Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)
Die russische Revolution war die erste erfolgreiche proletarische Revolution, die einen ArbeiterInnenstaat errichtete. Sie wurde somit zum wichtigen Bezugspunkt für alle, welche die kapitalistische Gesellschaft ablehnen und nach einer Alternative suchen. Sie hat das Leben der russischen ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der ganzen Bevölkerung revolutioniert, den Frauen historisch erstmals das allgemeine und gleiche Wahlrecht zugestanden, Abtreibung und Homosexualität legalisiert und eine grundlegende Umgestaltung der Ökonomie unter ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung begonnen.
Die Politik und Herrschaft Stalins sowie des Stalinismus allgemein bedeuteten einen Bruch mit den revolutionären Zielen der Bolschewiki und fügten dem Ansehen des Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse und bei den Unterdrückten weltweit immensen Schaden zu, indem er mit dieser reaktionären Politik gleichgesetzt wurde.
„Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution als ein ArbeiterInnenstaat hervorgegangen. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel als notwendige Voraussetzung der sozialistischen Entwicklung hat die Möglichkeit eines raschen Anwachsens der Produktivkräfte ermöglicht. Der Apparat des ArbeiterInnenstaates hat unterdessen eine völlige Entartung durchgemacht, wobei er sich von einem Werkzeug der ArbeiterInnenklasse zu einem Werkzeug der bürokratischen Gewalt gegen die ArbeiterInnenklasse verwandelt hat. Die Bürokratisierung eines rückständigen und isolierten ArbeiterInnenstaates und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste sind die überzeugendste – nicht nur theoretische, sondern praktische – Widerlegung der Theorie des Sozialismus in einem Lande.
So schließt die Herrschaftsform der Sowjetunion bedrohliche Widersprüche ein. Aber sie bleibt immer noch die Herrschaftsform eines entarteten ArbeiterInnenstaates. Das ist die soziale Diagnose.
Die politische Prognose stellt sich als Alternative: entweder beseitigt die Bürokratie, die immer mehr zu einem Organ des Weltimperialismus in dem ArbeiterInnenstaat wird, die neuen Eigentumsformen und wirft das Land in den Kapitalismus zurück; oder die ArbeiterInnenklasse stürzt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.“ (1)
Bevor wir auf Trotzkis Analyse näher eingehen, wollen wir kurz einige Schwierigkeiten darstellen, die uns bei seinen Arbeiten begegnen.
Erstens hat sich seine Analyse im Laufe der Entwicklung des Stalinismus selbst verändert. Anders als wir hatte er es nicht mit einem fertigen Phänomen zu tun, sondern mit einer komplexen, im Werden begriffenen Erscheinung. Daher ändern sich auch Trotzkis Positionen zur stalinistischen Bürokratie und seine politisch-programmatischen Schlussfolgerungen.
Zweitens ist Trotzki wie alle großen marxistischen TheoretikerInnen zugleich Revolutionär, Politiker, Praktiker im besten Sinne des Wortes. Seine Analyse erarbeitet er im Kontext der polemischen Auseinandersetzung, der damit einhergehenden Zuspitzung einzelner Punkte und in praktischer, revolutionärer Absicht. Ein bürgerlicher, anschauender Marxismus ist ihm fremd.
Die dritte und wichtigste Schwierigkeit liegt im widersprüchlichen Wesen nicht nur des Stalinismus, sondern des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus selbst begründet. Der bleibende Wert von Trotzkis Beitrag zum Verständnis der Sowjetgesellschaft und des Stalinismus liegt gerade darin, den Ausgangspunkt der Betrachtung richtig zu wählen.
Entgegen etlichen zeitgenössischen und heutigen Vorwürfen, die Trotzkis Theorie als „historisch befangen“ erklären, die seine Konzeption des degenerierten ArbeiterInnenstaates zurückweisen, weil er „emotional“ an der Oktoberrevolution hänge (Cliff u. a.) und sich trotz Stalin von der SU nicht lösen könne oder umgekehrt wegen Stalin deren Entwicklungspotential übersehen hätte (z. B. Deutscher), ist bei Trotzki ein enormes Maß an Objektivität zu spüren. Sein Eintreten für die verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution und den revolutionären Sturz der Bürokratie hat – wie wir zeigen werden – nichts mit persönlicher Eitelkeit oder gar einer „Revanche an Stalin“ zu tun.
Nach einem vergleichenden Überblick über die soziale und politische Situation in der Sowjetunion 1935 wendet sich Trotzki der eigentlichen Analyse der Sowjetgesellschaft zu. Er beginnt dabei nicht bei Stalin, ja überhaupt nicht mit der Untersuchung einzelner Aspekte der frühen Sowjetunion, sondern mit grundlegenden Betrachtungen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der sozioökonomische Charakter der Sowjetunion und der Stalinismus müssen aus den inneren Widersprüchen dieser Übergangsperiode erklärt werden. Dieser Methode bleibt Trotzki grundsätzlich treu. Das weist ihn als großen Vertreter des historischen Materialismus aus.
Er lehnt jede normative Herangehensweise ab. Es reicht, so Trotzki, nicht aus nachzuprüfen, ob ein ArbeiterInnenstaat oder jedes andere Phänomen der „Norm“, unseren Idealen entspricht.
„Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, ArbeiterInnenstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, dass Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer ‚A‘ aufhört ‚A‘ zu sein, ein ArbeiterInnenstaat aufhört, ein ArbeiterInnenstaat zu sein.
Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, dass es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit (…).“ (2)
Trotzki verdeutlicht das anhand eines Vergleiches mit Gewerkschaften:
„Die geschichtliche Entwicklung hat uns mit den unterschiedlichsten Gewerkschaften bekannt gemacht: kämpferischen, reformistischen, revolutionären, reaktionären, liberalen und katholischen. Anders verhält es sich mit dem ArbeiterInnenstaat. Diese Erscheinung beobachten wir zum ersten Mal. Daher resultiert die Neigung, die UdSSR ausschließlich unter dem Blickwinkel der Normen des revolutionären Programms zu betrachten. Indessen ist der ArbeiterInnenstaat eine objektive geschichtliche Tatsache, auf die verschiedene geschichtliche Kräfte einwirken und die, wie wir sehen, in vollen Widerspruch zu den ‚traditionellen Normen‘ geraten ist.“ (3)
Hier und an anderer Stelle verweist er darauf, dass wir wenig gewonnen haben, wenn wir einfach eine Idealvorstellung des ArbeiterInnenstaates mit dem Phänomen Sowjetunion vergleichen und zur Schlussfolgerung gelangen, dass sie diesem Modell nicht entspricht.
Die wissenschaftliche Charakterisierung hat immer auch programmatische und politische Konsequenzen. Ist die Sowjetunion nur ein anderer, totalitärer, imperialistischer Staat, würde daraus z. B. im Krieg gegen das faschistische Deutschland eine defaitistische Haltung des Proletariats folgen.
Hinter der Charakterisierung degenerierter ArbeiterInnenstaat steht für Trotzki jedoch, dass die Sowjetunion trotz der Monstrosität der Stalin‘schen Herrschaft noch immer auf der Enteignung der Bourgeoisie gründet, dass sich keine neue Kapitalistenklasse an die Macht geschwungen hat und dass eine ArbeiterInnenrevolution gegen Stalin diese Aufgabe nicht erneut erfüllen muss. Daher traten die TrotzkistInnen vor dem und im Zweiten Weltkrieg für die Verteidigung der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland und für den Sieg der UdSSR ein.
Trotzki versucht, das Problem des Übergangs im Anschluss an Marx, Engels und Lenin sowohl theoretisch zu erschließen wie auch historisch – in der Analyse der Entwicklung der Sowjetunion. In seinen Arbeiten greift Trotzki die wichtige Erkenntnis des Marxismus auf, dass der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus, nur über die politische Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse möglich ist.
Sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess zur vollständigen Umwälzung der Gesellschaft, zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung fähig ist. Der gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen Produktionsweise schafft die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, das Leben der Menschen bewusst zu gestalten und jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung zu überwinden.
