Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017
“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, …“ (1)
Die bürgerlichen Revolutionen bedurften dieser Selbsttäuschung, dieser „Betäubung“ über den Inhalt der Revolution, ihren eigentlichen Zweck, gerade weil sich die Revolution des Bürgertums als Befreiungsakt aller Menschen, aller BürgerInnen proklamierte. Nur so konnte sie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren, nur so konnten die entschiedenen Teile des Bürgertums die Hindernisse für eine neue Gesellschaft zerstören. Sie verfolgten damit ihren eigenen bornierten Zweck: die Etablierung einer neuen herrschenden Minderheit über die Gesellschaft.
Daher wendet sich jede bürgerliche Revolution nicht nur an einem bestimmten Punkt gegen ihre radikalsten VerfechterInnen. Ein Mangel an Bewusstheit, die ideologische Verschleierung des grundlegenden Charakters der bürgerlichen Revolution, also ihres Klassencharakters, ist für sie ein Wesensmerkmal, dessen Nutzen für die Bourgeoisie und ihre ParteigängerInnen ebenso leicht verständlich ist wie die Problematik, die sich daraus für die Massen ergibt, die die Revolution vorangetrieben haben, die selbst die großen Parolen der bürgerlichen Umwälzung – egalité, liberté, fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) – ernster genommen haben als das zur Herrschaft kommende Bürgertum.
Hinzu kommt, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schon im untergehenden Feudalismus – insbesondere im Absolutismus – mehr und mehr die feudale Produktionsweise zersetzten, an den Rand drängten, noch unter der alten Ordnung ein ökonomisches Übergewicht erlangten. Die bürgerliche Revolution setzt nur die Hindernisse für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise frei, die politische und soziale Machtergreifung durch die Bourgeoisie vollzieht gewissermaßen den ökonomischen Prozess nach, etabliert die dieser Entwicklung angemessenen politischen Formen. Daher kann auch die monarchische Konterrevolution diese Prozesse nicht mehr umkehren, der Bonapartismus eines Louis Napoleon, sein Kaiserreich, ist eine bürgerliche, keine feudale Herrschaftsform.
Anders die proletarische Revolution. Die ArbeiterInnenklasse kann keine eigene Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus herausbilden. Sie treibt nur den Widerspruch zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und deren privater Aneignung mehr und mehr auf die Spitze. Um eine neue Produktionsweise zu errichten, muss die ArbeiterInnenklasse zuerst die Staatsmacht erobern, um so die Gesellschaft auf neuer Grundlage überhaupt reorganisieren zu können.
Daher spielt die Bewusstheit in der proletarischen Revolution nicht nur eine größere, sondern vor allem eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.
„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (2)
Um diese Aufgabe zu bewältigen, um den „Inhalt über die Phrase“ zu stellen, braucht die ArbeiterInnenklasse auch eine Organisation, eine politische Partei, die diesen Inhalt theoretisch und praktisch verkörpert, weiterentwickelt, an die neue Situation anpasst.
Ohne eine solche Partei, ohne eine Organisation, die in der Lage war, aus den vergangenen Klassenkämpfen, aus dem Arsenal eines wissenschaftlichen Verständnisses des Kapitalismus sowie der aktuellen weltgeschichtlichen Epoche zu lernen und die politischen Konsequenzen zu ziehen, wäre auch die Russische Revolution 1917 auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hätte nicht zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse geführt und wäre auch nicht zum Fanal für eine ganze Periode bis 1923 geworden, die die proletarische Weltrevolution als geschichtliche Aufgabe gestellt hat. Sie wäre nicht zum Fanal für eine ganze Epoche geworden, die uns vor die Alternative „Sozialismus oder „Barbarei“ gestellt hat, von einer Epoche, die sich auch heute krisenhaft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt wieder geltend macht.
Wenn wir von der Aktualität der Russischen Revolution sprechen, so nicht im trivialen Sinne einer einfachen Wiederholung, die ohnedies niemandem vorschwebt, sondern vielmehr im Sinne des politischen und programmatischen Erbes des Bolschewismus.
Wenn Marx davon spricht, dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ laste, so trifft das nicht nur die bürgerlichen Revolutionen, sondern auch die bürgerliche Epoche selbst. Auch auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse lastet dieser Alp und selbst auf jenen, die sich der Überwindung dieser Gesellschaft verschrieben haben.
Die Bolschewiki (und ihr opportunistisches und letztlich konterrevolutionäres Gegenstück, die Menschewiki) entwickelten sich selbst aus einer zur „Tradition“ gewordenen Interpretation des Marxismus, aus einer „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale, die am Beginn des 19. Jahrhunderts und selbst am Beginn der Russischen Revolution 1917 ihr politisches Verständnis und Handeln prägte.
In diesem Artikel werden wir uns daher mit der Entwicklung des Bolschewismus selbst, seinem Verständnis der Triebkräfte der Russischen Revolution sowie dem Bruch mit der Zweiten Internationale beschäftigen, die auch die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Marxismus“ selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.
Wir wollen sodann die Entwicklung des Bolschewismus in der Oktoberrevolution, seine programmatische Umbewaffnung und Erneuerung, seine inneren Konflikte um die strategische und taktische Ausrichtung betrachten. Dabei geht es uns nicht um eine weitere „Geschichte der Russischen Revolution“, sondern darum, die Entwicklung des Programms nachzuvollziehen, dessen bleibende Errungenschaften zu beachten.
Die Revolution von 1905 markiert einen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte nicht nur der russischen sozialistischen Bewegung. Die Frage der Machtergreifung des Proletariats trat erstmals seit Jahrzehnten als praktische Aufgabe zutage. Schon vor der Revolution hatten sich Bolschewismus und Menschewismus als organisierte Strömungen getrennt, aber die politischen Differenzen standen noch am Beginn ihrer Entwicklung.
Lenin charakterisierte in dieser Periode gelegentlich den Menschewismus als „Opportunismus in organisatorischen Fragen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich alle Fraktionen noch immer als Bestandteil einer sozialdemokratischen Bewegung betrachteten. Eine Wiedervereinigung wurde keineswegs kategorisch ausgeschlossen, sondern vielmehr immer wieder angestrebt. Beiden Strömungen waren damals die politisch-taktischen und programmatischen Implikationen ihrer organisatorischen Differenzen noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst, ja, diese hatten sich selbst noch nicht voll entfaltet. Der Kampf der Iskra-Gruppe und das offene Hervortreten des Bolschewismus 1903 nahmen zwar, wenn auch nicht bewusst, den Bruch mit der Parteiform der Zweiten Internationale vorweg. Das betrifft nicht nur die politischen Implikationen des Charakters der Partei, die Lenin vorschwebten, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Programm, Strategie, Taktik, organisatorischen Konsequenzen.
Heute erscheint Lenins These, dass „Klassenbewusstsein von außen“ in die Klasse getragen werden müsse, nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den ZentristInnen aller Couleur als Affront, als Form des Substitutionalismus. Interessanterweise machen sich die Kritiken an Lenin 1903 kaum an dieser Formulierung fest, gerade weil es sich dabei um eine These handelte, die Teil der marxistischen Orthodoxie war.
Auch wenn die Formulierung von Kautsky stammte, so gab ihr Lenin einen anderen Sinn, weil er sie in den Kontext einer anderen, zuerst „nur“ für Russland angelegten Parteikonzeption stellte – nämlich in den Kontext einer disziplinierten Kampfpartei, einer Partei von Kadern, für die die revolutionäre Aktivität den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.
Die Kautsky’sche Vorstellung vom „Hineintragen“ hingegen war in eine schon etablierte Arbeitsteilung innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie eingepasst. Die Partei hatte schon lange eine Struktur entwickelt, in der die Theoretiker theoretisierten, die Gewerkschafter ihre routinemäßigen Kämpfe um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft führten, die PolitikerInnen, PropagandistInnen wie AgitatorInnen vor allem Wahlkämpfe organisierten. Der Fortschritt der Partei drückte sich durch Wachstum der Organisation und Stimmenanteile bei Wahlen plus Schulung aus.
Diese Partei wurde vom Kaiserreich stigmatisiert und beharrte auf ihrer marxistischen „Orthodoxie“, andererseits verrichtete sie aber jahrein, jahraus innerhalb eines halb-bonapartistischen Systems ihre gradualistische Oppositions- und Sammlungsarbeit. Jahrzehnte der evolutionären Entwicklung nach Aufhebung der Sozialistengesetze hatten die deutsche Sozialdemokratie geprägt. Ihre innere Struktur entsprach einer Partei, für die ihr Endziel, die sozialistische Revolution, und auch die Unabhängigkeit von allen Parteien des Bürgertums einerseits identitätsstiftend waren, andererseits aber zunehmend eine formale Hülle der Tagespraxis, für die die soziale Revolution keine unmittelbare Bedeutung hatte.
Programmatisch war diese Kombination von Organisationsarbeit, gewerkschaftlichen und politischen „Positionskämpfen“ kodifiziert in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.
Im Erfurter Programm, dem „Modell“ marxistischer Programme in der Zweiten Internationale, war diese exemplarisch ausgeführt. Mit dieser Vorstellung entwickelte sich auch die von einer langen Periode hin zur sozialistischen Revolution.
Diese gradualistische Methode reflektierte selbst die Entwicklung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern dieser Zeit, das Wachstum der Industrie und die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie sowie den Übergang zu einer imperialistischen Weltordnung, die aber erst mit dem Ersten Weltkrieg alle politischen Implikationen dieser Entwicklung offenlegen sollte. Um die Jahrhundertwende kündigten sich im Ministerialismus der französischen Partei und im Revisionismusstreit die Unhaltbarkeit dieser Kombination von „marxistischer Orthodoxie“ und aufklärerischer, parlamentarischer und gewerkschaftlicher, im Kern reformistischer, „Tagespolitik“ an.
Dass diese Form der legalen Parteiarbeit und Arbeitsteilung für Russland nicht möglich war, begünstigte sicher die Entwicklung des Bolschewismus, ließ ihn aber andererseits auch als Sonderentwicklung vor dem Hintergrund der politischen Rückständigkeit Russlands erscheinen, so dass der politische Kampf in der russischen Sozialdemokratie in seiner internationalen, beispielhaften Bedeutung unterschätzt wurde.
Für die Entwicklung der politischen Parteien fast noch wichtiger war die zur „Orthodoxie“ verkehrte Vorstellung, dass die sozialistische Revolution einen Reifegrad der Produktivkräfte im nationalen Rahmen voraussetze, die sie deshalb nur in den westlichen Ländern auf die „Tagesordnung“ setze: Länder wie Russland wären überhaupt noch nicht „reif“ für eine sozialistische Umwälzung. Zuerst stünde eine bürgerliche Revolution an, die Beseitigung des Zarismus und Feudalismus. Diese Umwälzung müsse nicht nur die Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus beseitigen, sondern folgerichtig zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen. Die Aufgabe des Proletariats habe darin zu bestehen, sich einerseits aktiv an der Revolution gegen die Selbstherrschaft zu beteiligen, andererseits die Interessen des Proletariats zu wahren, indem sich die Partei von der Regierung fernhält und die Position der „entschiedenen Opposition“ einnimmt.
Der Menschewismus reklamierte, anders als die Ökonomisten und erst recht als die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie, für sich, auf dem Boden des „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten Internationale zu argumentieren, und warf seinerseits anderen Strömungen vor, in den Blanquismus und Voluntarismus zu verfallen und die „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ zu missachten.
Mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der ersten russischen Revolution 1905 traten jedoch die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus deutlicher hervor, auch wenn beide vom bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.
Beide Fraktionen der russischen Sozialdemokratie waren 1904 gegen den Krieg gegen Japan, wie auch ein großer Teil des Bürgertums dieses Abenteuer ablehnte. In der Haltung zum Krieg traten allerdings schon erste wichtige Differenzen zum Vorschein. Der Menschewismus wollte eine pazifistische Opposition zum Krieg, der Bolschewismus trat für die Niederlage des Zarismus ein, weil das die Unzufriedenheit im Land fördern und die Revolution vorantreiben würde. Sinowjew stellt das in seiner Geschichte der KPDSU (B) folgendermaßen dar:
„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (3)
Die Unterschiede zwischen Bolschewismus und Menschewismus wurden 1904 vor allem hinsichtlich der Haltung zur liberalen Bourgeoisie deutlich.
Ende 1904 wuchs nicht nur die politische Empörung und Gärung im Land, die Liberalen forderten eine Einschränkung der Herrschaft des Zaren. Auf Banketten und lokalen „Semstwo“-Versammlungen (Volksversammlungen) wurden relativ radikale Reden geschwungen, Petitionen verabschiedet und Forderungen erhoben bis hin zu der nach einer Verfassunggebenden Versammlung. Auf den Vorschlag menschewistischer FührerInnen hin rief die Partei dazu auf, auch außerhalb der liberalen Bankette für breite demokratische Freiheiten und eine Verfassunggebende Versammlung zu demonstrieren. Dagegen hatten die Bolschewiki keine Einwände, wohl aber gegen die Position der Menschewiki, den Liberalen politische Zugeständnisse zu machen, um sie dabei „nicht zu verschrecken“. So heißt es in einem Brief menschewistischer Führer an die Parteiorganisationen vom November 1904:
„Im Rahmen des Kampfes gegen die Selbstherrschaft aber sollte besonders in der jetzigen Phase unsere Haltung gegenüber der liberalen Bourgeoisie darin bestehen, sie generell zu ermutigen und sie zur Unterstützung des von der sozialdemokratischen Bewegung geführten Proletariats zu bewegen.“ (4)
Um zu verhindern, dass große ArbeiterInnendemonstrationen die liberalen und halb-liberalen BürgerInnen einschüchtern, müssten Vorsichtsmaßnahmen durch die Parteiführung getroffen werden: „Um ein solches Fiasko zu vermeiden, muß die Vollzugskommission die liberalen Abgeordneten rechtzeitig über die bevorstehende Kundgebung und ihre wahren Ziele verständigen. Außerdem muss sie versuchen, eine Art Abkommen mit den Vertretern des linken Flügels der bürgerlichen Opposition zu treffen und sich, wenn nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für die politische Aktion zu sichern.“ (5)
Diese servile Haltung gegenüber dem liberalen Bürgertum unterzieht Lenin einer scharfen Kritik. Er kritisiert an den Menschewiki, dass sie der politischen Feigheit der bürgerlichen Kräfte in die Hände spielten, die letztlich nur auf einen Kompromiss mit dem Zaren und der Bürokratie hinarbeiten, um so eine revolutionäre Zuspitzung zu verhindern. Die Bolschewiki lehnten eine Zusammenarbeit und Bündnisse mit liberalen, bürgerlich-demokratischen Kräften gegen den Zarismus keineswegs ab. Aber sie lehnten es ab, das demokratische Programm selbst für ein solches Bündnis abzuschwächen, den Bedürfnissen einer bürgerlichen „Opposition“ anzupassen, die keinen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen wollte. Kurz gesagt, die Menschewiki ließen die ArbeiterInnen über den Charakter des russischen Bürgertums im Unklaren, das historisch schon nicht mehr fähig und willens für einen konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution war. Dies, so Lenin, sei umso fataler, als sich die politische Lage zu einer Konfrontation mit dem Zarismus, zu einer allgemeinen politischen Krise zuspitzte. Der Fokus durfte daher keinesfalls auf ein Bündnis mit Liberalen gelegt werden, die nicht verschreckt werden sollten, sondern auf die Entfachung einer Massenbewegung gegen den Zarismus.
