhersah, folgte der Machtübernahme durch die entstehende bürgerliche Klasse eine ganze Periode, in der die Wirtschaft bewusst gemäß den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft umgestaltet werden musste.

Der Staat und die Kontrolle über den Staatsapparat spielen auch im Restaurationsprozess – ähnlich wie bei Entstehung jedes ArbeiterInnenstaates – keine passive Rolle. Er muss bewusst und gezielt die alten ökonomischen Verhältnisse zerstören, um die Wirkung des Wertgesetzes durchzusetzen.

Es war eine große Stärke der Analyse der LRKI in den 1990er Jahren herauszuarbeiten, durch welche inneren Widersprüche dieser Prozess nach Etablierung restaurationistischer Regierungen gehen musste und welche notwendigen ökonomischen Maßnahmen in dessen Verlauf dazu ergriffen werden mussten.

Eine weitere Stärke unserer Analyse bestand in der Erkenntnis, dass die Inbesitznahme des Staatsapparates durch diese Regierungen relativ problemlos vonstattenging, dass der stalinistische Apparat i. W. auch zur Erfüllung der Ziele der neuen bürgerlichen Regierungen diente. Was noch wichtiger ist: Wir konnten diese Tatsache auch erklären, weil wir klar erkannt hatten, dass der Staatsapparat in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten von bürgerlichem Typus war. Dieser stellte nicht nur ein Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus dar; er war gleichzeitig auch kompatibel mit der Umsetzung der politischen Ziele der Restauration, sobald sich eine solche politische Kraft seiner bemächtigte.

Wir konnten dieses Phänomen in ganz Osteuropa erleben. Der Staatsapparat wurde nicht zerschlagen, er wurde nur gesäubert. Die neuen restaurationistischen Regime nahmen ihn in Besitz – als Instrument zur Umwandlung der Eigentumsverhältnisse.

Trotzki hatte eine solche Entwicklung durchaus vorausgesehen. In der „Verratenen Revolution“ legt er dar, dass der Sturz der Bürokratie mit einer schonungslosen Säuberung des Staatsapparates einhergehen muss. Auf wirtschaftlichem Gebiet würde die politische Revolution jedoch den Charakter einer tiefgreifenden Reform haben.

Anders die soziale Konterrevolution. Sie müsste auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht einfach Reformen durchführen, sondern einen fundamentalen konterrevolutionären Umsturz zur Wiederherstellung des Privateigentums an den Produktionsmitteln herbeiführen. In der herrschenden Bürokratie würde eine bürgerliche Partei dagegen „nicht wenige willfährige DienerInnen“ finden.

„Eine Säuberung des Staatsapparates wäre auch in diesem Fall erforderlich, doch hätte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei.“ (2)

Eine notwendige Korrektur

Hatte die LRKI auch die Widersprüchlichkeit dieses Systems des Übergangs erkannt, hatte sie auch den Staatstyp im stalinistischen System richtig charakterisiert und damit ein Mittel zum marxistischen Verständnis der friedlichen Restauration des Kapitalismus zur Hand, so hatte sie jedoch in den frühen 1990er Jahren einen schweren theoretischen Fehler gemacht, der mit der marxistischen Staatstheorie wenig gemein hatte und der sich zu einem gravierenden politischen Manko hätte entwickeln können.

Um den widersprüchlichen Prozess der Re-Etablierung des Kapitalismus zu charakterisieren, haben wir die Phase von der Machtergreifung offen restaurationischer Regierungen bis zum Sieg des Wertgesetzes als vorherrschenden Regulator des Wirtschaftslebens als „moribunden ArbeiterInnenstaat“ bezeichnet.

Auf den ersten Blick hatte diese Charakterisierung mehrere Vorzüge. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass die Aufmerksamkeit von RevolutionärInnen auf die ökonomischen Verteidigungsaufgaben der ArbeiterInnenklasse, den Kampf gegen Privatisierungen, Massenentlassungen usw. nach Machtübernahme der RestaurationistInnen gelenkt wurde. Sie schärfte auch den Blick für die inneren Widersprüche dieses Prozesses, dem fast alle anderen internationalen Strömungen des Trotzkismus kaum Aufmerksamkeit schenkten.