Möglich ist das aber nur, wenn sich die Arbeitenden, die den Reichtum der Gesellschaft schaffen, dieser Notwendigkeit bewusst werden. Das passiert nicht spontan. Das Proletariat ist vielmehr selbst in der Warenwirtschaft verhaftet, es ist von chauvinistischen, sexistischen, usw. Vorurteilen geprägt, die sie an die bestehende Gesellschaft fesseln.
Damit diese Klasse wirklich revolutionär wird und einen konsequenten Kampf für ihre eigene Emanzipation führen kann, muss gegen alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung agiert werden. Es bedarf dazu des Kampfes gegen bürgerliches und kleinbürgerliches Bewusstsein und jede Form unterdrückerischen Verhaltens unter den Ausgebeuteten. Nur durch die Verbindung von Kampf, Organisierung und Bewusstsein wird das Proletariat befähigt, den revolutionären Sturz des bestehenden Ausbeutungssystems herbeizuführen und dem Marktwahnsinn der Profitwirtschaft ein Ende zu bereiten. Das ist die notwendige Vorbedingung, damit die Potenzen der Gesellschaft zur freien und allseitigen Entfaltung aller Menschen genutzt werden können. Es gibt nur eine Gesellschaftsformation, in der das möglich ist: die kommunistische, das Ziel der proletarischen Revolution.
Diese Erkenntnis muss zusammen mit einem weiteren wichtigen Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution verarbeitet werden. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte sich die entstehende Bourgeoisie auf eine lange historische Phase der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schoße der Feudalgesellschaft stützen. Schon lange bevor die Aristokratie ihre politische Macht verlor und diese an die Kapitalistenklasse abzutreten gezwungen war, begannen die bürgerliche Produktionsweise, das Vordringen von Geldwirtschaft und Manufaktur, die feudale Produktionsweise von innen zu zerstören.
Wie Engels zu Recht feststellt, war die Umwälzung der politischen Verhältnisse, die Zerstörung der feudalen Ordnung nicht einfach ein „Nachvollzug“ des ökonomischen Voranschreitens, sondern notwendig, um die neue Produktionsweise von den feudalen Fesseln zu befreien. Dem/r KönigIn musste der Kopf abgeschlagen werden. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse mussten über die Landesgrenzen ausgedehnt werden – und sei es mit den Bajonetten der napoleonischen Armee.
In den bürgerlichen Revolutionen gelangte die Bourgeoisie auf Basis der Mobilisierung der Volksmassen an die politische Macht. Auch dort, wo es der Feudalaristokratie gelang, diese wieder zu erlangen, wo die Revolutionen scheiterten und die Exekutivgewalt in den Händen der konterrevolutionären Aristokratie blieb, war an eine Restauration des gesellschaftlichen Systems des Feudalismus nicht mehr zu denken. Der Kapitalismus und erst recht das Fabriksystem hatten die Mauern der alten Ordnung zu diesem Zeitpunkt schon so gründlich zerstört, dass der ehemals herrschenden Klasse nur übrig blieb, sich mit der Kapitalistenklasse zu arrangieren und, wie z. B. in Deutschland oder der Habsburger Monarchie, die rasch wachsende Angst der BürgerInnen vor dem sich bildenden Proletariat zu einem möglichst großzügigen Arrangement für KaiserIn, KönigIn und JunkerIn zu nutzen.
In jedem Fall aber blieb die kapitalistische Produktionsweise die vorherrschende, weil sie schon in der Feudalgesellschaft ihre historische Überlegenheit gezeigt hatte, weil sich die Bourgeoisie mit ihrer Entwicklung zur herrschenden Klasse bereits auf ein überlegenes, bürgerliches System der Produktion und Distribution stützen konnte.
Die ArbeiterInnenklasse kann sich jedoch vor der revolutionären Machtergreifung auf kein solches System stützen. Der Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen des Kommunismus und seine inneren Widersprüche drängen notwendig zum Sturz dieser Klassengesellschaft – aber im Kapitalismus entwickelt sich keine zukünftige sozialistische Produktionsweise.
Die Kapitalistenklasse entwickelte sich organisch aus Geldwirtschaft, Handel und Handwerk im Feudalismus. Sie konnte ihre ökonomische Vorherrschaft, lange bevor sie zur politisch herrschenden Klasse wurde, auf der Grundlage einer neuen, historisch überlegenen Produktionsweise vorbereiten, die sich neben der und gegen die feudale Produktionsweise entwickelte.
Die Kapitalistenklasse entwickelte sich aus den Zwischenklassen, Mittlerinnen der Feudalgesellschaft, nicht aus der unterdrückten Produzentenklasse der Leibeigenen, Hörigen oder abhängigen Bauern/Bäuerinnen. Sie entwickelte sich aus dem Kampf der Stadt gegen das Land, aus dem Kampf neu entstehender Mittelklassen, die sich oft selbst aus ehemaligen, entflohenen Leibeigenen rekrutierten. So war es möglich, dass sie sich nach der politischen Machtergreifung bereits auf die ökonomische Vorherrschaft stützen konnte.
Für das Proletariat besteht diese Möglichkeit nicht. Gerade weil die kapitalistische Produktionsweise auf der Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeitern als Klasse von LohnrbeiterInnen basiert, die Mehrwert und Kapital produzieren, kann diese Klasse nicht im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigene Produktionsweise schaffen. Sie muss vielmehr zuerst ihre gesellschaftliche Stellung zur politischen Machtergreifung nutzen, zur eigenen Klassenherrschaft gelangen, um auf dieser Grundlage die Gesellschaft gründlich, bewusst und planmäßig umzugestalten. Nach der Machtergreifung muss sich die ArbeiterInnenklasse nicht nur mit der bürgerlichen Konterrevolution auseinandersetzen, sie kann nur über die bewusste Umwälzung der vom Kapitalismus übernommenen Verhältnisse zur klassenlosen Gesellschaft voranschreiten.
„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtische Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, jedem/r nach seinen/ihren Bedürfnissen.“ (4)
Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft erfordert eine bewusste Klassenführung, erfordert ein Bewusstsein von der Aufgaben der Klasse. Nach der Revolution wird die Frage des Bewusstseins der Klasse nicht weniger bedeutend. Das Proletariat kann nach Marx´ Auffassung den Staat nicht einfach „abschaffen“, wie die AnarchistInnen glauben, es muss vielmehr für eine Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus selbst die Staatsmacht ausüben, um sich gegen die innere und äußere bürgerliche Konterrevolution zu verteidigen und diese zu unterdrücken.
„Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt eine Periode der revolutionären Umwälzung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (5)
Schon vor der Revolution von 1848 vertraten Marx und Engels die Auffassung, dass die ArbeiterInnenklasse die politische Macht erringen müsse, um ihre ökonomische Befreiung erwirken, um Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen und schließlich den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft ebnen zu können. Das kommt auch im Kommunistischen Manifest zum Ausdruck: „Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der ArbeiterInnenrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“ (6)
Welche Staatsform zur Befreiung des Proletariats notwendig sei, was mit dem schon existierenden Staatsapparat geschehen müsse – das war damals noch nicht mit Inhalt gefüllt. Doch schon die Errichtung der bonapartistischen Diktatur Napoleons III. 1851 in Frankreich führte Marx und Engels zu wichtigen neuen Erkenntnissen in Bezug auf den Staat. Der bürgerliche Staat ist nicht einfach eine Institution, die der Herrschaft jeder beliebigen Klasse – egal ob ausbeutend oder nicht – dienen kann.
Im Gegenteil, er dient in jeder Form – egal ob als parlamentarische Demokratie oder als Diktatur, ob als Republik oder Monarchie – der Aufrechterhaltung und Befestigung der Macht des Bürgertums. Das trifft selbst dann zu, wenn VertreterInnen des Proletariats z. B. die Mehrheit im Parlament hätten, da das eigentliche Machtzentrum des Staates nicht bei den Abgeordneten, sondern im Staatsapparat selbst liegt, bei der Bürokratie, der Justiz vor allem bei Armee und Polizei.