„Die mit gütiger Erlaubnis der Polizei eröffnete Semstwokampagne, die sanften Reden Swjatopolk-Mirskis und der offiziösen Regierungsblätter, die starken Töne der liberalen Presse, die Belebung der sogenannten gebildeten Gesellschaft – all dies stellt die Arbeiterpartei vor die ernstesten Aufgaben. Diese Aufgaben werden jedoch in dem Brief der ‚Iskra‘-Redaktion völlig verkehrt formuliert. Gerade im gegenwärtigen Augenblick muß im zentralen Brennpunkt der politischen Tätigkeit des Proletariats die Organisation einer nachdrücklichen Einwirkung auf die Regierung und nicht auf die liberale Opposition stehen. Gerade jetzt sind Abkommen zwischen den Arbeitern und den Semstwoleuten über eine friedliche Kundgebung – Abkommen, die sich unvermeidlich in bloße possenhafte Effekthascherei verwandeln würden – weniger denn je angebracht, ist der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Elemente des revolutionären Proletariats zur Vorbereitung des Entscheidungskampfes um die Freiheit mehr denn je vonnöten. Gerade jetzt, wo unsere konstitutionelle Bewegung die unausrottbaren Sünden jedes bürgerlichen und insbesondere des russischen Liberalismus – das Überwuchern der Phrase, den Mißbrauch des Wortes, das mit der Tat nicht übereinstimmt, das rein philiströse Vertrauen zur Regierung und zu jedem Helden der Fuchspolitik – kraß zu offenbaren beginnt, gerade jetzt sind die Redensarten über die Unerwünschtheit einer Einschüchterung der Herren Semstwoleute, über den Hebel für die Reaktion usw. usf. besonders taktlos. Gerade jetzt ist es am allerwichtigsten, im revolutionären Proletariat die unerschütterliche Überzeugung zu festigen, dass auch die gegenwärtige ‚Befreiungsbewegung in der Gesellschaft‘ sich ebenso wie die früheren unvermeidlich und unweigerlich als Seifenblase erweisen wird, wenn nicht die Macht der Arbeitermassen eingreift, die fähig und bereit sind zum Aufstand.“ (6)
Die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus sollten sich in der Revolution 1905 phasenweise noch deutlicher darstellen. Die erste Russische Revolution zeichnete sich schon 1904 ab, aber wie viele Erhebungen der Massen entzündete sie sich an einem „zufälligen“, alltäglichen Ereignis, dem berühmten Funken, der alles in Brand setzte.
Dieser Funke ging nicht von den SozialdemokratInnen aus, sondern von einer dubiosen Organisation, die auf Initiative des Polizeichefs Subatow zurückging, der die Etablierung prozaristischer Gewerkschaften vorantrieb und der Versammlung der russischen Fabrik- und MühlenarbeiterInnen St. Petersburgs, geführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon. In der ersten Woche des Jahres 1905 erschütterte ein Streik St. Petersburg. Im Dezember war vier ArbeiterInnen (alle Mitglieder der Organisation Gapons) des Putilow-Waffen- und Schiffsbaubetriebes, einer der wichtigsten Fabriken St. Petersburgs, gekündigt worden. In Gapons Abwesenheit erhoben sich 600 ArbeiterInnen eines Treffens und stimmten für Streik. Er breitete sich schnell aus. Am 4. Januar kam Unterstützung durch andere ArbeiterInnen. Am nächsten Tag folgten die Stieglitz-Fabrik und die Newski-Werft. Am 7. Januar hatten 382 Fabriken und Büros ihre Arbeit niedergelegt – 100.000 ArbeiterInnen, zwei Drittel des St. Petersburger Proletariats, standen im Streik.
Die Revolution brach schließlich mit dem „blutigen Sonntag“ am 9. Januar aus. Eine riesige Demonstration zog durch die Straßen von St. Petersburg. Als die Spitze des Marsches den Palasteingang erreichte, feuerten die Soldaten in die Menge, Hunderte (nach manchen Schätzungen gar 1000) Menschen starben. Als nahezu zeitgleich zwei von Gapons Leibwächtern starben, prägte der Priester den berühmten Ausspruch: „Es gibt keinen Gott mehr! Es gibt keinen Zaren!“.
In der Folge entwickelte sich eine gewaltige Welle des Klassenkampfes, die Revolution weitete sich aus, ergriff die Massen in Stadt und Land. Das Jahr 1905 verzeichnete erfolgreiche Generalstreiks, Bauernaufstände und Landbesetzungen, Studentenrebellionen, nationale Befreiungskämpfe, Meutereien in Armee und Marine, die Entstehung hunderter neuer Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, die Etablierung von demokratischen Arbeiterkomitees und das Zusammentreten von Arbeiterräten („Sowjets“). Die SDAPR wurde von einer Propagandagruppe zu einer wirklichen Partei des Proletariats.
Der Zar war gezwungen, Zugeständnisse zu machen, und versprach die Einführung von Grundrechten und die Einberufung einer Duma (eines Parlaments). In Wirklichkeit waren das nur Mittel, um Zeit zu gewinnen und die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten, die im Dezember mit dem Moskauer Aufstand ihren Höhepunkt erreichte, in dem die Bolschewiki die Führung innehatten. Dieser wurde von der Armee blutig zerschlagen, was zur Konsolidierung der Konterrevolution im Jahr 1906 führte. Zu den Ursachen der Niederlage gehörte sicherlich, dass die internationale Lage weniger zugespitzt war, aber auch, dass die Unzufriedenheit der Bauern geringer und die Zersetzung der Armee weniger fortgeschritten waren als 1917. So konnte die Regierung das Heer wieder einsatzfähig machen und gegen die Revolution nutzen und das Dorf leichter niederhalten, um so schließlich die ArbeiterInnen in den Städten zu besiegen.
Die dramatischen Ereignisse von 1905 waren vor allem aber das historische Vorspiel zur siegreichen sozialistischen Revolution von 1917.
1905 wurden auch die strategischen, grundlegenden Konzeptionen einer russischen Revolution deutlich. Die Menschewiki gingen dabei vom vorherrschenden Verständnis der Zweiten Internationale aus.
„In den kapitalistisch entwickelten Ländern des Westens hat die Sozialdemokratie mit einer vollausgebildeten, mit einer reifen bürgerlichen Gesellschaft zu tun, in der das Proletariat und die Bourgeoisie einander unmittelbar Auge in Auge einander gegenüberstehen als unversöhnliche feindliche Kräfte; hier ist die Bourgeoisie konservativ und kämpft für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung; das Proletariat ist revolutionär und bestrebt, die Ordnung zu stürzen. In diesen Ländern werden die revolutionären und proletarischen Elemente von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sozialistischen Revolution vorwärts gedrängt. (…)
Die geschichtliche Situation der Partei Rußlands dagegen wird gekennzeichnet durch gerade entgegengesetzte Tendenzen; diese Situation stellte unserer Partei als hauptsächliche unmittelbare Aufgabe, das Proletariat zu organisieren, nicht um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, sondern umgekehrt: um mit der Wurzel jene politisch-soziale Ordnung zu zerstören, die der vollen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege steht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands sind noch nicht weitergelangt als bis zur Reife für eine bürgerliche Revolution, …“ (7)
Daher wäre ein unmittelbarer Kampf um die politische Macht für das Proletariat, den Menschewiki zufolge, aufgrund der Unreife des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit ausgeschlossen:
„Bei uns ist ein derartiger Kampf vorläufig ausgeschlossen durch den gesamten Konplex der historischen Bedingungen, die den Inhalt und die unmittelbaren Aufgaben unserer revolutionären Bewegung bestimmten, die nach einem Ausdruck von Marx die Bourgeoisie und das Proletariat durch das ‚gemeinsame Interessen‘ aneinanderschmieden, durch das gemeinsame Bedürfnis, sich vom gemeinsamen Feind zu befreien.“ (8)
Für die Revolution 1905 ergab sich daher zwingend die Schlussfolgerung, dass die politische Macht in der Revolution an die Bourgeoisie übergehen müsse und die ArbeiterInnenklasse nur als „extreme revolutionäre Opposition“ agieren dürfe.
„Unter solchen Bedingungen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution für die Aufrechterhaltung einer Situation zu sorgen, die einem Fortschreiten der Revolution am zweckdienlichsten ist. Es muß eine Situation geschaffen werden, in der ihr die Hände im Kampf gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht gebunden sind und in der sie gleichzeitig vor einem Überlaufen in das Lager der bürgerlichen Demokratie bewahrt bleibt.
Deshalb sollte es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein, die Macht in einer Provisorischen Regierung zu erobern oder sie mit anderen zu teilen, sondern sie muß eine Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.“ (9)
Lenin polemisierte scharf gegen diese abwartende Haltung. In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ greift er die mechanische Übertragung der Kritik am Bernsteinianismus und am Eintritt in eine parlamentarische Regierung auf die Regierungsfrage in einer Revolution an.
„Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des ‚parlamentarischen Kretinismus‘, des Millerandismus, des Bernsteinianertums und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristen haben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrig dort an, wo er … völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriff der ‚Opposition‘, der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstandes nachdenken und sprechen.“ (10)
Wie die menschewistischen Autoren gehen auch Lenin und die Bolschewiki 1905 davon aus, dass in Russland eine demokratische, bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber Lenin grenzt sich scharf von der im Grunde a-historischen Charakterisierung der russischen Bourgeoisie bei Martow, Axelrod und anderen ab. Diese folgen im Grunde dem einfachen Schema, dass eine bürgerliche Revolution von der Bourgeoisie geführt werden und diese zur politischen Macht bringen müsse.
Ob die Bourgeoisie dazu noch in der Lage ist, ob sie ihre revolutionäre Rolle nicht schon ausgespielt hat, ob es nicht „tiefere“ Ursachen für deren Feigheit gibt, als dass sie von größeren ArbeiterInnendemonstrationen „verschreckt“ werden könnte – diese Fragen stellt sich der Menschewismus erst gar nicht.
Dabei hatten schon Marx und Engels nach der Niederlage der Revolution von 1848 herausgearbeitet, dass das Bürgertum mehr Angst vor den plebejischen Klassen und einer sich herausbildenden ArbeiterInnenklasse hatte als vor der Niederlage gegen die monarchische Konterrevolution. Sie hatte ihre weltgeschichtlich fortschrittliche Rolle ausgespielt, zumal und gerade weil die kapitalistische Produktionsweise schon so fest etabliert war, dass auch Änderungen der Regierungsform dieser nichts anhaben konnten. Der Staatsstreich und das Regime eines Louis Bonaparte perfektionierten den bürgerlichen Staatsapparat, auch wenn sich Bonaparte zum Kaiser krönen ließ. In Deutschland vollzogen sich die Reichseinigung und die Expansion der Großindustrie unter der Kanzlerschaft Bismarcks – eine Form des Bonapartismus, der eine enge Zusammenarbeit von Großkapital und Großagrariern zugrunde lag.
All dies zeigt, dass – erst recht mit der imperialistischen Epoche – das Bürgertum aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.
An diese historischen Erfahrungen knüpft Lenin an. Er tut dies nicht bloß in Form einer generellen Verallgemeinerung der internationalen Entwicklung des Bürgertums und seines Verhältnisses zur Aristokratie, er untersucht insbesondere, wie und warum die russische Entwicklung diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringt.
Die Agrarfrage ist eine, wenn nicht die Schlüsselfrage der demokratischen Revolution. Wer den Zaren stürzen will, muss die feudalen und halb-feudalen Verhältnisse am Land beseitigen und die Macht der Großgrundbesitzer brechen. Von diesem Ziel hat sich das Bürgertum längst verabschiedet. Jene Teile des russischen Kapitals, die Eigentum ausländischen Finanzkapitals sind und die maßgeblich zum fieberhaften Ausbau großindustrieller Zentren beigetragen hatten, waren ohnedies immer eng mit der zaristischen Herrschaft und der Staatbürokratie verbunden, die ihnen die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg lieferten.
Was die russische Bourgeoisie betraf, so fürchtete diese eine revolutionäre, demokratische Umgestaltung am Land. Sie wollte auf keinen Fall eine politische Konfrontation mit dem adeligen Großgrundbesitz, sondern den Kampf vermeiden und seine Konsequenzen abschwächen, selbst wenn sich die Bourgeoisie wie in der aufsteigenden Phase der Revolution von 1905 verbal-revolutionär gab.
Gerade deshalb, so Lenin, dürfe die ArbeiterInnenklasse, dürfe die Sozialdemokratie der „Angst“, den Feigheiten der Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen, denn deren „Abschwenken“, ihr „Verschrecktwerden“ von der bürgerlichen Revolution sei vielmehr unvermeidlich.
„Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen eigennützigen Interessen befriedigt sein werden. (…) Es bleibt das ‚Volk‘, das heißt das Proletariat und die Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus. Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Bourgeoisie möglicherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproletarischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstand macht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigt ist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit der Bourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nicht so sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr an der Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der Hauptformen des Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden, (…) Die Bauernschaft wird unter der erwähnten Bedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauernschaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: alles das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sie notwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die ‚Sozialrevolutionäre‘ einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der halben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knechtschaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.“ (11)
Da die Bourgeoisie die demokratische Revolution nicht zum Sieg führen kann und die ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft ein gemeinsames Interesse haben, die Revolution konsequent zu Ende zu führen, folgt daraus, dass sie ein Bündnis eingehen müssen. Dieses soll durch den Aufstand zu einer Provisorischen, revolutionären Regierung, zur „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ führen.
Die Haltung der Menschewiki, sich in der demokratischen Revolution auf die Rolle der „extremen Opposition“ zu beschränken, führt unweigerlich dazu, die Lösung der Machtfrage der Bourgeoisie zu überlassen. Nachdem diese jedoch die Revolution nicht zu Ende führen will oder kann, früher oder später „abschwenkt“, bedeutet dies auch, die Revolution selbst zu verraten, sie der zaristischen, gutsbesitzerlichen Konterrevolution oder, was letztlich ebenfalls darauf hinausläuft, einem Kompromiss zwischen Zarismus und Bourgeoisie auszuliefern.
Die Polemik Lenins gegen die mechanische Vorstellung einer russischen Revolution durch die Menschewiki offenbart viele grundlegende Stärken des Bolschewismus. Er weist überzeugend nach, dass die Politik der „extremen Opposition“ darauf hinausläuft, dass die ArbeiterInnenklasse eigentlich eine Nachtrabpolitik betreiben muss. Wer in der Revolution keine Machtperspektive hat, kann den Sieg nur anderen überlassen. Statt zu überlegen, wie die ArbeiterInnenklasse, geführt von der Sozialdemokratie, zur hegemonialen Kraft werden kann, schlägt sich der Menschewismus mit der Frage herum, ob die ArbeiterInnenklasse überhaupt ohne Bourgeoisie siegen dürfe.