Der entscheidende Fehler dieser Charakterisierung ist jedoch, dass sie von einer mechanischen Sichtweise des Übergangs zwischen Gesellschaftsformationen bestimmt war. Der Klassencharakter eines Staates wird aber gerade in der Übergangsphase nicht durch die „momentan“ vorherrschenden Eigentumsverhältnisse charakterisiert; entscheidend ist, welche Eigentumsverhältnisse er verteidigt oder zu installieren versucht. Dies ist nicht eine Frage des „Willens“ – was also die AgentInnen des Staatsapparates gerade „durchsetzen wollen“ – sondern eine der Klassenverhältnisse in Bezug auf Staat und Ökonomie. Die Klassenkräfte für einen Sturz der bürokratischen Kaste zum Zweck der bewussten Restauration des Kapitalismus waren durch die Krise der bürokratischen Herrschaft und die Atomisierung der ArbeiterInnenklasse in ausreichender Stärke vorhanden – so ausreichend, dass sie auf der politischen Ebene spätestens 1989 in verschiedensten Formen die Krise zur Hervorbringung von Doppelmachtsituationen vorantreiben konnten. Diese Klassenkräfte repräsentierten besonders durch ihre Verbundenheit mit dem Imperialismus, aber auch durch die Ansätze einer einheimischen Kapitalistenklasse, eindeutig die Bourgeoisie, die um die Errichtung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse kämpfte.

Entscheidend ist nicht, ob diese bürgerlichen Kräfte ihr Ziel „mit einem Schlag“ oder doch nur durch einen „langwierigen“ Restaurationsprozess durchsetzen konnten. Entscheidend ist vielmehr, dass ihre Machtergreifung einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Entwicklung darstellte. Von da an war die Spitze des Staatsapparates kein, wenn auch noch so unbewusstes und durch Marktideologie zersetztes, Hindernis für die kapitalistische Restauration, sondern die entscheidende, vorantreibende Agentur derselben. Auch wenn daher die Ökonomie weiterhin nicht durch das Wertgesetz und das schrankenlose Funktionieren des Kapitalkreislaufes bestimmt war, so war die Entwicklung seit diesem qualitativen Sprung auf einer schiefen Ebene hin zur Beseitigung der noch existierenden Hemmnisse – etwas, das nicht mehr durch den „passiven Widerstand“ der bürokratischen Trägheit hätte aufgehalten werden können, sondern nur durch eine bewusste soziale Revolution zur Beseitigung der restaurativen Maßnahmen.

Die Theorie der „moribunden ArbeiterInnenstaaten“ hatte daher höchst problematische Seiten. Vor allem missachtete sie die dialektische Sicht des Marxismus, dass die Übergangsperiode von einer Klassengesellschaft zur anderen oft durch einen Widerspruch zwischen politischer und ökonomischer Form gekennzeichnet ist. Diese wurde durch ein einfaches, mechanisches Verhältnis ersetzt. Solange das Wertgesetz nicht dominiere, solange es nicht vorherrsche, hätten wir es unabhängig davon, welche Klasse politisch herrscht, mit einem ArbeiterInnenstaat zu tun.

Dagegen bemerkte Trotzki: „Weiß die Geschichte nicht von Fällen des Klassenkonflikts zwischen Ökonomie und Staat? Aber natürlich! Nachdem der ‚Dritte Stand‘ die Macht ergriffen hatte, blieb die Ökonomie noch für eine Phase von mehreren Jahren feudal. In den ersten Monaten der Sowjetwirtschaft regierte das Proletariat auf der Basis einer bürgerlichen Ökonomie. Im Bereich der Landwirtschaft operierte die Diktatur des Proletariats jahrelang auf der Basis einer kleinbürgerlichen Wirtschaft.“ (3)

Uns war klar, dass dieser „ArbeiterInnenstaat“ (also der Staatsapparat, die Regierung usw.) in seiner „moribunden“ Phase die proletarischen Eigentumsverhältnisse nicht mehr, nicht einmal auf bürokratische Weise verteidigt. Daraus zogen wir nicht den naheliegenden Schluss, dass die Staatsmacht, das Gewaltmonopol in die Hände einer anderen Klasse übergegangen ist, die bewusst daran geht, die ökonomischen Verhältnisse ihrer Herrschaft anzupassen.