Das Proletariat kann daher die bürgerliche Staatsmaschine, so die Schlussfolgerung von Marx und Engels, nicht einfach übernehmen. Sie muss vielmehr zerbrochen oder, wie sich Lenin in „Staat und Revolution“ ausdrückt, zerschlagen werden. In einem berühmten Brief an Ludwig Kugelmann vom 12. April 1871 macht Marx seine Auffassung besonders deutlich:
„Wenn Du das letzte Kapitel meines ,Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wird Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (7)
Genau das, so Marx, habe die Kommune im Unterschied zu allen Revolutionen vor ihr gemacht. Sie hat nicht mehr den bestehenden Staatsapparat einfach übernommen, ihre Leute auf hoch dotierte Bürokratenposten gesetzt und ihnen damit ermöglicht, sich über jene zu stellen, die sie in diese Position gebracht haben. Sie hat den Staatsapparat sozusagen vom Himmel auf die Erde geholt – indem sie ihn zerschlagen und durch einen völlig neuartigen „Staat“, die Kommune, ersetzt hat.
Die Kommune wurde durch Abgeordnete gebildet, die in den Bezirken von Paris durch allgemeines Stimmrecht gewählten wurden. Das Besondere dabei war erstens, dass diese ihren WählerInnen jederzeit verantwortlich und von diesen absetzbar waren. Anders als in der bürgerlichen Gewaltenteilung üblich, waren gesetzgebende und ausführende Tätigkeit in einer Körperschaft vereint. Zweitens durften alle Mitglieder der Kommune und Ausführende sonstiger öffentlicher Tätigkeiten nicht mehr als einen ArbeiterInnenlohn beziehen, um dem im bürgerlichen Staat üblichen Karrierismus vorzubeugen.
Alle öffentlichen Funktionen, die auch unter der Herrschaft des Proletariats notwendig sind, wurden in die direkte Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung überführt. Sie verwirklichte auf ihre Art den „schlanken Staat“ – ohne MinisterialbeamtInnen, HofrätInnen und tausende andere HonoratiorInnen, die das „Wohl der Allgemeinheit“ vor allem zum Mittel ihrer eigenen Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit machen.
Gleich im ersten Dekret, das die Kommune erließ, räumte sie auch entschlossen mit der bewaffneten Macht des alten Staatsapparats auf. Das stehende Heer wurde abgeschafft und durch die Bewaffnung des ganzen Volkes ersetzt. Ebenso wurden alle RichterInnen und sonstigen JustizbeamtInnen ihrer scheinbaren Unabhängigkeit entkleidet und sollten wie alle übrigen Ämter gewählt, verantwortlich und jederzeit absetzbar sein.
Die Kommune ging natürlich auch daran, die geistigen Hilfsmächte der alten Ordnung, vor allem den Klerus, in die Schranken zu weisen und Symbole des Kaiserreichs, der Reaktion und des Chauvinismus zu zerstören. Die Religion wurde aus den Schulen verbannt und Grundbesitz und sonstige kommerzielle Unternehmungen der Kirche wurden enteignet. Die Siegessäule Napoleons und die als Sühne für die Hinrichtung Ludwigs XVI. errichtete Bußkapelle wurden geschliffen, die Guillotine öffentlich verbrannt.
Nicht zuletzt ging auch die Kommune in den wenigen Wochen ihres Bestehens daran, in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse einzugreifen. Mietschulden der ArbeiterInnen wurden für nichtig erklärt und die Nachtarbeit bestimmter Berufe wie der BäckerInnen verboten. Am 16. April wurde eine statistische Erfassung der von den Unternehmern stillgelegten Fabriken und die Ausarbeitung von Plänen für ihren Betrieb und ihre Leitung durch in Kooperativen vereinigte Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen.
In nur wenigen Wochen hatte die Kommune, getragen vom arbeitenden Paris, für das Interesse der Massen mehr geleistet als sämtliche bürgerliche WeltverbessererInnen der Geschichte zusammen. Zweifellos hatte auch die Kommune ihre Schwächen. Sie hatte es versäumt, rechtzeitig der bürgerlichen Konterrevolution in Versailles militärisch entgegenzutreten, bevor diese ähnliche Versuche in großen französischen Städten niederschlagen und schließlich das Pariser Proletariat im Bürgerkrieg niedermachen konnte. Sie hatte es versäumt, solche grundlegenden ökonomischen Maßnahmen wie die Beschlagnahme der Bank von Frankreich durchzuführen und damit der bürgerlichen Konterrevolution ein wichtiges Machtmittel zu entreißen.
Doch all das ändert nichts an der weltgeschichtlichen Bedeutung dieser ersten Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, dieser ersten Errichtung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte. Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, diese demokratischste aller Demokratien, die direkte Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung als Diktatur zu bezeichnen. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Entgegen den bürgerlichen ApologetInnen erkennen wir, dass jeder demokratische Staat in seinem Kern eine Diktatur ist. Der bürgerliche Staat – egal welche Partei auch an seiner Spitze steht und welche Herrschaftsform er annimmt – bleibt immer ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Profitwirtschaft und des Privateigentums an den Produktionsmitteln, also ein Instrument zur Diktatur der herrschenden Klasse, des Kapitals, über die von ihr ausgebeutete Klasse, die ArbeiterInnenklasse.
In der Diktatur des Proletariats verkehrt sich die Diktatur einer winzigen Minderheit über die große Mehrheit der Bevölkerung in jene der überwältigenden Mehrheit über die Minderheit, um deren Ausbeutung und Unterdrückung national wie weltweit zurückzudrängen. Wenn wir hier von Diktatur sprechen, anerkennen wir, dass der ArbeiterInnenstaat einen bewussten Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung führen muss. Um dabei erfolgreich zu sein, stützt er sich – wie die Kommune – auf die weitestgehende Demokratie (tagtäglich und nicht bloß alle vier Jahre) in Form eines Rätesystems. Dies ist die Herrschaftsform des ArbeiterInnenstaates für die Übergangsperiode zum Sozialismus, während der in der Gesellschaft der Klassenwiderspruch (etwa in Form des Kleinbürgertums) noch existiert.
Während die Bourgeoisie wie alle ausbeutenden Klassen die Unterdrückten zu täuschen versucht, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staats und der Demokratie leugnet, haben KommunistInnen nichts zu verbergen. Uns geht es darum, den Arbeitern und Arbeiterinnen politische Klarheit zu vermitteln. Wir treten offen für unsere Auffassungen ein. Wir bezeichnen den Staat der Übergangsperiode als Diktatur, weil er wie jeder Staat ein Herrschaftsinstrument einer Klasse gegen eine andere ist und weil wir aus allen bisherigen Versuchen des Sturzes des Kapitalismus wissen, dass wir ein solches Instrument zum Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution brauchen. Wer die proletarische Diktatur ablehnt, ist in Wirklichkeit gezwungen, weiter die Diktatur der KapitalistInnen zu dulden.
Schon wenige Tage nach der Niederlage der Kommune, am 30. Mai, präsentierte Marx vor dem versammelten Generalrat der Internationalen ArbeiterInnenassoziation, die später als die Erste Internationale in die Geschichte eingehen sollte, die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich” (MEW Bd. 17, S. 313–365). Dort legt er erstmals die wesentlichen Schlussfolgerungen über die Pariser Kommune nieder.
„Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis ist dies: Sie war wesentlich eine Regierung der ArbeiterInnenklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.
Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und Täuschung. Die politische Herrschaft des/r ProduzentIn kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner/ihrer gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und der Klassenherrschaft ruht.“ (8)
Mit der Kommune war endlich die Form gefunden, durch die die bürgerliche Staatsmaschinerie in der proletarischen Revolution zu ersetzen ist – ein Ziel jedes wirklich sozialistischen Programms, das sowohl durch sozialdemokratische wie durch stalinistische Staatsgläubigkeit fast verloren ging.