Im Versuch Lenins, eine eigenständige, aktive Politik in der „demokratischen Revolution“ zu verfolgen, knüpft er an die Kritik am Ökonomismus an, weist nach, dass die Menschewiki gewissermaßen dessen Stellung eingenommen hätten. Anders als später der Stalinismus ist Lenins Konzeption von der Zielsetzung geprägt, eine eigenständige, revolutionäre ArbeiterInnenpolitik zu formulieren.
Aber seine strategische Konzeption bleibt an einem wesentlichen Punkt im Schematismus der Zweiten Internationale befangen. Da die Revolution eine demokratische sei und Russland ein Bauernland, könne die Revolution nicht unmittelbar zu einer sozialistischen übergehen.
„Nur das Proletariat ist fähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Russland der Erfolg des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keineswegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die ‚Sozialisierung‘, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden. Der Erfolg des Bauernaufstandes, der Sieg der demokratischen Revolution wird erst den Weg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.“ (12)
Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Konzeption selbst von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt ist. Die Revolution von 1905 wurde jedoch geschlagen, bevor die Unzulänglichkeiten dieser Formel wie auch der Konzeption des Menschewismus mit allen Konsequenzen praktisch sichtbar wurden.
Es ist aber kein Wunder, dass 1917, nach der Februarrevolution, viele bolschewistische Kader weiter von dieser Konzeption geprägt waren und diese umzusetzen versuchten.
1905 wurde aber auch eine dritte Konzeption der russischen Revolution entwickelt, die Theorie der Permanenten Revolution. Diese wurde von Leo Trotzki, damals in enger Zusammenarbeit mit Parvus, entwickelt. (13)
Trotzkis „Permanente Revolution“ knüpfte an frühe Überlegungen von Marx, wie sie auch im Kommunistischen Manifest zu finden sind. Dies enthält schon erste Vorstellungen eines Übergangsprogramms, das die schematische Vorstellung in Frage stellt, dass zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Umwälzung eine lange, eigenständige Entwicklungsperiode liegen müsse, wie sie aus Lenins Schriften 1905 durchaus zum Vorschein kommt und wie sie später in der „Etappentheorie“ des Stalinismus, im Grunde eine Neuauflage der menschewistischen Vorstellungen der bürgerlichen Revolution, formuliert wurde.
Marx entwickelt zudem schon in den Briefen an Sassulitsch (14) Grundlagen der Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwickelung. Diese Schriften waren jedoch 1905 nicht öffentlich zugänglich und Trotzki nicht bekannt.
Trotzki stieß zur Entwicklung der Theorie der Permanenten Revolution, indem er die „Eigenheiten“ der Entwicklung in Russland im Zusammenhang mit einer russischen Revolution zu Ende zu denken versuchte und diese von vornherein in den internationalen Kontext stellte.
Wie auch Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie zur Führung der demokratischen Revolution schon nicht mehr bereit gewesen sei, dass sie ihr revolutionäres Potential erschöpft habe, bevor der Zarismus abgetreten war. Trotzki sieht die verspätete, ungleiche Entwicklung des Kapitalismus in Russland als eine der zentralen Ursachen für eine besonders unrevolutionäre Bourgeoisie:
„Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.
Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom ,Volk‘ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“ (15)
Lenin und der Bolschewismus bleiben jedoch, anders als Trotzki, einer schematischen Vorstellung der demokratischen Revolution verhaftet, indem sie jede Möglichkeit kategorisch bestritten, dass die ArbeiterInnenklasse die Eigentumsverhältnisse umwandeln könne. Das würde nur zu einem voluntaristischen „Überdehnen“ der Revolution führen. Es ist daher kein Wunder, dass das Programm der „demokratischen Diktatur“ zwar auch wichtige Forderungen der Lohnabhängigen enthielt wie den Acht-Stunden-Tag, jedoch nicht über ein radikales bürgerlich-demokratisches Programm hinausging.
1906 stellte Trotzki seine Konzeption in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch dar. Er wendet sich dabei offen gegen den vorherrschenden Schematismus bezüglich des Charakters der russischen Revolution:
„Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft … Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten – aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die Russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ (16)
Diese Möglichkeit, so Trotzki, wird durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland selbst begünstigt. Einerseits kommt die Bourgeoisie spät und bleibt, auch wegen ihre Abhängigkeit von Investitionen aus anderen Ländern, politisch und gesellschaftlich schwach. Das Proletariat ist hingegen hochkonzentriert und, trotz seiner im Vergleich zur Landbevölkerung geringen Größe, eine sehr kompakte soziale Klasse. Die politischen Implikationen sind folgende:
„Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.“ (17)
Und weiter:
„In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende ‚Episode‘ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?“ (18)
Für Trotzki hat die Revolution 1905 auf diese Frage eine Antwort geliefert:
Die ArbeiterInnenklasse kann, ja muss unter deren spezifischen Bedingungen, zur führenden Kraft der Revolution werden. Um diese demokratische Revolution konsequent zu Ende zu führen, darf sie sich jedoch nicht auf deren demokratische Aufgaben beschränken, sondern muss auch die eigenen Klasseninteressen des Proletariats verfolgen, selbst zur führenden Kraft im Bündnis mit der Bauernschaft werden. Anstelle der „demokratischen Diktatur“ Lenins tritt jedoch die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats ist.
Auch wenn das Proletariat numerisch die kleinere Klasse als die Bauernschaft darstellt, so ändert das nichts daran, dass letztere als kleinbürgerliche Klasse gezeigt hat, dass sie zwar zur revolutionären Aktion, nicht jedoch zu einer selbstständigen Politik in der Lage ist, die ein Land neu organisieren kann.
Daher unterscheidet sich Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“ auch programmatisch vom Menschewismus und Bolschewismus des Jahres 1905.
„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.“ (19)
Das Überleben und die Entwicklung eines solchen Regimes ist zugleich mit einer entschlossenen Lösung der Agrarfrage verbunden und dieser Aspekt ist in den Rahmen der internationalen Revolution einzubetten:
„Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ (20)
Zweifellos hat die Theorie der Permanenten Revolution mehr als jede andere Konzeption die Ursachen, Grundlagen und die strategische Ausrichtung der Oktoberrevolution von 1917 vorausgesehen und bestimmt. Trotzki selbst weist im Vorwort zu dieser Schrift 1919 darauf hin, dass sich seine Position in denen des Bolschewismus von 1917 nach der Annahme der Aprilthesen wiederfinde, dass die Geschichte die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt habe.
Er verweist auch zu Recht darauf , dass Bolschewismus und Menschewismus 1905 von einem engen schematischen Verständnis der „bürgerlichen Revolution“ ausgingen, was natürlich auch programmatische Auswirkungen gehabt habe: Beide gingen über ein demokratisches Programm nicht hinaus.
Diese Konzeption einer russischen Revolution erklärt aber auch, warum für Menschewismus und Bolschewismus die Rolle der Arbeiterräte 1905 politisch unterentwickelt blieb. Teile der Bolschewiki standen am Beginn der Revolution – im Gegensatz zu Lenin und Bogdanow – den Sowjets überhaupt skeptisch, sogar ablehnend gegenüber.
Aber auch in Lenins Auffassung von der Rolle der Arbeiterräte spiegelten sich noch Ende 1905 die Schwächen der „demokratischen Diktatur“ wider. Einerseits bestimmt er in „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ die Aufgabe des Exekutivkomitees der Sowjets, sich zu einer „Provisorischen revolutionären Regierung“ zu proklamieren. Aber er hält ihn zugleich auch für eine zu enge Organisation, die um VertreterInnen der Soldaten, Bauern, der revolutionären Intelligenz und aller revolutionären Demokraten ergänzt werden müsse.
„Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. Das wird ein zeitweiliges Bündnis zur Lösung der klar umrissenen nächsten praktischen Aufgaben sein; die noch wichtigeren, grundlegenden Interessen des sozialistischen Proletariats, seine Endziele, aber werden von der selbstständigen und prinzipienfesten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands unbeirrt wahrgenommen werden.“ (21)
Lenin hebt zwar die große Bedeutung der Räte hervor. Er betrachtet sie aber nicht als Formen für eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung oder Kernformen der proletarischen Selbstorganisation. Diesen Gedanken lehnt er vielmehr in „Sozialismus und Anarchismus“ (22) explizit ab. Den Aufstand, der zur Diktatur der Arbeiter und Bauern führen sollte, stellte er sich vor allem als Aufstand vor, der von der Partei initiiert und geführt wird. Die Räte spielten für ihn nur eine Rolle als zusätzliche Aktionsorgane für die demokratische Umwälzung, nicht als Formen der Organisation einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung.
Das ist kein Wunder. Auf dem Boden einer demokratischen Revolution, die den Kapitalismus nicht abschaffen soll/kann, gibt es auch keine längerfristige Existenzberechtigung für ArbeiterInnenräte, allenfalls einen gesellschaftlich untergeordneten Platz.
Wie Marx in der Analyse der Pariser Commune zu Recht schreibt, ist die Commune eine Form der ArbeiterInnenregierung, eines proletarischen Halbstaates, auf dessen Basis die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur vor sich gehen kann. Trotzki greift 1905/6 dies auf, indem er darauf hinweist, dass die Räte die zukünftige Form sind, auf die sich eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung stützen muss. Daher verbindet er die Aufstandsfrage auch viel enger als die Bolschewiki mit der Frage des Generalstreiks – und umgekehrt diese Frage viel enger mit der Machtfrage als beispielsweise Rosa Luxemburg.
Wie Trotzki selbst anerkennt, erwies sich seine geniale Konzeption an einem entscheidenden Punkt als falsch. Er unterschätzte damals die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus, wie überhaupt die Differenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Er ging vielmehr davon aus, dass der Druck der revolutionären Ereignisse die Sozialdemokratie dazu zwingen würde, den Weg für den Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zu beschreiten.
Die Theorie der Permanenten Revolution – so richtig und bahnbrechend sie war – war noch nicht frei von einem Objektivismus. Folglich verkannte er den grundlegenden Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus.
Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass diesem Verkennen auch eine gewisse Konvergenz der Politik von Menschewiki und Bolschewiki im Laufe des Jahres 1905 zugrunde lag. Trotzki wurde Redakteur der menschewistischen Zeitung „Nachalo“ und prägte mehr und mehr deren Blattlinie, sehr zum Leidwesen von Martow und anderen prominenten Menschewiken (23). Das spiegelte eine Radikalisierung der ArbeiterInnenavantgarde wider, die in der gesamten Sozialdemokratie stattfand. So ging z. B. die Gründung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 sogar auf menschewistische Initiative zurück.
Und schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass gegen Ende des Jahres der Druck auf eine Vereinigung der Sozialdemokratie immer größer wurde und die Bolschewiki offensiv für diese eintraten (24).
1917 korrigiert Trotzki selbst diesen schweren zentristischen Fehler und bewertete auch die Politik von Menschewiki und Bolschewiki in der ersten russischen Revolution neu:
„Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der ‚gesetzmäßige‘ bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, daß sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. (…)
Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Rußland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.“ (25)
Wie die Auseinandersetzungen 1917 zeigten, war es für die Bolschewistische Partei, wenn auch erst nach inneren Kämpfen, möglich, sich von diesem Schema zu befreien. Dieser Übergang zum Kurs auf die sozialistische Revolution wäre unmöglich gewesen, wenn die inneren Widersprüche der Konzeption nicht über sie hinaus gedrängt hätten und die Partei nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Politik anhand von Analyse und Erfahrung zu korrigieren.
Schließlich versuchten die Bolschewiki schon 1905 die Revolution auf der Basis einer unzulänglichen Theorie voranzutreiben, die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft der Massen zu machen und dabei eine eigenständige Klassenpolitik zu vertreten. Darin lag ihr grundlegend revolutionärer Impuls.
Das darf aber nicht über die tiefe Verwurzelung der Konzeption der „demokratischen Revolution“ in der Theorie der Zweiten Internationale und die inneren Widersprüche der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ hinwegtäuschen, die sich nicht einfach „organisch“ überwinden ließen, sondern einen inneren Bruch in der Entwicklung der Bolschewismus erforderten. Dieser war jedoch nicht nur ein Resultat der russischen Entwicklung. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges und der Verrat der Sozialdemokratie stellten vielmehr grundsätzlich die Frage nach der Neubestimmung revolutionärer ArbeiterInnenpolitik, der sich der Bolschewismus konsequenter und folgerichtiger als jede andere Kraft stellte.
Seit 1903, seit der ersten Spaltung der russischen Sozialdemokratie, stand der Bolschewismus am linken Flügel der Sozialistischen Internationale. Das wurde auch im Auftreten auf Kongressen deutlich, insbesondere am Stuttgarter Kongress 1907, der im Gefolge der russischen Revolution auch einen Höhepunkt des Agierens des linken Flügels in der Zweiten Internationale darstellte.
Lenin und die Bolschewiki betrachteten außerdem die opportunistischen Tendenzen in den europäischen sozialistischen Parteien oder gar den Labour-Parteien in Britannien und Australien keineswegs unkritisch. Wie die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie – also auch die Mehrheit der Menschewiki und erst recht Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und Litauens – standen sie am linken Flügel der Sozialistischen Internationale.
Lenin und die Bolschewiki sahen sich dabei jedoch eher als die Vertreter des „orthodoxen“, von Kautsky maßgeblich ideologisch geprägten Teils der Zweiten Internationale in Russland denn als eigene Strömung. Für Lenin (und auch für Trotzki) war Kautsky eine bedeutende politische Autorität, eine Art „Lehrmeister“ in theoretischen und ideologischen Fragen. Er galt als theoretischer und programmatischer Inspirator einer ganzen Generation von MarxistInnen. Das Erfurter Programm, dessen Grundsatzabschnitt er verfasst hatte, galt als Modell sozialistischer Programme. Kautsky genoss innerhalb der Internationale eine enorme Autorität, die nach 1905 kurzfristig noch zunahm, er selbst rückte nach links.
Seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ stellte einen Referenzpunkt für alle Linken in der Zweiten Internationale dar, nicht zuletzt, weil sie den Beginn einer revolutionären Periode begründete, die die Machtfrage aufwerfen würde. Die Rechten in der Sozialdemokratie betrachteten die Broschüre als Kampfansage, weil sie mit gutem Grund als eine Absage an die Vorstellung einer weiteren friedlichen, graduellen Entwicklung des Kapitalismus betrachtet wurde, die den Boden für eine Fortführung der im Kern längst reformistischen Gewerkschafts- und Wahlpolitik abgab.
All das erklärt, warum die Schwächen des Kautskyianismus auch den Linken in der Sozialdemokratie, einschließlich Lenins und Trotzkis, vor dem Ersten Weltkrieg wenig bewusst wurden. Rosa Luxemburg erkannte zweifellos schon Jahre vor Lenin viele der Übel in der deutschen Sozialdemokratie und durchschaute auch Kautskys Tendenzen zum Versöhnlertum, zur Rechtfertigung der alles andere als revolutionären Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften mithilfe marxistischer Phrasen.