Vielmehr gingen wir davon aus, dass der ArbeiterInnenstaat – diesmal als Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden – solange ein proletarischer Staat wäre, wie auf ökonomischer Ebene das Wertgesetz nicht dominiere.

Wir hatten also einen ArbeiterInnenstaat, eine bürokratisch degenerierte Form der Übergangsgesellschaft „erfunden“, in der die politische Macht nicht in Händen einer gesellschaftlichen Kraft lag, die die soziale Herrschaft der ArbeiterInnenklasse (und sei es in der entarteten Form der politischen Herrschaft der Bürokratie) verteidigt.

Diesen schweren theoretischen Fehler konnten wir auf dem letzten Kongress der LRKI (2000) überwinden. Die politische Entwicklung der 1990er Jahre war glücklicherweise in keinen Situationen gemündet, wo dieser theoretische Fehler in einen politischen umgeschlagen wäre. Das hätte allerdings zu einer programmatischen Kuriosität unsererseits geführt.

Mit dem moribunden ArbeiterInnenstaat hatten wir eine Form der proletarischen Diktatur vor uns, die wir nicht gegen den Imperialismus verteidigen würden, weil es eine bürokratisch degenerierte Form der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse ist, sondern weil ein Sieg des Imperialismus drohen würde, eine solches Land zu einer Halbkolonie werden zu lassen.

Dieser Beschluss liest sich nicht nur schlecht, er ist der sprachliche Ausdruck einer politischen Unklarheit. Im Grunde bemerkte er, dass der moribunde ArbeiterInnenstaat bereits ein bürgerlicher Staat war – aber er erkannte das auf einer ganz und gar widersprüchlichen theoretischen Grundlage an. Die bewaffneten Organe dieses Staates waren in keiner Weise mehr die eines ArbeiterInnenstaates. Sie hatten in allen kritischen Momenten gezeigt, dass ihre Spitze treu zu den bürgerlichen RestaurationistInnen stand, gegen „stalinistische AbenteurerInnen“ (siehe die Moskauer Putschversuche) ebenso wie gegen „abtrünnige“ nationale Minderheiten (siehe Tschetschenien-, Balkan-Kriege etc.). Damit ist auch klar, dass die Armeen solcher Staaten keine andere Rolle mehr spielen können als jene jedes anderen bürgerlichen Staates. Jede Grundlage für einen revolutionären Defensismus gegenüber ArbeiterInnenstaaten-Armeen fällt weg, da es sich nur noch um das unzweideutige bewaffnete Instrument einer konterrevolutionären Bourgeoisie handelt. Die Frage des Defaitismus gegenüber dem eigenen Imperialismus, der durch bewaffnete Intervention in den Restaurationsprozess eingreift (z. B. Ex-Jugoslawien) ist völlig unabhängig von einem nicht mehr vorhandenen „ArbeiterInnenstaats“-Charakter dieser Länder, sondern ergibt sich rein aus dem Charakter des imperialistischen Krieges um neue, potentielle Halbkolonien.

Die falsche Theorie des moribunden ArbeiterInnenstaates hatte keine negativen programmatischen Folgen und konnte korrigiert werden. Wir müssen aber klar sehen, dass die LRKI hier an einem schweren politischen Fehler vorbeigeschrammt war. Das zeigte sich auch in der Titulierung der Aktionsprogramme dieser Zeit. Sie trugen im Grunde alle den Charakter von Programmen der sozialen Revolution, des Sturzes einer neuen oder neu entstehenden Kapitalistenklasse.