Anders als der bürgerliche Staat ist die Kommune eine Staatsform, die in dem Maß, wie der Aufbau des Sozialismus im internationalen Maßstab voranschreitet, die, je mehr die Klassengegensätze planmäßig überwunden werden, selbst aufhört, ein Staat, ein Mittel einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen zu sein. Gerade weil die Kommune einen Mechanismus darstellt zur Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft (jederzeitige Wahl- und Abwahl öffentlicher FunktionärInnen, ArbeiterInnengehalt), ist sie eine Staatsform, die schon die Möglichkeit des Absterbens des Staates in sich trägt.
Mit ihr – nicht mit den stalinistischen Imitationen des bürgerlichen Staates – ist der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und damit zur Überwindung des „ganzen Staatsplunders“ (Engels) möglich. Lenin und die Bolschewiki knüpften an diese Tradition von Marx und Engels an. In seiner Schrift „Staat und Revolution“ greift Lenin die Erkenntnis auf, nicht nur die Staatsmacht zu ergreifen, sondern auch die existierende bürgerliche Staatsmaschinerie zu zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat zu ersetzen.
„Beamtentum und stehendes Heer, das sind die ‚SchmarotzerInnen‘ am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, SchmarotzerInnen, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben ParasitInnen, die die Lebensporen ‚verstopfen‘.“ (9)
Er schlägt daher in der Tradition der Pariser Kommune Maßnahmen vor, um die Herausbildung einer neuen Bürokratie und deren Verfestigung zu einer Kaste zu verhindern:
Erstens tritt er entschieden für die Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller staatlichen FunktionärInnen ein; zweitens darf das Gehalt dieser FunktionärInnen den Lohn der ArbeiterInnen nicht überschreiten; drittens sollen die Aufsichts- und Kontrollfunktionen unter allen Mitgliedern der Gesellschaft rotieren, so dass für eine begrenzte Zeit jede/r „BürokratIn“ wäre – und somit niemand lebenslang BürokratIn werden kann.
Zweifellos haben die Bolschewiki schon zu Lebzeiten Lenins von diesem Programm viele Abstriche machen müssen. Sie haben, um die russische Revolution zu verteidigen, sogar in vielen Fällen zu ganz und gar dem Programm entgegengesetzten Maßnahmen greifen müssen. Deutlich wird das z. B. im Fall der Gründung der Roten Armee.
Wollte man einen normativen Maßstab an die Russische Revolution und die Sowjetunion anlegen, so müsste man die Oktoberrevolution vom ersten Moment der Machtergreifung an für gescheitert erklären. Die AnarchistInnen tun das konsequenterweise – in totaler Verkennung und Ignoranz gegenüber den inneren Widersprüchen der Übergangsperiode. Für die AnarchistInnen und Ultralinken löst sich die Frage im Endeffekt in der Losung nach sofortiger Umsetzung bestimmter programmatischer „Marotten“ auf. Schaffen wir den Staat ab – dann hat sich alles gelöst. Dasselbe trifft auf die frühen ultralinken KritikerInnen zu. Warum wird das Geld, wird der Warentausch nicht einfach „abgeschafft“? Warum gehen die Bolschewiki gegen die Kronstädter Matrosen vor? Verletzt das nicht alles die Reinheit der Revolution und ihrer „Prinzipien“?
Das Problem der Übergangsperiode besteht aber gerade darin, dass wir es hier mit einem Widerstreit zweier gesellschaftlicher Prinzipien – dem Wertgesetz und bewusster gesellschaftlicher Planung, der alten bürgerlichen Gesellschaft und der zukünftigen sozialistischen – zu tun haben. Die Übergangsgesellschaft ist – anders als Sozialismus und Kommunismus – keine eigene Gesellschaftsformation, sie ist vielmehr ein Übergangsregime, wo sich die alte, bürgerliche Produktionsweise und die neue, erst embryonal vorhandene sozialistische einen Kampf auf Leben und Tod liefern.
Die übernommenen, mehr oder weniger starken bürgerlichen Elemente können nur auf Basis einer Entwicklung der Produktivkräfte, die weit höher als die des fortgeschrittensten Kapitalismus ist, überwunden werden. Auch bei günstigen inneren und äußeren Umständen (und die lagen in der frühen Sowjetunion nicht vor) kann das zur Macht gekommene Proletariat das Wertgesetz nicht einfach „abschaffen“. Es muss vielmehr die gesellschaftlichen Bedingungen, und das bedeutet u. a. ein bestimmtes Niveau der Vergesellschaftung der Produktion, herstellen, um diesen Schritt auch real durchführen zu können. Ansonsten wird sich das Wertgesetz nur blind zur Geltung bringen.
Ein typisches Beispiel ist der in den stalinistischen Staaten florierende Schwarzmarkt, der überall dort wucherte, wo die offizielle Produktion nicht ausreichte und Engpässe existierten. Ein historisches Beispiel für einen Kompromiss mit den gesellschaftlichen Bedingungen stellt die Zulassung von Marktmechanismen im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik 1922 dar, als der Staat nicht fähig war, den Bauern/Bäuerinnen im Tausch für ihre landwirtschaftlichen Produkte Maschinen anzubieten, und diese daher wenig Anreiz zur Produktion hatten, solange sie ihre Produkte nicht verkaufe konnten, sondern an den Staat abliefern mussten.
Trotzki beschreitet auf dieser Linie einen grundsätzlich anderen Weg als die AnarchistInnen und Ultralinken, einen grundsätzlich anderen Weg als alle normativen AnalytikerInnen. Er erklärt die bürokratische Entartung der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion mit der Rückständigkeit und der internationalen Isolierung des Landes, dem Ausbleiben der internationalen Revolution.
„Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des Sozialismus in Europa: Die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die Lenin und seine erfahrenen KampfgenossInnen als eine kurze ‚Atempause‘ (gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk und die Phase unmittelbar danach; d. A.) erschien, dehnte sich auf eine ganze historische Epoche aus. Die widersprüchliche gesellschaftliche Situation der UdSSR und der ultra-bürokratische Charakter ihres Staates sind direkte Folgen dieser einzigartigen, ‚unvorhergesehenen‘ historischen Stockung, die gleichzeitig in den kapitalistischen Ländern zum Faschismus oder zur präfaschistischen Reaktion führte.“ (10)
Die Rückständigkeit der Sowjetunion (und in diesem Sinne die Problematik jedes Landes, das „selbstständig“ den Weg zum Sozialismus einschlagen wollte) drückt sich in inneren Klassenwidersprüchen aus, den gegensätzlichen Interessen von Proletariat und Bauern-/Bäuerinnenschaft, in der Rückständigkeit der Produktivkräfte und damit in der Unmöglichkeit, Preise, Geld, Wert usw. einfach abzuschaffen. Aus dieser inneren Widersprüchlichkeit erklärt Trotzki den Aufstieg der Bürokratie in der frühen Sowjetunion.
„Scheiterte der anfänglich unternommene Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an der Unerfahrenheit der Massen in der Selbstverwaltung und am Mangel von dem Sozialismus ergebenen, qualifizierten ArbeiterInnen, so tauchten schon sehr bald hinter diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tiefer liegende auf. Die Reduktion des Staats auf die Funktionen eines ‚Revisors und Kontrolleurs‘ bei ständiger Verminderung seiner Zwangsfunktionen, wie es das Programm fordert, setzt doch ein gewisses Maß von allgemeinem materiellen Wohlstand voraus. Gerade diese notwendige Voraussetzung aber fehlte. Die Hilfe des Westens blieb aus. Die Macht der demokratischen Sowjets erwies sich als hinderlich, ja, als unerträglich, als es darum ging, die für Verteidigung, Industrie, Technik und Wissenschaft unentbehrlichen privilegierten Gruppen zu versorgen. Auf Grund dieser keineswegs ‚sozialistischen‘ Operationen, ,zehnen wegnehmen, um einem/r zu geben‘, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste von SpezialistInnen an der Futterkrippe.“ (11)
Die frühe Sowjetunion war aufgrund ihrer imperialistischen Umkreisung, des Bürgerkriegs und v. a. der ökonomischen Rückständigkeit gezwungen, die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben – nicht zuletzt, um den Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, aber auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse – überbrücken zu können. Statt Überfluss und Reichtum wurde vor allem der Mangel vergesellschaftet – und wo Mangel herrscht, stellt sich die Notwendigkeit eines/r RegulatorIn der Verteilung ein, eines/r „SchiedsrichterIn“ über den Klassen. Diese Funktion nahm der Staat wahr. Das gesellschaftliche Gewicht, und damit auch die Bedeutung der Bürokratie, nahmen zu.