Vor dem Ersten Weltkrieg trat der Gegensatz der revolutionären Linken und des „marxistischen Zentrums“ um Kautsky in der deutschen Sozialdemokratie offen zu Tage. Einen Höhepunkt bildete die Generalstreikdebatte zwischen Luxemburg und Kautsky 1910 in der Kontroverse um die Generalstreikstaktik, um Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (26). In dieser Kontroverse ergriff Lenin jedoch nicht die Seite Luxemburgs, sondern Kautskys (27).
Lenins grundlegend falsche Einschätzung wurde zweifellos dadurch mitverursacht, dass er die Debatte vor allem durch die Brille des Fraktionskampfes in Russland betrachtet und orthodox klingende Formulierungen Kautskys für bare Münze nahm.
Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass die Kautsky`sche Lesart des Marxismus und überhaupt das Sein der Zweiten Internationale Lenins Verständnis des Marxismus selbst geprägt hatten. Das Insistieren darauf, dass eine Russische Revolution demokratischen Charakter haben müsse, verdeutlicht, dass auch die Theorie des Bolschewismus von dieser „Orthodoxie“ durchdrungen war. Andererseits verweist das Bestehen darauf, dass die Sozialdemokratie eine Antwort auf die Machtfrage einer russischen Revolution, unabhängig von der Bourgeoisie, geben müsse, auf die Tendenz, über die Formel der „demokratischen Diktatur“ hinauszugehen.
Ähnliche Widersprüchlichkeiten einer unvollständigen Ablösung von dem mechanischen Materialismus und der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale finden sich bei Trotzki und Luxemburg. Luxemburg bekämpft zwar viel früher als Lenin nicht nur die Rechten, sondern auch das „marxistische Zentrum“ – aber sie versäumt es umgekehrt im Gegensatz zu den Bolschewiki, dem Kampf eine politisch-programmatische und organisatorische Form zu geben und eine eigene Fraktion aufzubauen.
Trotzki entwarf mit der „Theorie der Permanenten Revolution“ eine geniale Einschätzung und Vorwegnahme der Dynamik der Revolutionen der 20. Jahrhunderts – andererseits spielte er vor dem Ersten Weltkrieg eine beschämende Rolle bei der Bildung prinzipienloser Blöcke gegen den Bolschewismus.
Der Bolschewismus nimmt gegenüber allen anderen Flügeln der Linken in der Zweiten Internationale insofern eine Sonderstellung ein, als er sich seit 1903 de facto als eigene fraktionelle Strömung auf Basis politisch-programmatischer Grundsätze formierte (28).
Dieser Formierung liegen – bei all ihren organisatorischen Wendungen, taktischen Änderungen – zwei Elemente zugrunde, die ihrerseits eine unerlässliche Voraussetzung dafür boten, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution zum Sieg führen konnten:
Schon vor 1914 bereitete sich der Bruch des Bolschewismus mit der verknöcherten Konzeption der Zweiten Internationale vor. Der Verrat der Zweiten Internationale und deren Überlaufen in das Lager der imperialistischen Bourgeoisien erforderten jedoch eine bewusste politische „Umrüstung“ des politischen Arsenals aller revolutionären MarxistInnen. Standen vor 1914 oft die Fragen des Charakters einer künftigen russischen Revolution, der revolutionären Taktik im Kampf gegen die Selbstherrschaft im Zentrum der bolschewistischen Diskussion und der Schriften Lenins, wurde nun erforderlich, alle Fragen vom Standpunkt der internationalen Revolution zu betrachten. Der Bolschewismus musste sich deshalb als internationale Strömung konstituieren.
Schon vor 1914 hatten verschiedene sozialistische TheoretikerInnen einen Wandel des Kapitalismus konstatiert. Der erste marxistische Theoretiker, der versuchte, diese neuen, Epoche machenden Veränderungen auf den Begriff zu bringen, war Rudolf Hilferding im „Finanzkapital“ (29). Auch Rosa Luxemburg versuchte schon vor dem Ersten Weltkrieg in „Die Akkumulation des Kapitals“ (30) die veränderte Lage auf den Punkt zu bringen und entwickelte eine eigene Krisen- und Imperialismustheorie.
Der Erste Weltkrieg und das Versagen der ArbeiterInnenbewegung zwangen in jedem Fall auch den Bolschewismus, der Frage nachzugehen, welche Faktoren zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, welchen Charakter dieser hatte und welche Implikationen dies für die Zukunft des Kommunismus und eine Neubestimmung des revolutionären Marxismus hat. Schon in den ersten Arbeiten zum Krieg, wird der Erste Weltkrieg als imperialistischer Krieg bestimmt, als Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.
„Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Der Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Inneren der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“ (31)
In den weiteren Schriften und insbesondere in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ versucht Lenin knapp, seine Sicht des Imperialismus als eine neue Epoche, eine Entwicklungsphase des Kapitalismus als Weltsystem herzuleiten. Aus der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals entsteht an einer bestimmten Entwicklungsstufe eine neue Form des Kapitalismus, das Finanzkapital. Dieses wird bei Lenin nicht im landläufigen Sinne als „Finanz“ bestimmt, sondern als Verschmelzung von Industrie- und Banken- oder zinstragendem Kapital unter der Dominanz des letzteren. Imperialismus bedeutet aber auch eine bestimmte globale „Ordnung“, eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern als Gesellschaftsform.
Die Welt ist unter Großmächte, die ihrerseits vom jeweiligen nationalen Finanzkapital ökonomisch dominiert werden, aufgeteilt. Eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, eine Neuaufteilung kann daher nur erfolgen durch die ökonomische Konkurrenz und politische, letztlich auch durch militärische Konfrontation.
Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Einschätzung und im Zusammenhang mit den Kongressen der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu entwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:
„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ,nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (32)
Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche: „Der Krieg ist kein Zufall, keine,Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanität und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ,Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern daß die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepaßt, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (33)
Hier formuliert Lenin knapp die politische Ausrichtung der Bolschewiki als Aufgabe aller RevolutionärInnen. Sie besteht in der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gegen die eigenen herrschende Klasse, in dessen Umwandlung zu einer internationalen sozialistischen Revolution.
Das ist der Sinn und Gehalt des „revolutionären Defaitismus“. Es geht nicht „nur“ darum, den Krieg zu beenden, sondern Lenin sieht die einzige realistische Chance, die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu wahren, darin die globale Machtfrage, die der Krieg selbst als Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufwirft, zu beantworten.
Pazifistische Programme, Programme, die den Kampf gegen Imperialismus und Krieg nicht mit dem für den Sozialismus verbinden, sind letztlich Programme, die zur Nachtrabpolitik hinter einen Flügel der imperialistischen Bourgeoisie und damit auch zum Versöhnlertum mit den Sozialchauvinisten führen.
Der revolutionäre Defaitismus als internationale Politik des Proletariats im Weltkrieg bedeutet auch, dass die „Vaterlandsverteidigung“ eine reaktionäre Parole geworden ist, selbst in Ländern, die für sich betrachtet Opfer der Politik der Großmächte wurden (Serbien, Belgien). Ihre „nationalen Rechte“ sind in dem Gesamtkontext des Krieges von untergeordnetem Rang, und sie zu vertreten, würde ein Absinken in den Sozialchauvinismus bedeuten, weil die „Verteidigung“ Belgiens selbst nur eine Rechtfertigung der imperialistischen Ziele der Entente war.
Lenins Verbindung der Kriegsfrage mit dem Kampf um die sozialistische Revolution darf aber nicht als ein Fallenlassen der Forderungen des Minimalprogramms missverstanden werden. Vielmehr zeichnet sich bei ihm und der bolschewistischen Politik im Krieg eine Überwindung der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ab:
„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ (34)
Lenin verteidigt gegen Luxemburg und ultra-linke Teile der Bolschewiki, dass z. B. der Kampf um das nationale Selbstbestimmungsrecht weiter Bestandteil des revolutionären Programms bleibt, ja in gewisser Weise sogar wichtiger wird als zuvor.
„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (35)
Der irische Aufstand 1916, Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialvölker sind für Lenin Bestandteil des Klassenkampfes. Die ArbeiterInnenklasse hat ein Interesse, sie zu fördern, zu unterstützen, um so die imperialistischen Bourgeoisien zu schwächen. Die Unterstützung von Kämpfen unterdrückter Nationen ist ein integraler Bestandteil des „revolutionären Defaitismus“, ein Moment der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie.
Das trifft, wie Lenin immer wieder betont, auch auf andere demokratische Fragen zu, nicht nur jene der kolonialen Unterdrückung. In der gesamten imperialistischen Epoche gibt es eine grundlegende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte und zunehmender Überwachung und Kontrolle.
Eine besonders wichtige Stellung nimmt dabei die Landfrage ein. Lenins große Stärke bestand zweifellos schon 1905 darin, die Bedeutung der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer für die Russische Revolution erkannt zu haben. Sie wird auch eine entscheidende Rolle für die Revolution 1917 und später für die Wendung der Kommunistischen Internationale in der Kolonialfrage spielen – allerdings eingebettet in ein Programm der sozialen Umwälzung.
Lenins programmatische Wende geht aber auch einher mit einer veränderten Charakterisierung des Opportunismus. Der Sozialchauvinismus ist nicht nur eine falsche, konterrevolutionäre Politik, er hat eine soziale Grundlage in der Veränderung des Gesamtsystems des Kapitalismus. In der imperialistischen Epoche schafft dieses Weltsystem, die Etablierung einer internationalen Arbeitsteilung, auch die Möglichkeit, dass Teile der ArbeiterInnenklasse der Kernländer des Kapitalismus relativ privilegiert, d.h. „bestochen“ werden können. Diese Schichten der Klasse bildeten sich zuerst in Britannien im 19. Jahrhundert heraus, werden jedoch im 20. Jahrhundert zu einem Phänomen in allen imperialistischen Staaten.
Damit bietet Lenin eine Erklärung für die Verankerung und Verwurzelung reformistischer Parteien in der ArbeiterInnenklasse, von Parteien, die selbst eng mit dem Herrschaftsapparat der Bourgeoisie verbunden sind, deren Apparat und Führungen als politische Agenten der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse wirken.
Diese Parteien, also jene der Zweiten Internationale, sind mit der Burgfriedenspolitik, der Politik der Vaterlandsverteidigung, der sich nicht nur die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet hat, sondern in Russland auch die große Mehrheit der Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, kleinbürgerliche „sozialistische“ Parteien geworden.
Zugleich bestimmt Lenin den Imperialismus als eine Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. So fasst er im 10. Kapitel seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ dessen historische Stellung folgendermaßen zusammen:
„Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren Gesellschaftsformation.“ (36)
Der Kapitalismus selbst ist reaktionär geworden – und damit ist auch die Basis für eine ganze Epoche des Übergangs gelegt worden. „Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu der ganze Erdball unter diese ,Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ,Groß’mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“ (37)
Damit und in diesem Sinn – (eine über die ganze Geschichtsperiode hinweg vorherrschende Tendenz zur Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus) – ist die imperialistische Epoche eine von Kriegen und Revolutionen. Für Lenin und sein Denken tritt die „Aktualität der Revolution“ ins Zentrum:
„Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx‘ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, ‚welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird‘, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen.“ (38)
Aus allem ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale, aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (39)
Die Politik der Bolschewiki geht nach 1914 daher nicht nur vom internationalen Charakter der Revolution aus. Sie verbindet diesen bewusst mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale, die ihrerseits in mehrfacher Hinsicht von der Zweiten Internationale vor dem Weltkrieg unterschieden sein soll. Sie muss nämlich nicht nur einen Bruch mit den offenen Sozialchauvinisten vollziehen, sondern auch mit den zentristischen VersöhnlerInnen à la Kautsky, die eine Einheit mit der Sozialdemokratie weiter verfolgten und damit die Illusion einer möglichen „Gesundung“ der Zweiten Internationale schürten.
Lenin stellt sich dabei eine neue, kommunistische Internationale nicht als einfache Verlängerung des Bolschewismus, sondern als politische Vereinigung aller InternationalistInnen vor, die mit dem Sozialchauvinismus und dem Versöhnlertum brechen wollen. In der ersten Phase des Krieges, in der die revolutionären KriegsgegnerInnen auf eine verschwindende Minderheit der Klasse ins Stadium von Propagandagesellschaften zurückgeworfen sind, betont Lenin die Notwendigkeit, die zukünftige Revolution vorzubereiten – und das heißt vor allem auch Klärung der Positionen der bewussten kommunistischen Kräfte und der Avantgarde.
Das zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Resolutionen der Bolschewistischen Partei, ihrem Wirken bei Anti-Kriegskonferenzen und Tagungen, sondern vor allem darin, dass Lenin es für notwendig hielt, illegale Propaganda zu verbreiten, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur allgemein über den Charakter des Kriegs aufklärt, sondern auch konkret bestimmt, welche Aktionen, welche Taktiken, welche Haltung zu einzelnen Fragen notwendig sind.
In Zimmerwald vertrat die bolschewistische Delegation die Losung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg und wollte dies auch zur Basis der Sammlung der Kräfte für eine neue Internationale machen. Für die Zentristen wie den USPD-Delegierten Ledebour und die meisten TeilnehmerInnen war das unannehmbar. Über einen Aufstand würde man erst reden, wenn er stattfindet. Dem widerspricht Lenin entschieden:
„Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der II. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (40)
Hier zeigt sich konkret, worin Lenin den Unterschied zur „alten Internationale“ sieht. Die revolutionäre Partei muss ein Zentrum strategischer Diskussion und ihrer taktischen und organisatorischen Konkretisierung sein. Sie muss diese Debatten mit der Klasse führen, deren Aufmerksamkeit (und das heißt zuerst der klassenbewussten ArbeiterInnen) auf diese Fragen lenken, selbst wenn sie ihnen noch fern erscheinen mögen.
Die „Aktualität der Revolution“, deren Vorbereitung kann sich nicht mit allgemeinen oder abstrakten Revolutionsprognosen begnügen oder der „Erkenntnis“, dass der Imperialismus reaktionär sei. Diese Bestimmungen müssen vielmehr mit der konkreten Entwicklung vermittelt werden. Daher lehnt er auch jeden doktrinären Schematismus ab, der sich beispielsweise bei Luxemburg und den „imperialistischen Ökonomisten“ in der nationalen Frage zeigt.
Das revolutionäre Programm muss von einem allgemeinen zu einem Aktionsprogramm konkretisiert werden, das – wie später die Aprilthesen in der Russischen Revolution – die Hauptaufgaben der Revolution zusammenfasst und diese in die Machtfrage münden lässt.
Der zweite wichtige Aspekt in Lenins Kampf um eine neue Internationale findet sich schon im Krieg und erst recht bei Gründung der Dritten Internationale darin, dass er sich nämlich durchaus eine revolutionäre Internationale (und Parteien) vorstellte, die verschiedene Strömungen des Kommunismus, des revolutionären Internationalismus inkludieren sollte. Das zeigt sich recht deutlich darin, dass er trotz der sehr heftigen Polemiken gegen Pjatakow und die „imperialistischen Ökonomisten“ keine Spaltung von dieser Minderheit des Bolschewismus wollte. Luxemburg und den Spartakusbund wollte er – trotz ihrer Kritik – für die Dritte Internationale gewinnen, ebenso wie er die Gewinnung Trotzkis und der Zwischengruppe befürwortete, trotz der massiven Differenzen in der Vorkriegsperiode.