Da wir jedoch die bürgerlich restaurationistischen Staaten als „ArbeiterInnenstaaten” verkannten, trugen unsere Programme den Unter- oder Nebentitel eines Programms der „kombinierten“ politischen und sozialen Revolution, eines Programms, das stillschweigend anerkannte, dass die proletarische Revolution nicht mehr die Herrschaft einer Kaste, sondern die einer Klasse stürzen musste – freilich ohne diese Tatsache klar auszusprechen.

Die ArbeiterInnenklasse

Bisher haben wir die Frage nach der Möglichkeit eines friedlichen Übergangs vom degenerierten ArbeiterInnenstaat zum Kapitalismus in erster Linie mit einem Blick auf ihre ökonomischen Voraussetzungen, die herrschende Bürokratenkaste und die Form des Staatsapparates betrachtet.

Dass die Restauration des Kapitalismus ohne Bürgerkrieg, Aufstand, oft ohne Blutvergießen vollzogen wurde, war nur möglich, weil die große Mehrheit der Gesellschaft, die ArbeiterInnenklasse, nicht versuchte, ihre eigene soziale und politische Herrschaft zu etablieren, weil das Proletariat die Todeskrise der Herrschaft der Bürokratie nicht zur eigenen Machtergreifung zu nutzen trachtete.

Trotzki ging in den 1930er Jahren davon aus, dass die ArbeiterInnenklasse ihren Staat, Sowjetrussland, gegen den Imperialismus verteidigen würde. Es ist kein Zufall, dass er dabei eine faschistische oder bonapartistische politische Form der sozialen Konterrevolution vor Augen hatte, eine bürgerliche unverhüllte Diktatur. Die Vierte Internationale stellte – damals völlig zu Recht – einen engen Zusammenhang zwischen dem imperialistischen Krieg und der drohenden sozialen Konterrevolution in der Sowjetunion als Folge einer militärischen Niederlage gegen den Faschismus her.

Beim Zusammenbruch der stalinistischen Regime hatten wir es jedoch mit einer ganz anderen Situation zu tun. Natürlich hatten der Rüstungswettlauf wie die ökonomische Penetration der degenerierten ArbeiterInnenstaaten zur Erschütterung der Planwirtschaften beigetragen. Vor allem aber hatte die stalinistische Herrschaft die revolutionäre Klasse „ihrem“ degenerierten ArbeiterInnenstaat gegenüber entfremdet.

Die blutige Niederschlagung politisch-revolutionärer Aufstände und proletarischer Massenbewegungen hatte im Proletariat die Hoffnung auf eine Reform des „real existierenden Sozialismus” mehr und mehr gebrochen. Ab Anfang der 1980er Jahre erwies sich für die ArbeiterInnenklasse nicht nur der Mangel an politischen Rechten als erdrückend – als ProduzentInnen des gesellschaftlichen Reichtums erlebten sie den ökonomischen Niedergang tagtäglich.

Die Massenbewegungen zum Sturz der stalinistischen Bürokratien begannen zwar als Bewegungen für politische und demokratische Rechte, sie fanden aber auf dem Boden einer strukturellen ökonomischen Krise statt. In Osteuropa und der UdSSR nahm das die Form wirtschaftlichen Niedergangs und einer zumindest relativen Verschlechterung der Konsummöglichkeiten des Proletariats an. In China wuchs die Wirtschaft zwar stark, aber auf Grundlage enormer gesellschaftlicher Polarisierung und der Verschlechterung der Lebensbedingungen hunderter Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen.

Die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse hatte zu einer politischen Perspektivlosigkeit und Atomisierung geführt. Die arbeitenden Massen stellten zwar zahlenmäßig den Großteil der DemonstrantInnen und AktivistInnen gegen das Regime, die politische Führung lag jedoch bei kleinbürgerlichen Oppositionskräften, ja musste aufgrund des Fehlens einer genuin proletarischen Führung bei diesen liegen.