Bis zu einem gewissen Grad ist das eine innere Notwendigkeit (auch eines gesunden) ArbeiterInnenstaates. Aber die bürokratischen Tendenzen führen beim Ausbleiben der internationalen Revolution zu einer inneren Entartung, zu einer politischen Konterrevolution – gegen Sowjetdemokratie, gegen die Partei, gegen den Kommunismus. Trotzki greift dabei die Marx‘sche Sicht auf, dass die Entwicklung zum Sozialismus nicht durch die automatische Entwicklung der Eigentumsverhältnisse garantiert wird. Anders als beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus haben sich im Kapitalismus keine überlegenen, sozialistischen Produktionsverhältnisse herausgebildet, die nach der Revolution den Weg zum Sozialismus unabhängig von bewusster menschlicher Tätigkeit, Lenkung – d. h. von ArbeiterInnendemokratie und Planung – sichern könnten.
In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus bedarf es einer als Staatsmacht organisierten ArbeiterInnenklasse: der Diktatur des Proletariats. Doch was passiert, wenn die politische Herrschaft dem in Räten organisierten Proletariat entgleitet, wenn die revolutionäre Vorhut der Klasse liquidiert, wenn die politische Herrschaft des Proletariats zur Herrschaft der Bürokratie wird, wenn die revolutionäre Partei selbst entartet?
Es findet, so Trotzki, eine politische Konterrevolution statt. Während die ökonomischen Grundlagen der Oktoberrevolution (Verstaatlichung, Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol) weiter in Kraft sind, während das Wertgesetzt noch nicht dominierender Regulator der Wirtschaft ist, wird die politische Macht bei der einstigen „Schiedsrichterin“ im Verteilungskampf des nachkapitalistischen Mangels konzentriert. Dadurch wird die Bürokratie aber noch nicht zu einer neuen herrschenden Klasse.
„Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlage der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse definieren für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates.“ (12)
Die Bürokratie als herrschende Schicht reproduziert sich auf Grundlage dieser sozialen Verhältnisse, d. h. auf Grundlage der Enteignung der Kapitalistenklasse. Zweifellos erwachsen daraus soziale Privilegien, plündert die Bürokratie das gesellschaftliche Mehrprodukt und verteilt es nach ihren Interessen. Das macht sie zwar zu einer überaus repressiven und reaktionären Erscheinung, es macht sie jedoch zu keiner neuen herrschen Klasse oder einer „kollektiven“ Kapitalistenklasse.
Die Bourgeoisie im Kapitalismus reproduziert sich über ihr Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie innerhalb ihrer Klasse weiterreicht (vererbt). Zum/r KapitalistIn aufzusteigen, setzt eine Mindestmenge Kapital in eigenen Händen voraus. Zur Reproduktion der Klasse ist es keinesfalls notwendig, dass die KapitalistInnen die politische Macht persönlich ausüben. Das können sie ruhig bezahlten FunktionärInnen – bürgerlichen, kleinbürgerlichen, reformistischen PolitikerInnn – überlassen. In der Tat ist das gerade in den fortgeschrittenen bürgerlichen Staaten üblich.
Die herrschende Bürokratenkaste in der Sowjetunion und in den späteren stalinistischen Ländern Osteuropas, in China, Kuba usw. hat sich nicht so reproduziert. Die Macht des/r BürokratIn, vor allem aber die Reproduktion der Bürokratie als Gesamtheit war wesentlich politisch, über Staats- und Parteifunktionen, über die Hierarchie einer politischen Institution vermittelt. Das drückt auch der Terminus Nomenklatura deutlich aus.
Fällt der/die BürokratIn aus der Rolle, gibt es innerhalb der Bürokratie politische Säuberungen, so kann ein/e BürokratIn seine/ihre gesellschaftliche Macht und Privilegien verlieren. Er/Sie besitzt kein Privateigentum, das er/sie an seine/ihre Kinder weiterreichen könnte. Er/Sie hat auch keine Verfügungsgewalt, sobald er/sie aus dem Kreis der politischen Macht verstoßen ist.
Das ist nicht nur individuelles Schicksal eines/r FunktionärIn, es ist ein Problem der gesamten Kaste. Sie kann sich auf keine besonderen Eigentumsformen stützen. Sie ist vielmehr gezwungen, mit ihren Methoden das staatliche Eigentum zu verteidigen.
„Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von ‚StaatskapitalistInnen‘ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der/Die einzelne BeamtIn kann seine/ihre Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in missbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe.“ (13)
Genau diese gesellschaftlich widersprüchliche Lage der Bürokratie bringt auch Isaac Deutscher in „Die unvollendete Revolution“ sehr gut zum Ausdruck. Die Einkünfte des Staatsapparates, der Parteihierarchie, der Militärs, der Managergruppen stammen aus dem Mehrprodukt der Arbeitenden. Das hat die Bürokratie mit jeder Ausbeuterklasse (nicht nur mit den KapitalistInnen) gemein.
„Aber was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt, ist Eigentum. Sie besitzen weder Produktionsmittel noch Boden. Ihre materiellen Privilegien sind auf die Sphäre des Verbrauchs beschränkt. (…) Sie können ihren Nachkommen keinen Reichtum hinterlassen; das heißt, sie können sich nicht als Klasse verewigen.“ (14)
Auch die Darstellung, dass die Bürokratie als „kollektive“ Kapitalistin fungiere, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Begriff des Kapitals vollkommen seiner wissenschaftlichen Bedeutung entleert wird. Kapitalismus bedeutet Produktion für Profit – und zwar immer wiederkehrende, fortgesetzte Aneignung von Mehrwert, seine Verwandlung in Profit und Wiederverwendung des angeeigneten Mehrwerts, um noch mehr Profit zu erwirtschaften. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos, rastlos, führt zu immer wiederkehrender Umwälzung und Revolutionierung der Produktion (wie auch der Zirkulationssphäre). Kapital ist sich selbst verwertender Wert, der/die KapitalistIn ist Personifikation dieser Bewegung.
Diese rastlose, ständige Suche nach immer profitableren Anlagemöglichkeiten des Kapitals, dessen Zweck die Vermehrung abstrakten Reichtums ist (und nicht irgendein bestimmter Gebrauchswert), ist der Bürokratie fremd. Die Wirtschaft der UdSSR oder der DDR war nicht dadurch bestimmt oder getrieben, immer mehr Wert zu schaffen. Im Gegenteil: die Wirtschaftspolitik der Bürokratie war auf die Produktion bestimmter Gebrauchswerte ausgerichtet – wenn auch in erster Linie solcher, die ihrer eigenen Machterhaltung, ihren Konsumbedürfnissen und dem Druck der ArbeiterInnenschaft entsprachen.
Das Wertgesetz machte sich natürlich auf verschiedene Art und Weise auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten geltend. Wie jede Übergangsgesellschaft waren sie von einem Wettstreit zwischen Planung und Wertgesetz gekennzeichnet, zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen Systemen.
Der kapitalistische Weltmarkt wirkte ebenso ins Innere der Planwirtschaft, wie auch bestimmte, für die kapitalistische Ökonomie typische Formen – z. B. die Lohnform – erhalten blieben (und bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten werden mussten). Aber diese Formen waren dem System der (bürokratischen) Planung untergeordnet. Sie machten die herrschende Bürokratie zu keiner neuen Kapitalistenklasse, so sehr das manche/r FunktionärIn insgeheim vielleicht auch wollte.