Die Vorstellung, dass Lenin ein „chemisch“ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des „Leninismus“ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.
Dem widerspricht überhaupt nicht, dass Lenin hart um politische Klarheit gekämpft hat und vor Spaltungen nicht zurückschreckte. Darin liegt jedoch nichts spezifisch „Leninistisches“, sondern ein allgemeines Merkmal jedes ernsthaften Revolutionärs. In Grundfragen der Revolution – seien es Fragen ihres Charakters, des Programms, der Taktik – können revolutionäre MarxistInnen nicht auf „Pluralismus“ und Unklarheit setzen. Jede solche Halbheit – mag sie auch eine imaginäre Parteieinheit retten – muss sich in einer Krisensituation bitter rächen.
Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden. Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.
Der Bolschewismus hat sich seit 1903 eine solche Flexibilität und gleichzeitig eine Prinzipienfestigkeit und vergleichsweise große Disziplin und Einheitlichkeit erarbeitet, auf deren Basis er nicht nur die Parteikader im engeren Sinne, sondern über mehr als ein Jahrzehnt mal offener, mal in der Illegalität eine Verbindung zur Avantgarde der Klasse herzustellen vermochte.
Sicherlich finden sich auch bei anderen Strömungen der internationalistischen Linken Aspekte dieser Entwicklung. So hatten Luxemburg und Liebknecht eine politische Bedeutung für die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die sicher weit über die Größe des Spartakusbundes und auch der KPD hinausging – aber sie kamen, verglichen mit den Bolschewiki, zu spät bei der Formierung eines Kaders, einer Faktion, einer Vorstufe zu einer eigenständigen Partei. Das „Sektierertum“ der Bolschewiki, dessen sie von ihren GegnerInnen in der russischen und internationalen Sozialdemokratie vor dem Krieg beschuldigt worden waren, sollte sich in der Russischen Revolution als unersätzliches politisches Kapital erweisen.
Diese wäre jedoch selbst nicht zur Geltung gekommen, wäre nicht schon während des Kriegs eine theoretische, programmatische und taktische Neuausrichtung des Bolschewismus erfolgt.
Die Imperialismustheorie, der „Revolutionäre Defaitismus“ und die Ausrichtung, den Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen zu verwandeln, verweisen auf diese grundlegende Umrüstung des Kommunismus. Sie stellte nicht nur die Orthodoxie der Zweiten Internationale, sondern implizit auch die ursprüngliche bolschewistische Konzeption einer russischen Revolution in Frage. Hinzu kommt, dass die Erneuerung des Bolschewismus, die Lenin im Exil vornahm, keineswegs in ihrer Gänze in die Reihen der Partei drang und in ihren Implikationen verstanden wurde.
Die Revolution selbst offenbarte diese inneren Widersprüche – und sie erzwang zugleich eine Vertiefung der Neubestimmung der bolschewistischen Politik und Programmatik, deren „Umrüstung“, um die Partei auf die Machtergreifung im Oktober vorzubereiten und zu dieser zu befähigen.
Der Ausbruch der Februarrevolution überraschte alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung. Russland wurde als „schwächstes Glied“ in der Kette der kriegführenden, imperialistischen Nationen erschüttert. Wie keine andere europäische Großmacht war es vom Krieg gebeutelt worden. Das Zarenreich erwies sich gerade gegenüber dem deutschen Imperialismus als militärisch schwach. Was seine Armeen zeitweilig gegen die österreichisch-ungarischen errungen, verloren sie, sobald die deutschen Truppen in die Kampfhandlungen eintraten.
Die Niederlagen gingen mit einem enormen Blutzoll einher. Fünf Millionen EinwohnerInnen verloren während des Krieges ihr Leben, weitere Millionen wurden verwundet, zermürbt. An der Front und in der Armee breiteten sich Desillusionierung, Kriegsmüdigkeit, Hunger aus. Allein 1916 desertierten rund 1,5 Millionen Soldaten.
Die desolaten Verhältnisse an der Front gingen mit einem Niedergang im Inneren einher. Die kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr oder kaum noch bewirtschaftet werden. Während die Söhne an der Front starben oder verwundet wurden, hungerten die Familien und verloren ihre Existenzgrundlage.
Das wiederum führte, kombiniert mit Ausrichtung auf die, wenn auch schlechte, Versorgung der Armee und Spekulanten, zu einer drastischen Steigerung der Lebensmittelpreise und zur Inflation. 1916 betrug sie 400 Prozent. Das Land konnte nicht produzieren und die ArbeiterInnen in den Städten nicht kaufen. Die Zahl an Streiks und Demonstrationen stieg wie die Unzufriedenheit, während sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechterte, weil selbst die Erfolge von einzelnen Kämpfen durch die Inflation, Versorgungsengpässe, Niedergang der Infrastruktur und allgemeine Zerrüttung rasch zunichte gemacht wurden.
Der imperialistische Krieg trieb zugleich die politischen Widersprüche auf die Spitze. Der Zarismus hatte den Krieg geführt und wurde nun zum Fokus des Volkszorns, zum Symbol der Unfähigkeit, Dekadenz und Volksfeindlichkeit.
Zugleich offenbarte sich mehr und mehr, dass der russische Imperialismus den Krieg nur mit Krediten der Führungsmächte der Entente, mithilfe französischen und britischen Geldes weiterführen konnte.
Obwohl ein Agrarland, war die Industrie Russlands hochkonzentriert. In den städtischen Zentren, v. a. in St. Petersburg, gab es Großbetriebe mit tausenden, wenn nicht zehntausenden ArbeiterInnen vor. Diese bildeten eine mächtige soziale Kraft, die in der Februarrevolution wie schon 1905 ihre eigene Stärke zur Geltung brachte.
Schon gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich zur Organisation in ersten räteähnlichen Strukturen. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung über 30.000 Belegschaftsmitglieder. Die Antwort waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.
Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (41). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.
In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Repressionskräfte schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protestierenden. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die RevolutionärInnen besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, was der Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Vertretung anerkannten, war.
Die Revolution siegte im Februar rasch, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Der Sieg wurde im Wesentlichen in St. Petersburg errungen, das Land zog mit. Insgesamt wurden 1443 Tote ermittelt, was von der Bourgeoisie als „unblutig“ bezeichnet wurde. Das ist sicher übertrieben, aber es trifft zu, dass – verglichen mit dem Völkergemetzel des Krieges – die Februarrevolution relativ friedlich verlief.
Die politischen Parteien waren von der Umwälzung überrascht worden. Das trifft nicht nur auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch auf die Bolschewiki zu.
„Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: ‚Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren … Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.‘
Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht hatte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.“ (42)
In der „Geschichte der russischen Revolution“ verweist Trotzki aber nicht nur auf die Schwäche der RevolutionärInnen und erst recht der anderen „linken“ Parteien. Er entkräftet auch die These, dass die Februarrevolution „rein“ spontan gewesen sei und überhaupt keine Führung hervorgebracht habe. Vielmehr stelle sich die Frage, wer die Menschen gewesen seien, die bei einem immerhin fünf Tage dauernden Kampf die Initiative ergriffen?
„Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.“ (43)
Hier zeigt sich das vorwärtstreibende Streben der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die ihrerseits durch die vorbereitende Arbeit von RevolutionärInnen politisch geprägt war, auch wenn sie über eine ganze Periode isoliert, demoralisiert oder zeitweilig gar dem Taumel des Patriotismus erlegen war.
Zugleich zeigte sich aber auch die Unreife der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten mit dem Petrograder Sowjet ein eigenes Machtorgan, den Sowjet, und einen Monat später wurde auch ein landesweites Exekutivkomitee einer gesamtrussischen Sowjetkonferenz gewählt (44). Aber in den Räten hatten die Sozialpatrioten die Mehrheit. Diese war schon in Petersburg sehr groß, landesweit waren die Kräfteverhältnisse noch günstiger für die Menschewiki und vor allem die Sozialrevolutionäre.
Auch wenn die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht voraussahen und angeführt hatten, so entsprach ihre Politik der vorherrschenden Stimmung der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Die Sozialrevolutionäre waren die mit Abstand stärkste politische Organisation unter der Bevölkerung, weil sie das Land dominierten. Aber sie waren unfähig, eine eigenständige Politik zu entwickeln. Ihre Vertreter hängten sich entweder direkt der Bourgeoisie an oder vermittelt über die Menschewiki.
„Die erdrückende Mehrheit des Volkes, und durch die Soldaten auch die physische Gewalt, hatten die Sozialrevolutionäre. Rechts von ihnen stand die bürgerliche und links die sozialistische Minderheit. Dennoch übernahmen die Volkstümler die Macht nicht. Sondern sie waren genauso wie die russischen Sozialdemokraten von der Überzeugung erfüllt, daß die Russische Revolution, die den Zaren stürzte, eine bürgerliche sein müsse. Sie waren deshalb bereit, dem liberalen Bürgertum die Macht zu überlassen. Sie selbst wollten in der Rolle einer loyalen Opposition die Regierung kontrollieren und im Sinne der Demokratie vorwärtsdrängen.“ (45)
Die Russische Revolution hatte zwar eine Situation der Doppelmacht geschaffen – letztlich eine zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aber diese konnte nur verzerrt zum Ausdruck kommen aufgrund der Unreife der revolutionären Klasse und der damit verbundenen Dominanz von Menschewiki und Sozialrevolutionären in der Bewegung.
Diese sorgten dafür, dass sich der Petersburger Sowjet „freiwillig“ einer Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow unterordnete. Ein diesbezügliches Abkommen schloss das Exekutivkomitee des Petersburger Sowjets am 1. März, das auch in einen Aufruf zur Unterstützung der Provisorischen Regierung mündete. Die „Sowjetparteien“ selbst entsandten keine Parteivertreter in die Regierung, nur der Sozialrevolutionär Kerenski nahm als „Privatperson“ daran teil.
Die Menschewiki verteidigten die Unterstützung der Provisorischen Regierung, da diese nicht nur „provisorisch“, sondern „revolutionär“ sei. Am 7. März veröffentlichte das menschewistische Zentralorgan „Rabotschaja Gaseta“ eine Stellungnahme zur Haltung gegenüber der „Provisorischen Regierung“, die in einem Appell an ebendiese gipfelte:
„Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten von Euch unverzüglich Befehle zur Festigung der Revolution und zur Demokratisierung Rußlands. Von Euch hängt unsere Unterstützung ab. Je rascher und entschlossener Ihr handeln werdet, umso rascher und gründlicher wird eine Konstituierende Versammlung vorbereitet werden können, deren Beschlüsse das weitere Schicksal Rußlands bestimmen werden. Auf zur Tat, auf zur Zerstörung des alten und zur Unterstützung des neuen Russlands! Wir fordern von Euch die unverzügliche Verwirklichung Eures Programms.“ (46)
Das Programm der Provisorischen Regierung war in Wirklichkeit das Programm der imperialistischen Bourgeoisie, die sich aufgrund der Doppelmacht und ihrer fehlenden Kontrolle über die Soldaten gezwungen sah, phrasenhafte Zugeständnisse wie das Versprechen bürgerlicher Freiheiten und einer Konstituierenden Versammlung zu machen, um im Gegenzug den Krieg fortzusetzen zu können und auf die Zersetzung der Revolution zu hoffen.
Die Politik der „extremen Opposition“ von 1905 war über den Weg der Vaterlandsverteidigung bei der Politik der Unterstützung einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung angelangt.
Wie aber reagierte die Bolschewistische Partei? Vor der Rückkehr aus dem Exil versuchte Lenin die Partei aus der Schweiz zu dirigieren, wie sich in den „Briefen aus der Ferne“ (47) zeigt.
Aber er scheiterte mit diesem Vorhaben, wie das von seiner Linie abweichende, ja der Konzeption Lenins gar entgegengesetzte Agieren verschiedener Strömungen in der Partei zeigt. Zugleich werden in den Texten aus dieser Zeit, wie den „Briefen aus der Ferne“, schon die grundlegenden Züge der Strategie Lenins deutlich. Die Aufgabe die ArbeiterInnenklasse und Volksmassen bestünde darin, von der ersten Etappe der Revolution, der bürgerlich-demokratischen, zur sozialistischen überzugehen. Es heißt dort:
„Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die ,Aufgabe des Tages‘, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (48)
In seinem zweiten Brief lehnt er die Unterstützung der Provisorischen Regierung kategorisch ab und erhebt zugleich die Forderungen nach der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse und der Bildung einer proletarischen Miliz. Er bezieht sich positiv auf die geplante Einrichtung eines „Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch die Proletarier und Soldaten“ als Weg zur Hebung des Bewusstseins und der Organisierung der Klasse.
In den Briefen 3-5 werden diese programmatischen Aufgaben präzisiert. Nicht Unterstützung, sondern Vorbereitung des Sturzes der Provisorischen Regierung sei die Aufgabe. Dazu muss das Proletariat gemeinsam mit der Bauernschaft die Macht übernehmen, die Zerschlagung des Staatsapparates zu Ende bringen und seine Macht auf einen proletarischen Halbstaat, auf den Rätestaat stützen. Die Staatsmacht muss dazu in die Hände der Sowjets übergehen. In den „Briefen aus der Ferne“, vor allem im 5. Brief, werden zentrale Aspekte der Aprilthesen von Lenin vorweggenommen.
Lenin konzipiert die Russische Revolution als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch wenn sie noch keinen Sozialismus schaffen wird, so soll sie doch den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen. Er nähert sich damit Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an. Abgesehen von terminologischen Unterschieden konvergieren die Vorstellungen der beiden – was auch die Grundlage für den Eintritt Trotzkis in die Bolschewistische Partei legt. Schon vor dem formalen Vollzug dieser Vereinigung im August 1917 arbeitet Trotzki eng mit Lenin zusammen.
Die Bolschewiki in Russland hingegen waren in verschiedene Strömungen hinsichtlich ihrer Haltung zur Provisorischen Regierung gespalten, die allesamt die Doppelherrschaft mit der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ in Einklang zu bringen versuchten.
Das Distriktskomitee von Wyborg vertrat ein Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung ausdrückte, und zugleich glaubte es, dass die Revolution strikt demokratisch wäre. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.