Die politische Unterdrückung hatte gleichzeitig auch dazu geführt, dass das Proletariat große Illusionen in die bürgerliche Demokratie entwickelte. Diese Konstellation war ein enormer Trumpf für die kapitalistische Konterrevolution im Inneren und den Imperialismus. Die Etablierung restaurationistischer Regime nahm in der Mehrzahl der Fälle eine bürgerlich-demokratische Form an.

Dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in der formalen Demokratie des bürgerlichen Parlamentarismus, in der Verwirklichung einfacher demokratischer Rechte einen enormen Fortschritt sahen, ja sehen konnten, war eine Frucht der stalinistischen Diktatur. Die Bürokratie hatte die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht aufgehoben (und konnte das auch nicht, ohne ihre Herrschaft zu unterminieren), sie hatte sie einfach abgeschafft und/oder durch deren zweitklassige Imitationen – siehe die Wahlen zur Volkskammer in der DDR – ersetzt.

Das Programm gegen die kapitalistische Restauration

Die Überlebtheit der bürokratischen Planwirtschaft, die Zersetzung der sozialen Grundlagen der bürokratischen Diktatur führten dazu, dass die herrschende Kaste in Osteuropa rasch abdankte. Zweifellos war die Tatsache, dass in vielen Ländern die sowjetische Armee einen wesentlichen Teil des staatlichen Repressions- und Unterdrückungsapparats stellte, ein Faktor, der die stalinistischen „HardlinerInnen“ von einer bewaffneten Verteidigung des Machtmonopols Abstand nehmen ließ, sobald Gorbatschow und die sowjetische Bürokratie erklärt hatten, dass sie sich politischen Reformen nicht entgegenstellen würden.

Die kampflose Kapitulation der Bürokratie führte auch dazu, dass proletarische Kampforgane in den Betrieben, räteähnliche Organe wie die Fabrikkomitees, die sich 1981 in Polen gegen die stalinistische Diktatur gebildet hatten, 1989/1990 nicht entstanden. In einigen Betrieben kam es zwar zur Bildung von gewählten und jederzeit abwählbaren neuen „Betriebsräten“ und Komitees, doch diese waren Ausnahmeerscheinungen, hatten in der Regel keine Funktion als Kampforgane über das Unternehmen hinaus und waren in keinem Moment über den Betrieb hinaus zentralisiert.

Die Bildung solcher Organe hätte zwar nicht das Bewusstsein automatisch geändert. Sie hätte aber wichtige Stützpunkte proletarischer Macht geschaffen, Organe der Aktion, in denen sich gleichzeitig wie in jedem revolutionären Prozess das Bewusstsein der Klasse hätte entwickeln können. RevolutionärInnen hätten darin einen sehr viel besseren und solideren Anknüpfungspunkt für ihre Agitation und Propaganda gehabt.

So war die Klasse zwar sehr aktiv und auf der Straße, aber in erster Linie als Bürger und Bürgerinnen und nicht als ArbeiterInnen. Dass das Proletariat keine eigenen Kampforgane schuf, war jedoch nicht dem Fehlen von Klassenbewusstsein allein geschuldet. Es lag auch daran, dass die Bürokratenherrschaft in der Regel schon durch Massendemonstrationen auf der Straße zum Rückzug und schließlich zum Abdanken gezwungen wurde. Das erleichterte auch die Demobilisierung der Massen. Die kleinbürgerlichen Führungen der Massen gingen Abkommen mit der Bürokratie ein, um einen partiellen oder vollständigen, möglichst schmerzlosen Transfer der politischen Macht zu arrangieren. In der DDR nahm dies die Form der „Runden Tische“ an.

In vielen Ländern dienten bürgerlich-parlamentarische Wahlen dazu, das Bedürfnis der Massen, die verhasste stalinistische Herrschaft zu beseitigen, mit deren Demobilisierung zu verbinden.

Das stellte an RevolutionärInnen wichtige politisch-programmatische Herausforderungen. Wie konnte die ArbeiterInnenklasse in dieser Situation für die Verteidigung der nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnisse gewonnen werden? Wie konnte sie für die politische Revolution, für den Kampf gegen die herrschende Bürokratie und gegen die Übergabe der Macht an die RestaurationistInnen mobilisiert werden?