Ebenso wenig konnte das vom Westen angestachelte Wettrüsten die internen Mechanismen der bürokratischen Planwirtschaft außer Kraft setzen, auch wenn es die sowjetische Wirtschaft zunehmend belastete. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, das Wettrüsten sowie die zunehmende Verschuldung trugen eindeutig zur Beschleunigung des Niedergangs der Wirtschaft der degenerierten ArbeiterInnenstaaten bei. Die lange wirtschaftliche Instabilität nach 1989 und die Schwierigkeiten bei der Wiedereinführung der Profitwirtschaft verdeutlichen jedoch, wie tief verankert die nachkapitalistische Produktionsweise nach wie vor war.
Die Monopolisierung der politischen Macht in den Händen der Bürokratie verleiht ihr auf Grundlage der nachkapitalistischen Verhältnisse zweifellos eine Machtfülle, wie es für die Bürokratie im Kapitalismus unüblich ist (und wie sie am ehesten in faschistischen oder staatskapitalistischen Regimes der halbkolonialen Welt, aber auf anderer, kapitalistischer Grundlage, anzutreffen ist).
Die Kontrolle über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums darf daher nicht auf die Aneignung persönlicher Privilegien und Plünderung im Eigeninteresse von Partei- und StaatsfunktionärInnen eingeengt werden. Das ist ein, gerade für „sozialistische“ Staaten besonders abscheulicher Vorgang. Das politische Machtmonopol der Bürokratie bedeutet auch, dass die Wirtschaftsentwicklung von ihr kontrolliert wird, neue Vorhaben, die Verteilung des Reichtums auf verschiedene Sektoren, von ihren politischen Entscheidungen bestimmt werden.
Dies führt dazu, dass die Grundlagen der Planwirtschaft von innen unterhöhlt werden. Die Bürokratie ist nicht einfach eine schlechte Sachwalterin des Übergangs zum Sozialismus, ihre Herrschaft ist ein Hindernis, das – wird es nicht rechtzeitig durch eine ArbeiterInnenrevolution beseitigt – früher oder später zur Rekapitalisierung führt.
Die Bürokratie ist weder willens noch fähig, eine bewusste Lenkung der Wirtschaft in Richtung Sozialismus zu gewährleisten. Dazu ist eine funktionierende ArbeiterInnendemokratie unabdingbar. Hinzu kommt, dass die Herrschaft der Bürokratie gleichzeitig dazu führt, dass das Klassenbewusstsein des Proletariats, der noch immer gesellschaftlich herrschenden Klasse, mehr und mehr zerstört wird.
Die politische Machtergreifung der Bürokratie bedeutet in der frühen Sowjetunion den Vollzug einer inneren politischen Konterrevolution. Sie geht mit der Zerstörung aller Elemente des proletarischen Halbstaates, der Räte und räteähnlicher Strukturen, aller Formen der ArbeiterInnen- und Parteidemokratie einher.
Wie wir oben gesehen haben, war auch die frühe Sowjetunion gezwungen, im Interesse der Sicherung der Revolution auf bürgerliche Strukturen und Formen zurückzugreifen. Solche Schritte können auch für zukünftige Revolutionen nicht ausgeschlossen werden, wenn auch ihre weltgeschichtliche Dramatik geringer sein mag. Auch der revolutionärste ArbeiterInnenstaat kann, ja wird für eine bestimmte Phase gezwungen sein, auf bürgerliche Organe wie eine Bürokratie zurückzugreifen. Diese Schritte „prinzipiell“ abzulehnen, bedeutet in Wirklichkeit nur, die Notwendigkeit einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, einer Diktatur des Proletariats, die organisierte Herrschaft der Mehrheit gegen die alten AusbeuterInnen abzulehnen.
Es stellt jedoch einen qualitativen Schritt dar, wenn sich die bürokratischen Auswüchse, die vom Proletariat notgedrungen benutzten bürgerlichen Organe in ein Vehikel der politischen Machtergreifung einer Staatsbürokratie verwandeln. Es ist kein Zufall, dass dieser Prozess in der Sowjetunion erst nach einem langen, für alle Oppositionellen, vor allem aber für genuine kommunistische InternationalistInnen vom Schlage Trotzkis, tödlichen Kampf abgeschlossen war.
Das Proletariat ist für Trotzki daher eine gleichzeitig herrschende und unterdrückte Klasse:
„,Wie soll sich unser politisches Gewissen nicht empören‘, sagen die Ultralinken, ‚wenn man uns glauben machen will, in der UdSSR, wo Stalin regiert, sei das ‚Proletariat‘ die ‚herrschende‘ Klasse …?! In so abstrakter Form kann diese Behauptung tatsächlich ‚empören‘. Aber es ist doch so, dass abstrakte Kategorien, die für eine Analyse notwendig sind, für eine Synthese, die so konkret wie möglich sein soll, überhaupt nicht taugen. Das Proletariat in der UdSSR ist die herrschende Klasse in einem zurückgebliebenen Land, wo nicht einmal die elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Das Proletariat in der UdSSR herrscht in einem Land, das nur ein Zwölftel der Menschheit umfasst, über die übrigen elf Zwölftel herrscht der Imperialismus. Die Herrschaft des Proletariats, die schon aufgrund der Rückständigkeit und Armut des Landes missgestaltet ist, wird durch den Druck des Weltimperialismus doppelt und dreifach deformiert. Das Herrschaftsorgan des Proletariats, der Staat, wird zu einem Organ des imperialistischen Drucks (Diplomatie, Armee, Außenhandel, Ideen und Sitten). Historisch gesehen findet der Kampf um die Herrschaft nicht zwischen Proletariat und Bürokratie statt, sondern zwischen Proletariat und Weltbourgeoisie. Die Bürokratie nimmt in diesem Kampf nur die Funktion eines Transmissionsriemens ein. (…) Der faschistischen und demokratischen Bourgeoisie reichen Stalins einzelne konterrevolutionäre Taten nicht aus; sie benötigt eine vollständige Konterrevolution in den Eigentumsverhältnissen und die Öffnung des russischen Marktes. Solange das nicht der Fall ist, hält sie den Sowjetstaat für feindlich. Und hat recht damit.“ (15)
Im Zuge ihrer politischen Machteroberung musste die Bürokratie einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsapparat, einen seiner Form, seinem Typus nach bürgerlichen schaffen. Trotzki verweist in seinen Schriften mehrmals darauf. Er erkennt, dass der Staatsapparat in der Sowjetunion geradezu abstoßende Ähnlichkeit mit dem im Faschismus aufweist.
„Seine Entstehung verdankt der Sowjetbonapartismus letzten Endes der Verspätung der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern den Faschismus. Wir gelangen zu einer auf den ersten Blick überraschenden, doch in Wirklichkeit unabweislichen Schlussfolgerung: Die Erstickung der Sowjetdemokratie durch die allmächtige Bürokratie geht, ebenso wie die Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus, auf ein und dieselbe Ursache zurück – die Verspätung des Weltproletariats bei der Lösung der ihm von der Geschichte gestellten Aufgabe. Stalinismus und Faschismus sind trotz des tiefen Unterschiedes ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Erscheinungen. In vielen Zügen sind sie sich erschreckend ähnlich. Der Weltrevolution den Rücken kehrend hat die Stalin‘sche Bürokratie auf ihre Weise recht: sie folgt lediglich ihrem Selbsterhaltungstrieb.“ (16)
Der Widerspruch zwischen der Form des Staatsapparates und der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist keineswegs einzigartig in der Geschichte. Auch beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus finden sich lange Perioden, wo ein Widerspruch zwischen Staatsform und ökonomischen Verhältnissen zu finden ist. Engels verweist darauf z. B. im Anti-Dührung:
„Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde.“ (17)
Auch die ersten Monate nach der Oktoberrevolution, als die proletarische Diktatur über eine kapitalistische Wirtschaft herrschte, waren von einem solchen Widerspruch gekennzeichnet. Die Formel, dass der Charakter des Staates durch die Eigentumsverhältnisse, die vorherrschen, bestimmt sei, hilft uns also gerade in Übergangsperioden nicht weiter.