Es ist kein Zufall, dass das Wyborger Komitee eine linke Position einnahm. Es war eng mit der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, den FührerInnen und AktivistInnen der Februartage verbunden, die durch ihre Aktionen schon über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinausdrängten. Wie real dieser Druck und das Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch gegenüber dem menschewistisch-sozialrevolutionären Exekutivkomitee des Sowjet waren, zeigen Stellungnahmen von ArbeiterInnenversammlungen in Fabriken vom März 1917. So erklärt eine „Resolution der Arbeiter der Fabrik ‚Dinamo’“ nach dem 5. März, dass sie sich dem Rat der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten nicht unterwerfe, weil er die Revolution nicht vorantreibe und keine konsequente Politik zur Beendigung des Krieges und Verbrüderung mit den deutschen Soldaten betreibe (49). Versammlungen proletarischer Frauen erhoben grundlegende Forderungen wie volle Gleichstellung, den 8-Stunden-Tag, Frauen- und Mutterschutz und riefen zur Organisierung der Frauen auf (50). Andere berichten davon, dass betriebliche Räte und ArbeiterInnenkontrolle errichtet worden seien, die bis zur „Entfernung“ der Fabrikleitung und zur Übernahme durch die Fabrikkomitees ging. Solche Forderungen und Aktionen gingen über eine rein demokratische Umwälzung hinaus, und das Wyborger Komitee versuchte, die Machtfrage mit der Doktrin von 1905 zu lösen.
Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politisch Verbannten, die durch die Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“ (51)
Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden menschewistischen Linie im Exekutivrat des Sowjets. Sie ließ vielmehr offen, ob die Provisorische Regierung nicht doch den tatsächlichen Interessen der Massen diene, und ähnelte der Position einer „kritischen Unterstützung“ der bürgerlichen Regierung durch die Menschewiki.
Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky) schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte, also eine Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms, den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft, sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.
Auch hier finden wir die Perspektive einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, in Acht und Bann zu legen.
Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Diese Erkenntnis trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht. Andererseits betonte es weiter, dass die Revolution nicht auf den Fall der Kapitalherrschaft abziele, sondern auf den der Selbstherrschaft des Zaren und des Feudalismus. Hinter diesen Schwankungen vollzog diese Strömung generell eine Linksentwicklung und entwickelte sich schon vor Lenins Rückkehr in seine Richtung, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Fesseln der traditionellen Konzeption zu lösen. (52)
Den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus nahm die Redaktion der Prawda ein. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ (53)
Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, beschleunigen.“ (54)
Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So verwundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmte, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.
Die Prawda-Redaktion repräsentierte zwar nicht die Mehrheit der Bolschewiki, aber nutzte bzw. missbrauchte ihre redaktionellen Rechte, um ihre Linie zur vorherrschenden zu machen. Dabei kam ihr zugute, dass sie, im Gegensatz zu den drei anderen Strömungen, eine in sich folgerichtige, schlüssige Linie verfocht. Das Wyborger Komitee, das Petersburger Komitee und das exilierte Zentralkomitee waren in den inneren Widersprüchen der Politik von 1905 gefangen. Einerseits drängten sie in Richtung einer unabhängigen ArbeiterInnenpolitik, andererseits waren sie an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution nur eine demokratische sein könne.
Vor Lenins Ankunft drängte daher die Prawda-Richtung die Partei nach rechts. Ende März äußerte sich Stalin auf einer Parteikonferenz wie folgt zur Frage der Provisorischen Regierung und ihres Verhältnisses zu den Räten:
„Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt widerstrebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes, die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem wir den Prozeß der Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in der Folge unvermeidlich von uns trennen müssen.“ (55)
Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, Provisorische Regierung und Räte teilten sich die Arbeit, der Klassenkampf wurde zu einer Frage des „Drucks“ auf eine Regierung, deren Ablösung nicht weiter forciert werden sollte.
Aufgrund kritischer Stimmen schwächten Stalin und Kamenew zwar ihre Formulierungen etwas ab, um sie am nächsten Tag jedoch in der Substanz beizubehalten:
„So weit die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, so weit müssen wir sie unterstützen; aber so weit sie konterrevolutionär ist, ist die Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig. Viele GenossInnen, die aus den Provinzen ankamen, haben die Frage aufgeworfen, ob wir unmittelbar die Frage der Machtergreifung stellen sollten. Aber die Zeit ist nicht reif, die Frage jetzt zu stellen.“ (56)
Auf derselben Konferenz wurde die Frage einer Vereinigung mit den Menschewiki aufgeworfen und die Tagung wurde mehrmals für gemeinsame Sitzungen mit den Sozialpatrioten unterbrochen. Auch wenn es widersprechende Stimmen gab, so zeigte sich, dass in vielen Städten schon Verhandlungen über die Vereinigung geführt wurden. Delegierte, die auf der Notwendigkeit einer programmatischen Klärung und Übereinstimmung als Voraussetzung für eine Fusion beharrten, wurden von jenen überstimmt, die die alten Differenzen als nicht mehr so wichtig betrachteten, zumal Menschewiki und Bolschewiki, formell betrachtet, noch immer dasselbe Parteiprogramm hatten. Die Konferenz optierte mehrheitlich für Vereinigungsdiskussionen. (57)
Jene Delegierten, die auf der programmatischen Abgrenzung beharrten, folgten zweifellos einem richtigen Impuls. Aber sie selbst hatten mit dem Dilemma zu ringen, dass sie einerseits programmatische Klarheit forderten, andererseits aber keine klare Alternative zum „traditionellen“ Bolschewismus zu formulieren imstande waren.
Dieses Dilemma konnte im Rahmen der Konzeption von 1905 nicht gelöst werden – deren innere Widersprüche konnten nur durch einen politischen Bruch mit ihren Beschränkungen überwunden werden.
Eine solche programmatische Umrüstung und Neuausrichtung erfolgte im April 1917 mit Lenins Rückkehr. In These 9 der berühmt gewordenen Aprilthesen weist er selbst auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Programms hin.
„Änderung des Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:
1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;
2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‚Kommunestaates‘;
3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;“ (58)
Die Aprilthesen verfasste Lenin am 4./5. April bei seiner Rückkehr nach Russland, nachdem er auf ersten Versammlungen seine grundlegende Linie dargelegt hatte. Nicht nur Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch die Mehrzahl der Bolschewiki waren schockiert. Das Petersburger Komitee lehnte nach einer ersten Diskussion die Aprilthesen mit 2 gegen 13 Stimmen ab, auch Komitees aus Moskau und Kiew wiesen sie zurück. Die Prawda veröffentlichte die Thesen am 7. April nur mit einer redaktionellen Distanzierung,, in der Kamenew schreibt:
„Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, …so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung der Revolution in eine sozialistische berechnet ist…“ (59)
Kamenew, der konsequenteste und theoretisch versierteste Wortführer des rechten Flügels der Partei, drängte im Namen der Prawda-Redaktion selbst auf eine Überwindung der Widersprüchlichkeiten der „demokratischen Diktatur“. Er ging somit nach rechts, was ihn letztlich ins Lager des Menschewismus geführt hätte.
Lenin bekämpfte diese Richtung im April 1917 scharf und konnte auch die Mehrheitsverhältnisse in der Partei zu seinen Gunsten ändern. Sie wurde politisch „umgerüstet“. Worin bestand nun diese Neuausrichtung?
Die Aprilthesen („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“) (60) gehen von der internationalen Lage aus. Der Krieg ist auch auf Seiten des von der Provisorischen Regierung geführten Russlands noch immer ein imperialistischer Krieg. Der revolutionäre Defätismus, den der rechte Flügel der Partei ad acta legen wollte, behält auch unter der neuen Regierung seine Gültigkeit, weil es eine Regierung der Kapitalisten ist, die einen imperialistischen Raubkrieg führt.
„Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.“ (61)
Damit erfolgte nicht nur eine klare politische Ablehnung der Regierung. Zugleich wurde auch deutlich, dass jede Vereinigung mit den Sozialpatrioten nur Verrat am internationalen Proletariat sein könne, weil dies den Wechsel ins Lager der Vaterlandsverteidiger bedeuten würde.
Statt die Provisorische Regierung „kritisch zu unterstützen“, gehe es darum, ihren Sturz vorzubereiten, von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution überzugehen. Dass sie sich noch halten könne, liege vor allem an der „mangelnden Organisiertheit des Proletariats“ und „Vertrauensseligkeit der Massen“. Es gehe daher nicht um die unmittelbare Machtergreifung, sondern auf deren Vorbereitung durch Aufklärung der Massen, Unterstützung von deren Initiativen, Enthüllung des wahren Charakters des Krieges, der Regierung und des Versöhnlertums. Solange die Bolschewiki nicht die Führung der ArbeiterInnen und ländlichen Massen errungen hätten, müssten sie ihre Politik darauf ausrichten, diese von der Notwendigkeit der Machtergreifung zu überzeugen.
Lenin macht deutlich, dass eine solche Regierung nicht unmittelbar den Sozialismus einführen würde oder könnte, sondern dass sie durch die „Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates“ unterliege und durch „sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat“ den Übergang zu einer solchen Gesellschaftsordnung einleiten würde.
Diese Forderungen, die die Voraussetzung für den Sozialismus in Verbindung mit der internationalen Revolution schaffen können, müssten mit dem Kampf für die wirkliche Beendigung des Kriegs durch die Revolution, die ohne Sturz des Kapitalismus unmöglich sei, der Verbrüderung mit den deutschen Soldaten und der Agrarrevolution als Kernfrage der „demokratischen Revolution“ verbunden werden.
Lenin entwirft hier ein Programm von Übergangsforderungen. Die wichtigsten, grundlegenden Fragen der ArbeiterInnenklasse wie aller Unterdrückten dürfen dem Kampf für die soziale Revolution, dem Kampf gegen das Kapital nicht entgegengestellt werden, sondern müssen vielmehr zu einem Aktionsprogramm gebündelt werden, das die brennendsten Fragen der Massen – „Land, Brot, Frieden“ – mit der Lösung der Machtfrage verbinde.
Dieser Bruch mit der Programmmethode der Zweiten Internationale entspricht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und verweist auf die Entwicklung der Übergangsmethode auf den ersten vier Kongressen der Komintern und durch die frühe Vierte Internationale. Lenins eigenes Denken hatte sich schon vor 1917 in diese Richtung entwickelt, wie z. B. eine Polemik gegen Radek (Parabellum) aus dem Jahr 1915 verdeutlicht:
„Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollständig, nur verstümmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends sowie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Maßnahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere im Gange dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Eben im Namen dieses Endzieles müssen wir einer jeden unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolutionäre Formulierung geben. Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.“ (62)
Diese Methode findet sich in den Aprilthesen eindeutig wieder. Sie stand in einem grundlegenden Gegensatz zur Position der rechten Bolschewiki wie Kamenew, gegen die Lenin heftig polemisierte. In „Briefe über die Taktik“ geht er auf dessen Position ein und weist ihm ein Festhalten an überlebten Formeln nach.
Kamenews Insistieren darauf, dass die „demokratische Revolution“ noch nicht abgeschlossen sei, verdeutliche, dass er die Frage nach dem Charakter der Revolution schon „falsch gestellt“ hätte, weil er unterstellt, dass es überhaupt eine klar abgetrennte und abgeschlossene „demokratische Etappe“ geben könne. Eine lupenreine Trennung der beiden Etappen wird vorausgesetzt, statt die Wirklichkeit danach zu untersuchen, ob diese Vorstellung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt.
„Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang zur Macht an die Bourgeoisie (‚abgeschlossene‘ bürgerlich-demokratische Resolution von gewöhnlichem Typus) als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ verkörpert. Diese letztere ‚Auch-Regierung‘ hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.
Erfaßt die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerliche Revolution ist nicht abgeschlossen‘ diese Wirklichkeit?
Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie mit neuem Leben zu erwecken.“ (63)
Noch deutlicher wird Lenin mit einem weiteren Argument. Er stellt in Frage, ob es „eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ geben kann.“
Wenn überhaupt, dann sei sie nur auf Basis der „sofortige[n], entschiedene[n], unwiderrufliche[n] Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen“ (64) möglich.
Diese Trennung wird zur unbedingten Notwendigkeit, weil das Kleinbürgertum nicht „zufällig“ für den Sozialchauvinismus anfällig ist, sondern aufgrund seiner Klassenlage. Daher muss die ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle einnehmen – was auch eine Trennung von und eben nicht Verschmelzung mit den kleinbürgerlichen Parteien erfordert.
Gerade in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“ hätten sich die Interessen von Proletariat und Kleinbürgertum getrennt, daher sei der „alte Sinn“ der „demokratische(n) Diktatur“, die eine zeitweilige Interessengleichheit unterstellt, obsolet geworden. Jetzt gehe es um die Zukunft, den Kampf gegen das Privateigentum, den Kampf der LohnarbeiterInnen gegen das Kapital.
Auch in den Aprilthesen findet sich die „demokratische Diktatur“ nicht mehr, weil sie bestenfalls eine zwiespältige Formel geworden ist. Stattdessen heißt es: „5. Keine parlamentarische Republik -von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts -, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.
Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.“ (65)
Die Februarrevolution hatte zwar begonnen, den zaristischen Staatsapparat zu zerbrechen, doch dieses Werk musste durch eine zweite Revolution zu Ende gebracht werden. Ähnlich wie Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“ knüpft er dabei an Marx‘ Schriften zur Revolution von 1848 und die Schriften zur Commune an.
Die „Briefe aus der Ferne“, die Kommentare und Erklärungen zu den Aprilthesen betonen immer wieder die Notwendigkeit, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen Rätestaat zu ersetzen. Noch vor seiner Rückkehr aus dem Exil verfasste Lenin einen großen Teil der Schrift, die später unter dem Titel „Staat und Revolution“ (66) veröffentlicht werden wird.
Hier zeigt sich eine weitere Seite der Abwendung Lenins von den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. In seinem Denken spielen die Räte in der Revolution 1917 eine qualitativ andere Rolle als 1905. Das ist kein Zufall, denn in einer Revolution, die eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung an die Macht bringt, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats darstellt, müssen die Räte eine zentrale Rolle spielen – nicht nur für den Sturz des bestehenden Systems, sondern auch für die Etablierung eines proletarischen Halbstaates.
Die enorme Bedeutung von „Staat und Revolution“ besteht für Lenin sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. 1917 steht die Entwicklung vor der Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Daher sei die Aufklärung der Massen darüber eine unmittelbare Aufgabe. Theoretisch geht es um den Bruch mit den Entstellungen der marxistischen Auffassung vom Staat durch die Theoretiker der Zweiten Internationale. „Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.“ (67)
Diese Wiederherstellung des Marxismus ist mit den Aprilthesen und der gesamten Strategie der Bolschewiki eng verbunden. Methodisch stehen sie hinsichtlich der Analyse der Russischen Revolution, ihrer Triebkräfte, ihrer Zielsetzung auf demselben Boden wie Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“.
Es ist kein Zufall, dass sich Trotzki und seine kleine Organisation, die Meschrajonzy, den Bolschewiki anschlossen und Trotzki gemeinsam mit Lenin einer der Strategen und zentralen Führer der Russischen Revolution wurde. Erst im Zuge des Fraktionskampfes mit der Troika und später mit dem Stalinismus wurde diese Übereinstimmung der Ideen, Konzepte und Politik in Frage gestellt werden. Die Behauptung, dass es grundlegende Differenzen zwischen Trotzki und den Aprilthesen gegeben habe, dass Lenin eine andere Strategie verfolgt habe, ist, historisch betrachtet, eine Fälschung und Entstellung. Sie entstammt nicht wissenschaftlichen Forschungen, sondern den Bedürfnissen der Troika im Kampf um die Nachfolge Lenins und dem Bemühen um Ausschaltung Trotzkis, der Suche der Bürokratie nach einer Legitimation ihrer Herrschaft und der Rechtfertigung der eigentlich menschewistischen Etappentheorie des Stalinismus. Es ist kein Wunder, dass diese (Mach-)Werke über Scholastik nicht hinauskommen und gerade den Bruch Lenins mit den Schwächen der „altbolschewistischen Tradition“ relativieren.