Ein wichtiger Bestandteil war zweifellos die Entlarvung bürgerlicher Kräfte, die Entlarvung der bürgerlichen Demokratie, die alles andere als „Volksherrschaft“, sondern ein Herrschaftsmittel der Kapitalisten darstellt. Es war zweifellos notwendig, diese Propaganda energisch und klar durchzuführen. Ein wichtiger Bestandteil davon war, damit an der Lebensrealität der Massen in den Betrieben und Wohnbezirken anzuknüpfen. Die Propagierung der Räteherrschaft, die Propagierung der Bildung von betrieblichen ArbeiterInnenkomitees, von Stadtteilkomitees usw. war aber zu wenig.

Das Bedürfnis der Klasse, die Bürokratie ein für alle Mal von der Macht zu verjagen, musste von RevolutionärInnen entschieden aufgegriffen und mit Losungen kombiniert werden, die dazu dienten, die bürgerlich-demokratischen Illusionen der Klasse nicht zum Fallstrick für die ArbeiterInnen werden zu lassen.

Das bedeutete, dass RevolutionärInnen das entschiedenste Programm zur Beseitigung der Bürokratenherrschaft präsentieren mussten. Es bedeutet, dass bürgerlich-demokratische Forderungen z. B. nach Koalitionsfreiheit, zur Bildung von Parteien und Gewerkschaften radikal aufgegriffen werden mussten. Sie mussten gleichzeitig mit der Forderung nach Organen der ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden.

In einer Situation, in der die ArbeiterInnenklasse massive Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus hegte, war es einfach zu wenig, die Vorzüge der Sowjetdemokratie zu propagieren – so wichtig diese Aufgabe für sich genommen auch war. Es war gleichzeitig nötig, im Wahlprozess möglichst viele Elemente von Kontrolle des Proletariats über den Wahlgang zu fordern und dafür zu kämpfen.

Das beginnt bei der Frage der Wahl der KandidatInnen. In jedem Betrieb, in jedem Stadtteil hätten sich die KandidatInnen, die vorgeben die Interessen der ArbeiterInnen u. a. nicht-unterdrückender Schichten der Bevölkerung zu vertreten, Massenversammlungen stellen müssen, denen sie auch nach der Wahl verantwortlich und rechenschaftspflichtig gewesen wären.

Der Zugang zu den Medien, die Verteilung der Mittel zur Wahlwerbung hätte von ArbeiterInnenausschüssen kontrolliert werden müssen. All diese Forderungen hätten erlaubt, die gesamte Klasse einschließlich der großen Mehrheit, die Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus nachhing, in rätedemokratisch aufgebauten Organen zu mobilisieren und zu organisieren. Diese Organe wären Mittel der Kontrolle wie Kampforgane gegen die arbeiterInnenfeindliche Politik zukünftiger Abgeordneter gewesen.

Das geringe Niveau proletarischen Klassenbewusstseins und das Fehlen von räteähnlichen Organen bedeutet für RevolutionärInnen, Losungen wie die nach einer „Konstituierenden Versammlung“ selbst aufzustellen und mit Losungen nach ArbeiterInnenkontrolle zu kombinieren. Die Atomisierung des Proletariats im Stalinismus, die systematische Verhinderung der Bildung eines revolutionären Subjekts machte es für RevolutionärInnen notwendig, solche Forderungen wieder aufzustellen, um die Klasse überhaupt für die Revolution gewinnen zu können.

Die historische Situation machte es dringend erforderlich, dass RevolutionärInnen auch auf ökonomischen Gebiet die „Verteidigung der Planwirtschaft“ entschieden mit deren Reorganisierung unter Kontrolle der Beschäftigten verbanden – Produktion gemäß den Bedürfnissen der ProduzentInnen/KonsumentInnen, vollständige Offenlegung aller Planungen der Bürokratie, Stilllegung aller unnützen, parasitären Pfründe und Machtmittel, Zerschlagung des parasitären repressiven Apparats – allen voran der Stasi.