„Aber kennt die Geschichte nicht Fälle eines Klassengegensatzes zwischen Staat und Wirtschaft? Sehr wohl! Als der Dritte Stand die Macht eroberte, blieb die Gesellschaft noch mehrere Jahre lang feudalistisch. Während der ersten Monate des Sowjetregimes herrschte das Proletariat über eine bürgerliche Ökonomie. In der Landwirtschaft stützte sich die Diktatur des Proletariats mehrere Jahre lang auf eine kleinbürgerliche Wirtschaft (in erheblichem Maß ist das auch heute noch der Fall). Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müsste sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen. Was bedeutet dann aber ein derartiger zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über eine andere bedeutet doch, dass die Wirtschaft im Interesse des/r SiegerIn umgestaltet wird. Aber ein solcher zwiespältiger Zustand, der ein notwendiges Stadium jedes sozialen Umsturzes ist, hat nichts gemein mit der Theorie eines klassenlosen Staates, der wegen der Abwesenheit des/r wirklichen HerrIn von einem/r Kommis, d. h. der Bürokratie, ausgebeutet wird.“ (18)
Trotzki hat daher eine wesentlich dynamischere Sichtweise des Verhältnisses von Inhalt und Form des Staatsapparates.
„Die Klassennatur eines Staates ist folglich nicht durch seine politische Form, sondern durch den sozialen Inhalt bestimmt, d. h. den Charakter jener Eigentumsformen und Produktionsverhältnisse, die der jeweilige Staat schützt und verteidigt.“ (19)
Diese Definition hat zwei Vorteile. Erstens erlaubt sie den Widerspruch zwischen Form und Inhalt bzw. Funktion des Staatsapparates zu beachten. Zweitens ist die Betonung des „Schützens“ und „Verteidigens“ der Produktionsverhältnisse sehr viel dynamischer als z. B. die Aussage, der Charakter des Staates beruhe auf den vorherrschenden Eigentumsverhältnissen. Trotzki stellt damit die aktive, bewusste Rolle der Staatsmacht beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in Rechnung. Die Sicherung des Übergangs zum Sozialismus hängt somit von der Staatsmacht ab.
„Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederherstellung der Leibeigenschaft und des Zunftwesens schützte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsweise. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im Allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger gebunden. Die Vorherrschaft sozialistischer Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist keineswegs durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit –, sondern durch politische Maßnahmen der Diktatur. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.“ (20)
Für Trotzki ergeben sich aus der Analyse der Bürokratie und ihrer Herrschaft zwei Alternativen: proletarische politische Revolution oder Restauration des Kapitalismus.
Auch zur Restauration des Kapitalismus sieht er zwei Wege: Sturz durch eine offen bürgerliche Partei; die Wandlung der (Spitze der) Bürokratie zur herrschenden Klasse. In beiden Fällen geht die Eroberung der Staatsmacht durch eine konterrevolutionäre Partei, die politischer Ausdruck einer (neu) entstehenden herrschenden Klasse ist, der Umwandlung der Wirtschaft in eine kapitalistische voraus!
Nach 1989 haben wir beide Wege erlebt, teilweise in Mischform. In den beiden folgenden Artikeln werden wir uns sowohl der Expansion wie dem Untergang des Stalinismus zuwenden.
Trotzki erkennt durchaus an, dass die stalinistische Bürokratie aufgrund des Drucks anderer Klassenkräfte zu partiellen progressiven Maßnahmen fähig war. Er nahm auch zur Kenntnis, dass das auch die territoriale Expansion mit einschließen konnte. Diese analysierte er am Beispiel Finnlands und Polens. Im Gegensatz zu den stalinistischen ApologetInnen erkannte er jedoch den widersprüchlichen Charakter dieser Ausdehnung des degenerierten ArbeiterInnenstaates, die in ihrer Gesamtheit in die konterrevolutionäre Politik Stalins eingebettet war. Trotzki verdeutlicht das am Hitler-Stalin-Pakt, der Teilung Polens, die mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in Ostpolen einherging.
„Die ihrem Charakter nach revolutionäre Maßnahme der ‚Expropriation der AusbeuterInnen‘ wird im vorliegenden Fall auf militärisch-bürokratischem Wege durchgeführt. Der Aufruf zur Selbsttätigkeit der Massen in den neuen Gebieten – und ohne einen solchen Appell, mag er auch noch so vorsichtig sein, kann das neue Regime nicht errichtet werden – wird zweifellos morgen von unbarmherzigen Polizeimaßnahmen unterdrückt werden, um der Bürokratie das Übergewicht über die aufgerüttelten revolutionären Massen zu garantieren. Das ist die eine Seite der Sache. Doch gibt es auch eine andere. Um über ein militärisches Bündnis mit Hitler die Möglichkeit einer Okkupation Polens zu schaffen, hat der Kreml lange die Massen der UdSSR und der ganzen Welt getäuscht und täuscht sie weiterhin. Damit hat er den völligen Zerfall seiner eigenen Komintern heraufbeschworen. Das wichtigste Kriterium der Politik ist nicht die Umwandlung des Eigentums auf dem einen oder anderen Teilterritorium, wie wichtig es an und für sich auch sein möge, sondern der Wandel der Bewusstheit und Organisiertheit des internationalen Proletariats und die Steigerung seiner Fähigkeit, alte Errungenschaften zu verteidigen und neue zu machen. Unter diesem allein entscheidenden Gesichtspunkt aufs Ganze gesehen ist die Politik Moskaus nach wie vor reaktionär und bleibt das Haupthindernis auf dem Wege zur internationalen Revolution.“ (21)
Trotzkis Verständnis des konterrevolutionären Charakters der Bürokratie und ihrer Politik schloss die generelle Einschätzung der herrschenden Kaste als Krebsgeschwür, als Totengräberin des ArbeiterInnenstaates ein. Diese Prognose hat sich mit dem Fall des Stalinismus bestätigt.
Wie viele RevolutionärInnen vor ihm unterschätzte er jedoch den Zeitrahmen, in dem sich die theoretische Vorhersage praktisch bewahrheiten sollte. Trotzki ging davon aus, dass die Bürokratie als herrschende Kaste den Zweiten Weltkrieg nicht überleben würde. Er war sich sicher, dass der Kreml entweder von der faschistischen Konterrevolution oder von der proletarischen politischen Revolution zu Fall gebracht würde. Wie wir wissen, traf diese kurzfristige Prognose nicht ein. Der Stalinismus überlebte den Weltkrieg und konnte sein Herrschaftsgebiet, sein Prestige, seine Macht ausdehnen.
Diese Expansion des Stalinismus und die ab Ende der 1940er Jahre stattfindende Etablierung einer konterrevolutionären Nachkriegsordnung hatte die revolutionäre Vierte Internationale nicht vorhergesehen. Sie verwirrte die Kader politisch und führte zu einer Revision der Analyse Trotzkis durch die Hauptströmungen dieser Tendenz, zur politischen Degeneration und zur organisatorischen Zersplitterung.
Trotzkis Programm im Kampf gegen den Stalinismus wandelte sich in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens. In den 1920er Jahren vertrat die Linke Opposition in der UdSSR einen Kurs der Reform des ArbeiterInnenstaates, den Kampf um die Wiederbelebung der Partei- und Sowjetdemokratie, den Kampf um einen umsichtigen Ausbau des staatlichen Plans und den Kampf um einen klaren, internationalistischen Kurs der Sowjetunion und der Komintern.