Eine Lektüre der wichtigsten Schriften Lenins und Trotzkis im Jahr 1917 offenbart die Gemeinsamkeit der strategischen Ausrichtung, der Einschätzung des Charakters der Revolution, der Hauptaufgaben der ArbeiterInnenklasse und der revolutionären Partei. Mehr noch als jedes Textstudium beweist das der Verlauf der Revolution selbst.
Mit den Aprilthesen hatte Lenin programmatisch den „gordischen Knoten“ des „alten“ Bolschewismus zerschlagen. Im April 1917 gelang es ihm, einen größeren Teil der Führung von seiner Position zu überzeugen. Die Fusionsabsichten mit den Menschewiki waren vom Tisch. Die Petrograder Stadtkonferenz stimmte den von ihm verfassten Thesen zu. Der gesamtrussische Parteitag der Bolschewiki Ende April nahm in etlichen Punkten Lenins Position an. Aber der Widerstand der Parteirechten war beträchtlich und die Strömung um Kamenew stellte während der gesamten Russischen Revolution eine bedeutende Gruppierung dar, die immer wieder mit Positionen rechts von der Mehrheit aufwartete. Auch die Beschlüsse der Konferenz spiegelten teilweise ihre Stellung wider. So standen 5 von 9 gewählten Mitgliedern des Zentralkomitees dem rechten Flügel nahe.
Dennoch ist es bemerkenswert, wie rasch Lenin aus der Position der Minderheit die „Umbewaffnung“ der Partei durchsetzen konnte. Der entscheidende Grund war sicherlich, dass seine politische Konzeption in der realen Entwicklung und in den Stimmungen der Avantgarde der Klasse einen Nährboden fand, dass sie ihrem Streben nach einer Lösung der von der Revolution gestellten Fragen einen in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausdruck verlieh. Die praktischen Erfahrungen und die Logik ihres eigenen Handelns, nicht zuletzt die Errichtung der Räte, die Einführung von Formen der ArbeiterInnenkontrolle, die Doppelmacht und ihre inneren Widersprüche warfen Fragen auf, die die Aprilthesen verknüpfen und als Gesamtheit beantworten konnten. Sie waren eine Anleitung zum Handeln. Zum anderen zeigten sie auch jenen Bolschewiki, die sich schon politisch-konzeptionell nach links entwickelt hatten, jedoch noch nicht die Konzeption der „demokratischen Etappe“ zu überwinden vermochten, einen Ausweg, indem sie ihnen vor Augen führten, dass das alte Schema des Bolschewismus selbst gesprengt werden musste.
Der Gedanke konnte nur zur materiellen Wirklichkeit werden, Fuß fassen, weil auch die Wirklichkeit in diese Richtung drängte.
Dazu tat schließlich auch die reale Entwicklung das Ihre. Die Provisorische Regierung erwies sich als unfähig und unwillig, auch nur eines der Probleme des Landes zu lösen. Der imperialistische Krieg wurde fortgesetzt und neue Offensiven wurden vorbereitet. Die wirtschaftliche Desorganisation des Landes nahm weiter zu. Die soziale Frage in der Stadt und die Agrarfrage blieben ungelöst und wurden wie die demokratische Umwälzung auf die lange Bank geschoben. Die Kapitalistenklasse und die bürgerliche Regierung waren politisch bei den Massen diskreditiert.
Es gab im Grund schon Ende April/Anfang Mai 1917 nur drei Möglichkeiten, die Lage zu klären: Erstens: Die Bourgeoisie beendet mit diktatorischen Mitteln die Doppelmacht. Dazu war sie jedoch (noch) zu schwach und unentschlossen. Zweitens: Die Räte übernehmen allein die Macht. Dazu waren jedoch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht gewillt, obwohl sie von Seiten der Bourgeoisie daran nicht gehindert werden konnten. Die dritte Möglichkeit bestand in einer Fortsetzung der Kollaboration von Bourgeoisie, Generalität und kleinbürgerlichen „Sozialisten“ in einer anderen Form. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die als Parteien offiziell außerhalb der Regierung standen, entschlossen sich zum Eintritt – natürlich, „um die Revolution zu retten“.
„Trotz aller politischen Gefahren, die mit dem Eintritt der Sozialisten in die bürgerliche Regierung verbunden sind, hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Weigerung der revolutionären Sozialdemokratie, auf Grundlage eine festen demokratischen Plattform in bezug auf die Außen- und Innenpolitik aktiv an der Provisorischen Regierung teilzunehmen, die Revolution zu Scheitern verurteilt und wäre den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie zuwidergelaufen. Der Eintritt der Sozialisten in die Regierung auf Grundlage einer Plattform, die sich auf eine aktive Politik mit dem Ziel eines frühestmöglichen allgemeinen Friedensschlusses auf demokratischer Basis richtet, soll ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges gemäß der internationalen Demokratie sein.“ (68)
Die Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie war geboren. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Bauern und ArbeiterInnen weiter vertröstet. Die beginnenden und zunehmenden Landnahmen, also Enteignungen des Großgrundbesitzes, sollten unterbunden und nicht legalisiert werden, die Tendenzen zur ArbeiterInnenkontrolle sollten gestoppt und die Armee wieder kampffähig werden. So sollte die Konterrevolution zum „Wohl der Revolution“ wirken.
Die Bolschewiki kritisieren die Koalition von Beginn an scharf und ohne Rücksichtnahme auf ihre „sozialistischen Minister“. Sie tun dies allerdings aus der Position einer wachsenden Minderheit der ArbeiterInnenklasse und in den Räten. Lenin selbst hatte in den Aprilthesen darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Partei nicht darin bestehen könne, unmittelbar selbst die Macht zu ergreifen. Vielmehr müssten als nächster Schritt die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft über die Notwendigkeit der Machtergreifung aufgeklärt, darauf vorbereitet werden.
Die von der Regierung geplante erneute Offensive an der Front bildete dabei im Mai und Juni 1917 ein, wenn nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Mit dem Regierungseintritt hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf den ersten Blick ihre Macht gefestigt, andererseits aber auch ihre Stellung gegenüber den Massen weiter gefährdet, weil sie den Machtinstitutionen beider Seiten, der Doppelmacht, angehörten. Das lähmte einerseits die Sowjets und führte zur Verschlechterung der allgemeinen Lage – es führte den Massen aber auch vor Augen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution nicht weiterbrachten.
Genau hier setzten die Bolschewiki an. Sie entlarvten alle bürgerlichen, arbeiterfeindlichen, bauernfeindlichen und imperialistischen Maßnahmen der Regierungssozialisten.
Sie beließen es aber nicht dabei, sondern versuchten, die inneren Widersprüche der Politik von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Spitze zu treiben. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ diente dazu, die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen mit der Frage der Macht zu verknüpfen. Sie war aber auch direkt an die Mehrheit in den Räten, an Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gerichtet, die Doppelmacht zugunsten der Sowjets zu beenden. Eine solche Mehrheit der „kleinbürgerlichen Demokratie“ hätte die Räte keineswegs schon zu einer sozialistischen Politik gebracht, aber sie hätte bedeutet, dass sich diese Parteien auf radikalisierte (und sich weiter radikalisierende) Massen aus ArbeiterInnen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen hätten stützen müssen.
Die Bolschewiki hatten dabei keineswegs nur eine theoretische Kritik vor Augen. Sie wollten den Rätekongress im Juni 1917 selbst massiv unter Druck setzen.
„Während des ersten Allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den Allrussischen Kongress einwirken: ‚Ergreift die Macht‘, wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewiki zurufen: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalition und ergreift die Macht´. Uns war klar, dass ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die klein-bürgerlichen Führer zurück.“ (69)
Die Losungen „Alle Macht den Räten!“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“, „Raus mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ wurden nicht nur von den Bolschewiki popularisiert, sondern erwuchsen auch aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse, vor allem der ArbeiterInnenvorhut in Petersburg und anderen städtischen Zentren. Hinzu kam, dass sich auch größere Teile der Matrosen und der Garnison deutlich nach links entwickelten.
Wie Trotzki im Übergangsprogramm darlegt, war die Losung letztlich eine frühe Form der Anwendung der Losung der ArbeiterInnenregierung:
„Von April bis September 1917 forderten die Bolschewiki, die Sozial-Revolutionäre und die Menschewiki sollten mit der liberalen Bourgeoisie brechen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und den Sozial-Revolutionären, als den kleinbürgerlichen Vertretern der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Unterstützung gegen die Bourgeoisie; sie lehnten es jedoch kategorisch ab, sowohl in die Regierung der Menschewiki und Sozial-Revolutionäre einzutreten, als auch die politische Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wenn die Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre wirklich mit den (liberalen) Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen hätten, dann hätte die von ihnen geschaffene ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ nur die Errichtung der Diktatur des Proletariats beschleunigen und erleichtern können. Aber gerade aus diesem Grund stemmten sich ja die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit aller Gewalt gegen die Errichtung ihrer eigenen Regierung. Die Erfahrung Rußlands hat gezeigt, und die Erfahrung Spaniens und Frankreichs bestätigt es von neuem, daß selbst unter günstigsten Bedingungen die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) unfähig sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung, d. h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung, zu schaffen.
Trotzdem hatte die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Forderung der Bolschewiki: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure eigenen Hände! ‚ einen unschätzbaren erzieherischen Wert für die Massen. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so tragische Weise offenbar wurde, verurteilte sie endgültig in der Meinung des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (70)
Die Forderung an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, war eine Form der Einheitsfronttaktik, die die Bolschewiki systematisch immer wieder in der Russischen Revolution – nicht nur im Kampf gegen Kornilow – anwandten. Die Losung „Weg mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ bezog diese formal auf die Provisorische Regierung. Die Parole „Alle Macht den Räten“ war, solange diese eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Dominanz hatten, auch eine Parole der Einheitsfront.
Die Bolschewiki vermieden dabei im Großen und Ganzen zwei grundlegende Fehler: Opportunismus und Linksradikalismus, auch wenn sie davon keineswegs frei waren, aber sie vermochten, diese im Zaum zu halten. Zweifellos hatte der rechte Flügel mit Kamenew und anderen beredte Vertreter einer opportunistischen Entstellung der Einheitsfrontpolitik. Dieser Flügel strebte eine Regierung aller Sowjetparteien, also eine Koalition der Bolschewiki mit den Sozialchauvinisten an (und trat dafür kurzzeitig auch noch nach dem Oktoberaufstand ein). Die linksradikale Neigung, aufgrund der Dynamik der Avantgarde vorschnell auf die Machtergreifung zuzustreben, sollte sich in den kommenden Wochen jedoch auch bemerkbar machen.
Die Koalition aus Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Menschewiki war bald von denselben Problemen gebeutelt wie ihre Vorgängerin. Auch sie konnte keine grundlegende Frage lösen, setzte aber den Krieg fort, um endlich das Schicksal an der Front wenden. Die Bolschewiki planten für den Sowjetkongress eine bewaffnete Demonstration, welche eine Einstellung der Planung für eine Offensive gegen Österreich-Ungarn und die Bildung einer Räte-Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki (nicht der Bolschewiki) forderte. Diese wurde verboten und die Partei sah sich gezwungen, die Demonstration abzublasen. Um dem Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten in Petersburg entgegenzukommen, setzte die Sowjetführung selbst für den 18. Juni eine „Einheitsdemonstration“ an. Diese wurde entgegen der Absicht ihrer Initiatoren zu einem Zeichen der Kräfteverschiebung in der Hauptstadt.
„Am vorgesehenen Tag mussten die gemäßigt-sozialistischen Sowjetführer mit ansehen, wie die Arbeiter und Soldaten aus nahezu sämtlichen Petrograder Fabriken und Militärregimentern, mehr als 400.000 an der Zahl, in langen Reihen an ihnen vorbeimarschierten und dabei purpurrote Transparente in die Luft hielten: ‚Nieder mit den zehn Minister -Kapitalisten!“, „Nieder mit der Politik der Offensive!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Im Meer der bolschewistischen Banner und Plakate, darin stimmen alle Zeitzeugen überein, waren die offiziellen Parolen des Kongresses nur vereinzelt zu sehen.“ (71)
Dies entsprach auch einem rasanten Wachstum der Bolschewistischen Partei. So hatte sie in Petersburg, dem Zentrum der Revolution, im Februar gerade 2000 Mitglieder, Ende April 16.000 und Ende Juni 32.000. Ihre Mehrzahl war proletarisch, darüber hinaus gewann sie größeren Einfluss unter den Matrosen und begann, sich bei den Soldaten zu verankern.
Diese unerfahrenen, radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich vieler neu gewonnener Parteimitglieder, drängten aufgrund ihrer Erfolge darauf, die Massenmobilisierung zur Machteroberung, zum Aufstand zuzuspitzen. Die Sache wurde durch eine weitere Regierungskrise verschärft.
Am 3. und 4. Juli demonstrierten bewaffnete Matrosen, ArbeiterInnen und Soldaten. Hinter ihnen stand ein großer Teil der Avantgarde der Revolution in Petrograd und auch der Baltischen Flotte. Die vorwärts drängenden Massen wollten die Räte zur Macht zwingen, endlich ihre brennenden Fragen lösen. Zweifellos mag es auch Provokateure, Abenteurer usw. gegeben haben, die eine frühzeitige Machtprobe – und deren Niederlage – wollten. Allein, das könnte diese Entwicklung nicht erklären.
Die Triebkräfte, die zur Revolution geführt hatten, führten auch dazu, dass ihre entschiedensten Trägerin, eine radikalisierte, aber politisch wenig erfahrene Avantgarde, nicht länger warten wollte. Vertröstet war sie in den letzten Monaten von der Regierung und den Sowjetführungen schon genug geworden.
Die Führung der Bolschewistischen Partei um Lenin wollte eine solche Machtprobe nicht, sondern hatte ihre Parteikader im Juni vor einer vorzeitigen Zuspitzung gewarnt, weil die Kräfteverhältnisse im Land weitaus ungünstiger waren als in Petrograd. Die Bauernschaft war noch von den Sozialrevolutionären dominiert, die Armee auch. Hinzu kam, dass eine bolschewistisch geführte Machtergreifung im Land als Putsch gegen die Räte wahrgenommen worden wäre.
Der Vorwurf an die Bolschewiki, dass sie einen Umsturz geplant hätten, ist, wie die Hetze gegen die Partei und ihre Führung, eine Konstruktion, die faktisch nicht standhält.
Der Druck der Avantgarde machte sich jedoch auch unter den Bolschewiki, z. B. unter den Führern der Wyborger Parteisektion und der Militärsektion bemerkbar, die zum entschiedenen Handeln drängten bzw. durch ihre eigene Basis gedrängt wurden. Das führte auch dazu, dass diese durchaus eigenmächtig agierten und die Partei mit zum verfrühten Aufstand „schieben“ wollten.