Die „Verteidigung der Planwirtschaft“ hat nichts mit der Beibehaltung der bürokratischen Misswirtschaft zu tun. Das musste den Arbeitern und Arbeiterinnen verständlich dargelegt werden. Das war keineswegs nur ein notwendiger Tribut an die gerechtfertigte Feindschaft der Massen gegen die Bürokratie; es war auch notwendig, um die richtige Erkenntnis aufzugreifen, dass die Planwirtschaft nur dann wieder in Schwung kommen konnte, wenn man radikal mit dem System der Bürokratie bricht.

Die ArbeiterInnen wussten, dass dieses System nicht mehr lebensfähig war, dass jede „Reform“ der StalinistInnen, jedes neue „Experiment“ zur Verbesserung der Wirtschaftsleistung in den 1980er Jahren ein Schuss in den Ofen war. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten, wer für dieses Desaster verantwortlich war – und wer daher ganz sicher nicht in der Lage war, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Die Jahre 1989 bis 1991 bargen in sich nicht nur die Möglichkeit der sozialen Konterrevolution, die schließlich siegte. Die alternative Entwicklungsmöglichkeit war die politische Revolution, die Errichtung genuiner proletarischer Macht in den ArbeiterInnenstaaten. Aber das war nur möglich, wenn die Avantgarde der Klasse um eine politische Führung, eine revolutionären Partei gesammelt werden konnte, die in der Lage war, eine Brücke zwischen den demokratischen Hoffnungen der Massen und der Errichtung der Rätedemokratie zu schlagen, eine Partei, welche die anti-stalinistische Wut der Massen am radikalsten ausdrückte, gerade um zu verhindern, dass diese Wut, dieser revolutionäre Impuls der demokratischen Konterrevolution zugutekommen konnte.

Auf dieser Grundlage erfolgte das Eingreifen der LRKI in diese Prozesse, auf dieser Grundlage versuchten wir, revolutionäre Organisationen aufzubauen. Wir konnten den Sieg der Konterrevolution nicht verhindern. Wir teilen diese bittere Niederlage mit Millionen Arbeitern und Arbeiterinnen, deren Lebensstandard mit der Restauration des Kapitalismus deutlich abgesunken ist und deren mangelhafte Organisationen oft völlig entmachtet wurden und mit einem Ausbeutungssystem zu kämpfen haben.

Diese Niederlage hat die ArbeiterInnenbewegung weltweit um Jahre zurückgeworfen und dem Neoliberalismus einen Vormarsch in der ArbeiterInnenbewegung selbst erlaubt. Doch mit der Weltwirtschaftskrise, den dadurch erzeugten Klassenkonflikten und der sich entwickelnden antikapitalistischen und ArbeiterInnenbewegung beginnt sich erneut eine Kraft zu formieren, die sich gegen den Kapitalismus wendet und die Frage nach einer Alternative stellt. Sie muss sich daher mit den Erfahrungen der degenerierten ArbeiterInnenstaaten und des Stalinismus auseinandersetzen, um diese Fehler nicht zu wiederholen.

Wir sagen daher auch ganz klar: Die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Osteuropa und den GUS-Staaten war nicht zu verhindern durch die Anbiederung an einen Teil der StalinistInnen – sondern nur durch den entschlossenen Kampf gegen sie! Nur so hätte eine revolutionäre Organisation den Massen glaubhaft vermitteln können, dass der Kampf für den Kommunismus nichts mit der Verteidigung bürokratischer Misswirtschaft, von Privilegien und politischer Unterdrückung des Proletariats zu tun hat.

Endnoten

(1) Trotzki im Jahr 1934, Schriften 1.1, S. 547.

(2) Trotzki, Verratene Revolution, S. 956.

(3) Trotzki, „Kein ArbeiterInnen- und kein bürgerlicher Staat?”, Writings 1937–38, S. 63.

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