Die politischen Niederlagen der Kommunistischen Internationale begünstigten Stalins Aufstieg und stärkten die Bürokratie. Auf den ersten Blick ist das paradox. Es wird jedoch verständlich, wenn wir uns die soziale Situation in den 1920er Jahren vor Augen halten. Die sowjetische ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde waren durch den Bürgerkrieg und die ökonomischen Verwerfungen des Kriegskommunismus ermattet, der revolutionäre Elan der Klasse verringert.
Gleichzeitig war die Partei gezwungen, auf wirtschaftlichem Gebiet mit der Neuen Ökonomischen Politik einen umfassenden taktischen Rückzug anzutreten, um angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen die Produktion v. a. im Agrarsektor wieder anzukurbeln.
Zweifellos wurde dieser Prozess durch ökonomische Regularien (Einpersonenleitung in den Betrieben) und falsche politische Maßnahmen (Fraktionsverbot) begünstigt. Es wäre jedoch ganz und gar idealistisch, die Degeneration der russischen Revolution und die politische Machtergreifung der Bürokratie aus diesen Fehlern, aus Maßnahmen der politischen Führung erklären zu wollen. Die Wurzeln liegen viel tiefer: in der ökonomischen Rückständigkeit des Landes, in den inneren Klassenwidersprüchen, dem sozialen Bedarf nach einer Bürokratie.
Das Proletariat und die Masse der Bauern/Bäuerinnen sind oder werden passiv. Die Bürokratie – z. T. aus ExpertInnen und FunktionärsträgerInnen des alten Regimes rekrutiert, zum Teil aus Partei- und ArbeiterInnenkadern – erscheint als das tätige, aktive Element der Sowjetgesellschaft. Was am Beginn als funktionaler Unterschied erscheint, die Übernahme einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion des Leitens, verfestigt sich mehr und mehr zu einem sozialen Unterschied.
Es ist kein Zufall, sondern notwendiges Element des Aufstiegs der Bürokratie, dass sie mit der revolutionären Tradition der Oktoberrevolution theoretisch und praktisch brechen muss.
Theoretisch vollzieht sie das in der Abwendung vom Internationalismus. Die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land ersetzt die Ausrichtung auf die Internationalisierung der Revolution.
Praktisch vollzieht sich das über die Unterordnung der Interessen des Weltproletariats unter jene der Kremlbürokratie – zuerst, in China, noch tastend, später mit der Volksfrontpolitik in Frankreich, dem Hitler-Stalin-Pakt, der Liquidierung der Spanischen Revolution dann ganz offen konterrevolutionär.
Die Herrschaft der Bürokratie kann keine Opposition dulden, schon gar keine linke. Die Moskauer Prozesse sind ein notwendiges Element des Stalinismus, nicht einfach „Fehler“ oder „Exzesse“.
All das führt Trotzki zu einer zentralen programmatischen Schlussfolgerung: Die herrschende Kaste muss vom Proletariat durch eine neue politische Revolution hinweggefegt werden. Ansonsten sind die Errungenschaften der Oktoberrevolution früher oder später vollständig verloren. Die Herrschaft der Bürokratie ist keine lange Phase der Weltgeschichte, sondern eine nicht notwendige Episode.
„Der neue Aufschwung der Revolution in der UdSSR wird ohne jeden Zweifel unter dem Banner des Kampfes gegen die soziale Ungleichheit und die politische Unterdrückung beginnen. Nieder mit den Privilegien der Bürokratie! Nieder mit dem Stachanowsystem! Nieder mit der Sowjetaristokratie und ihren Rangstufen und Orden! Angleichung der Löhne für alle Arten der Löhne!
Der Kampf für die Freiheit der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees für die Presse- und Versammlungsfreiheit wird sich weiterentwickeln zum Kampf um das Wiedererwachen und die Entfaltung der Sowjetdemokratie. Die Bürokratie hat die Sowjets als Klassenorgane durch den Schwindel der allgemeinen Wahl im Stile von Hitler/Goebbels ersetzt. Es ist notwendig, den Sowjets nicht nur ihre freie demokratische Form, sondern auch ihren Klasseninhalt wiederzugeben. So wie früher die Bourgeoisie und die KulakInnen nicht zu den Sowjets zugelassen waren, ebenso müssen jetzt die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets verjagt werden. In den Sowjets ist nur Platz für die VertreterInnen der ArbeiterInnen, der KolchosenarbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen und der roten SoldatInnen.
Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.
Reorganisation der Planwirtschaft von oben bis unten gemäß dem Interesse der ProduzentInnen und KonsumentInnen! Die Fabrikkomitees müssen die Kontrolle der Produktion wieder übernehmen. Die demokratisch organisierten Konsumgenossenschaften müssen die Qualität der Erzeugnisse und ihre Preise kontrollieren.
Neuorganisierung der Kolchosen in Übereinstimmung mit dem Willen der KolchosbewohnerInnen und nach ihren Interessen!
Die konservative internationale Politik der Bürokratie muss der Politik des proletarischen Internationalismus Platz machen. Die ganze diplomatische Korrespondenz des Kreml muss veröffentlicht werden. Nieder mit der Geheimdiplomatie!
Alle von der thermidorianischen Bürokratie inszenierten politischen Prozesse müssen unter den Bedingungen vollständiger Öffentlichkeit und freier Erforschung überprüft werden. Die OrganisatorInnnen der Fälschungen müssen ihre verdienten Strafen erhalten.
Ohne den Sturz der Bürokratie, die sich durch Zwang und Fälschung hält, kann dieses Programm nicht verwirklicht werden. Nur die siegreiche revolutionäre Erhebung der unterdrückten Massen kann die Sowjetherrschaft erneuern und ihre Weiterentwicklung zum Sozialismus sichern. Allein die Partei der IV. Internationale ist in der Lage, die sowjetischen Massen zum Aufstand zu führen.
Nieder mit der bonapartistischen Bande des Kain Stalin! Es lebe die Sowjetdemokratie! Es lebe die internationale sozialistische Revolution.“ (22)
Trotzki verdeutlicht in seiner Analyse, dass die Degeneration der Sowjetunion und die Durchsetzung des Stalinismus aus der historischen Situation erklärbar sind, diese jedoch weder unabwendbar noch organisch aus der Oktoberrevolution entstanden. Vielmehr waren die Rolle der internationalen ArbeiterInnenbewegung, das Ausbleiben der internationalen Revolution sowie die Niederlage der RevolutionärInnen und der Linksopposition im innerparteilichen Kampf entscheidend für die Entwicklung.
Der Stalinismus ist nicht Ergebnis der Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki. Er ist vielmehr die Verkehrung dieser Ziele in ihr Gegenteil. Die Entwicklung des Stalinismus zeigt, gegen welche Schwierigkeiten und Gefahren wir auf dem Weg zum Kommunismus anzukämpfen haben. Ohne revolutionäre Kritik am Stalinismus wird es keine kommunistische Revolution geben – ohne revolutionäres Ziel ist die Kritik am Stalinismus irrelevant.
(1) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und Aufgaben der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).
(2) Trotzki, In Verteidigung des Marxismus, Seite 78.
(3) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?, in: Schriften 1.2., S. 1127.
(4) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21.
(5) Marx, ebda., S. 28.
(6) Marx, Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 381.
(7) Marx, Brief an Kugelmann, 12. April 1871, MEW 33, S. 205.
(8) Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 343.
(9) Lenin, Staat und Revolution, Lenin Werke 25, S. 420.
(10) Trotzki, Verratene Revolution, S. 751/752, in: Schriften 1.2.
(11) Trotzki, a. a. O., S. 752/753.
(12) Trotzki, a. a. O. S. 952.
(13) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954
(14) Deutscher, Die unvollendete Revolution, S. 67 f.
(15) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?, a. a. O.
(16) Trotzki, Verratene Revolution, S. 979.
(17) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 97.
(18) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?, a. a. O., S. 1123/24.
(19) Ebda., S. 1120.
(20) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954.
(21) Trotzki, Die UdSSR im Krieg, Trotzki: Schriften über Russland 1.2, S. 1292.
(22) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).