Schließlich entschieden die Bolschewiki nach der Manifestation vom 3. Juli, dass sie die Demonstrationen am 4. Juli in geordnete Bahnen lenken und so einen organisierten Rückzug durchführen wollten. Dies war jedoch nur bedingt möglich, weil die Aktionen schon über eine reine Demonstration hinausgegangen waren und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Gegen Ende des 4. Juli gewannen die loyal zur Regierung und Sowjetführung stehenden Armeeeinheiten die Oberhand.
Die Linie der Bolschewiki, einer Machtprobe, so gut es noch ging, auszuweichen, war zweifellos korrekt. Die Partei hätte, selbst wenn der Sieg in Petersburg errungen worden wäre, die Stadt nicht halten können. Die „Vorbereitungsarbeit“, die Gewinnung der Armee und des Dorfes, war noch nicht abgeschlossen.
Bei aller Militanz gab es aber auch eine innere Widersprüchlichkeit in der Massenbewegung selbst, auf die die radikale Avantgarde keine Antwort hatte, die ihr z. T. in den Julitagen erst vor Augen geführt wurde. Die Demonstrationen und die bewaffneten Kontingente waren eine Fortsetzung der Aktionen der Zeit vor Juni und liefen unter denselben Zielsetzungen (raus mit den Kapitalisten-Ministern, brecht mit der Bourgeoisie, alle Macht den Sowjets). Sie richteten sich an jene Sowjetführer und „Sozialisten“- Minister, die selbst nicht die Macht ergreifen wollten. Auf dieses Problem – selbst ein Resultat der Doppelmacht unter kleinbürgerlich-demokratischer Sowjetführung – hatten die DemonstrantInnen und auch die Avantgarde keine Antwort. Dass sich diese FührerInnen nicht zur Machtergreifung führen ließen, paralysierte und zersplitterte eine Bewegung, die zwar massenhaft und bewaffnet war, aber auch mit einem undurchführbaren Ziel in die Konfrontation ging. Neben der Lage im Land war es auch diese innere Unklarheit, die zeigt, dass ein Kampf um die Macht verfrüht gewesen wäre.
„Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf, fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, daß es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.“ (72)
In diesem Sinn hatten die Julitage auch einen „erzieherischen“ Wert. Aber sie hätten zu einem weit schwereren Rückschlag werden können, wenn sich die Lage der Regierung nach dem Zusammenbruch der Offensive nicht selbst bald wieder verschlechtert hätte. Für den Juli und großen Teil des August musste die Bolschewistische Partei ihre Strukturen, ihre Presse wieder neu aufbauen, ihr Innenleben war sehr geschwächt.
Unmittelbar nach der Niederlage der Juli-Aktionen entfachten Reaktion und Regierung Verleumdungs- und Hetzkampagnen gegen die Bolschewiki. Ihnen wurde die Verantwortung für die Julitage und die Planung eines Aufstandes in die Schuhe geschoben. Vor allem aber wurde ab dem 5. Juli eine konzentrierte Hetze gegen Lenin und weitere Parteiführer eröffnet. Die rechte Presse veröffentliche fabrizierte Dokumente und andere angebliche „Beweise“, dass jene gekaufte Agenten des deutschen Kaiserreichs wären. Lenin, Sinowjew und andere Parteiführer mussten in den Untergrund, hunderte Kader wurden festgesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit RevolutionärInnen.
Die konterrevolutionäre Agitation, die Niederlage schüchterten die ArbeiterInnen und Soldaten ein. Die Bolschewiki verloren an Anhang und Rückhalt, wie umgekehrt die Zuversicht der Reaktion stieg.
Der Schlag gegen die Bolschewiki ermutigte die offene Konterrevolution. Der Schlag gegen die konsequenten RevolutionärInnen sollte und musste, vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet, auch gegen die Räte geführt werden. Verhaftungen von radikalen ArbeiterInnen und Entwaffnungen der Milizen, Einschränkung der Soldatenrechte und Abschaffung des Kommissarswesens, Wiedereinführung der Todesstrafe, Niederschlagung der Bauernrevolten und, als Krönung all dessen, die nächste militärische Offensive bildeten das Programm der Koalitionsregierung, das von der Sowjetmehrheit freudig oder protestierend akzeptiert wurde.
Für die Konterrevolution ging es darum, das Kräfteverhältnis nicht nur zu verschieben, sondern die Doppelmacht selbst zu beseitigen. Für die Kapitalistenklasse, die Kadettenpartei, den Generalstab war klar geworden, dass eine „demokratische“ Entwicklung untragbar geworden war. Ordnung musste geschaffen werden, und dies erforderte eine harte Hand, die Konzentration der Macht.
Die innere Logik der Koalitionsregierung – einer Form dessen, was später als „Volksfront“ bezeichnet wurde – drängte nicht nur zur Verschiebung der Macht nach rechts, sie drängte zur Einführung eines bonapartistischen, diktatorischen Regimes. Im Juli und August nahm das politisch die Form zunehmender Repression an. Die Ernennung Kornilows zum Oberkommandierenden der Armee, permanente Regierungskrisen und ein Wettlauf darum, wer der Bonaparte Russlands werden sollte, kamen hinzu.
Die Armee und die Bourgeoisie hatten dazu Kornilow ausersehen – Kerenski und seine engeren Berater waren in diese Machenschaften verstrickt, umgekehrt wollte der Regierungschef aber selbst die Position des „Retters des Vaterlandes“ einnehmen.
Die Alternative „Diktatur des Proletariats oder Diktatur des Kapitals“ spitzte sich im Sommer 1917 zu, wobei der erste Schlag von der Konterrevolution kam. Der Putsch Kornilows zeigt deutlich, dass unter den konkreten Bedingungen Russlands eine demokratische Stabilisierung von oben vollkommen ausgeschlossen war. Hätte die Niederlage Kornilows nicht zum Oktober geführt, hätten die Bolschewiki nicht den Weg des Aufstandes beschritten und durchgeführt, so hätte die Entwicklung nur zur offenen staatsterroristischen Diktatur führen können.
Der Sommer 1917 war ein günstiger Moment für die Konterrevolution, insofern die Bolschewiki geschwächt, die ArbeiterInnenklasse und die Soldaten im Zentrum der Revolution desorientiert, die herrschenden Kreise moralisch gestärkt waren.
Die Misserfolge der Regierung, vor allem die desaströse „Offensive“, unterminierten jedoch wieder rasch deren eigene Position. Die ArbeiterInnen und Soldaten leisteten, wenn auch anfänglich hinhaltenden, Widerstand gegen reaktionäre Maßnahmen wie die Entwaffnung. Das Handeln der Regierung und die Katastrophe an der Front erschütterten die letzten Reste der „Vertrauensseligkeit“ der Massen. Die Lügen über den Bolschewismus griffen immer weniger, nicht nur, weil die Bolschewiki versuchten, so gut sie konnten, gegenzuhalten, sondern weil die Lügen von jenen kamen, die täglich und immer offensichtlicher die Massen belogen und betrogen.
Hinzu kam als weiteres wesentliches Moment die Agrarrevolution, die Welle „wilder“ Enteignungen. Die Regierungskoalition, vor allem die Spitze der Sozialrevolutionäre, widersetzte sich diesen, obwohl sie die „Bauernpartei“ war. Sie unterminierte selbst ihre Basis und spaltete sich. Nur die Bolschewiki unterstützten ohne Wenn und Aber die Revolution um Land, was ihre eigene Verankerung ausweitete, vor allem aber die linken Sozialrevolutionäre auf die Seite der proletarischen Revolution zog.
Diese Prozesse verdeutlichen, dass sich die Machtfrage nach dem Juli zuspitzte und innerhalb weniger Monate zugunsten von Kapital oder ArbeiterInnenklasse gelöst werden musste.
Zugleich zeigen die Monate vom Juli bis Oktober auch, dass die Entscheidungsfragen der Revolution der „Politik der Mitte“, der Politik der Zusammenarbeit von reformistischen und kleinbürgerlichen Kräften mit dem Kapital selbst, den Boden entzogen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hatten über Monate die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, kontrollierten die Räte und über die Soldatenräte auch die bewaffneten Kräfte. Ihre scheinbare Machtfülle entpuppte sich jedoch als Ohnmacht, weil sie die Macht nicht ergreifen, sondern einer anderen Klasse überlassen wollten.
All das sind die Gründe, warum sich die Bolschewistische Partei von den Schlägen der Julitage relativ rasch wieder erholen konnte.
Ende Juli hielt die Partei einen „Vereinigungsparteitag“ ab, an dem Trotzki und die Meschrajonzy den Bolschewiki beitraten. Formal war es eine Vereinigung der beiden Organisationen, die nur mit Trotzkis Gruppierung vollzogen werden konnte, jedoch eigentlich auch an andere internationalistische Kräfte, als deklarierte GegnerInnen der Vaterlandsverteidigung, gerichtet war, insbesondere auch an Martows „Menschewiki-Internationalisten“.
Im August begann ein Wiederaufstieg der Bolschewiki auch zahlenmäßig. Bis zum Oktober sollte die Partei auf rund 400.000 Mitglieder anwachsen. Ihr Einfluss in den Räten stieg, bei den Wahlen zu den Stadtparlamenten (z. B. in Petersburg) wuchsen ihre Stimmenzahl und Anteile erheblich. Menschewiki und Sozialrevolutionäre beklagten Übertritte. Die Bolschewiki gewannen schon vor der Niederlage des Kornilow-Putsches und trotz der Illegalität und Gefangennahme zentraler Führer der Partei an Einfluss und politischer Stärke.
In der Bolschewistischen Partei erhob sich die Frage, welche Bedeutung die Niederlage für den weiteren Verlauf der Revolution habe. Lenin kommt hier zu entschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Doppelmacht und damit auch der Räte, indem er die Situation vor den Julitagen mit der von ihnen geschaffenen neuen Lage vergleicht.
„Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im Staate die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘, die materiell wie formal den unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte. (…)
Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht.“ (73)
Nun sei die Doppelmacht beendet. „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ (74)
Die Räte seien praktisch zu ihren Erfüllungsgehilfen geworden. Eine „friedliche Entwicklung“ der Revolution sei nicht mehr möglich. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ würde zum Hohn werden, stattdessen müsse der nächste Anlauf der Revolution neue Organe schaffen: „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie.“ (75)
Bevor wir zur Frage der Sowjets übergehen, müssen wir noch kurz die Frage streifen, in welchem Sinne Lenin davon spricht, dass vor dem Juli (und dann wieder für eine kurze Phase nach dem Kornilow-Putsch) eine „friedliche Entwicklung der Revolution möglich wäre.“ Die erste Voraussetzung war, dass die Februarrevolution schon einen weiten Weg gegangen war, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerbrechen (wenn auch nicht vollständig), die Armee zu paralysieren, Soldatenräte zu schaffen, zu beginnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und Organe zu bilden, die ihrer Form nach solche der Diktatur des Proletariats waren:
„Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden worden, wäre der Kritik der aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehenden Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können; die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Verbindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoisie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht verändert und hätte es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluß mit ihnen.“ (76)
Lenin hat also keinesfalls eine versöhnlerische Perspektive im Auge, wenn er von einer „friedlichen Entwicklung“ spricht. Die Losung „Alle Macht den Räten“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“ hat den Charakter einer Übergangsforderung. Lenin forderte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, selbst die Macht zu übernehmen und eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung zu bilden. Diese wäre noch immer eine bürgerliche Regierung, weil sie auf dem Boden kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stehen würde. Insofern wäre ihr Bruch mit der Bourgeoisie notwendig immer halbherzig, an einem entscheidenden Punkt nicht vollzogen. Durch systematische Aufklärung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik könnten jedoch die Massen lernen, dass sie ihre eigene Vertrauensseligkeit überwinden und auch mit den Halbheiten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre brechen müssten – und sie hätten in den Räten und mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern schon einen Tatbestand geschaffen, der die eigentliche Machtergreifung auch ermöglichen könne.
Allein durch den Bruch mit den Kapitalisten-Ministern, die Erklärung der Räte als alleinige Macht wäre letztlich auch die Doppelmacht noch nicht überwunden, solange die Räte eine menschewistisch – sozialrevolutionäre Mehrheit hätten und eine dementsprechende Politik verfolgten. Sie würde jedoch nicht mehr die Form zweier entgegengesetzter Institutionen annehmen, sondern als Kampf der Programme verschiedener Klassen und Parteien im Rahmen der Sowjetdemokratie, der Räteform ausgefochten werden. Ein solcher Kampf könnte natürlich auch kein Dauerzustand sein, sondern müsste gerade in einer revolutionären Krise rasch zugunsten der einen oder anderen Klasse gelöst werden – sprich entweder, indem die Doppelmacht wirklich zugunsten des Proletariats und der Bauernschaft überwunden wird, oder indem es zu deren Degeneration und Inkorporation in das bürgerliche System kommt, die Macht also wieder der Bourgeoisie „voll“ überantwortet wird.
Auch wenn sich Lenin in der Einschätzung im Juli geirrt hatte, so zeigen seine Analysen, dass ihm, ähnlich wie Marx, ein Fetisch der Sowjetform fernlag. Dass auch Räte von der Konterrevolution befriedet und inkorporiert werden können, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Betriebsräte in Deutschland.
Die Thesen Lenins bildeten einen zentralen Diskussionsgegenstand der „Vereinigungskonferenz“ Ende Juli. Er selbst konnte ebenso wenig wie Trotzki und etliche andere ParteiführerInnen teilnehmen. Das Bild, das sich auf der Parteikonferenz präsentiert, zeigt in jedem Fall einen Reifungsprozess der Bolschewiki. (77)
Bubnow, Sokolnikow, Stalin, Swerdlow und andere vertreten Lenins Position, wenn auch mit Akzentuierungen. Die Stärke ihrer Position besteht sicher darin, dass sie den Kurs auf die Machtergreifung betonen. Ihnen wird entgegengehalten, dass sie das Kind mit dem Bad ausschütten würden. Etliche RednerInnen verweisen darauf, dass die Räte selbst noch nicht vollständig ins Lager der Konterrevolution übergegangen seien, dass sich eine Kräfteverschiebung abzuzeichnen beginne. Die Absetzung von den Räten als zentralem Arbeitsfeld würde die Gefahr mit sich bringen, sich von den Soldaten und Bauern zu isolieren (weniger von ArbeiterInnen, weil es dort z. B. in Form der Fabrikkomitees potentiell andere Formen für eine alternative Macht geben könnte). Einige Redner wie Jurenew, ein Mitarbeiter Trotzkis, stellen auch die Frage in den Raum, warum die Losung „Alle Macht den Räten“ an das friedliche Stadium der Revolution gebunden sein müsse.
Der Kongress überarbeitete die von Stalin im Auftrag Lenins eingebrachten Thesen gründlich. Die Losung „Alle Macht den Räten!“ wird bis Ende August, also bis zum Kampf gegen den Kornilow-Putsch praktisch fallengelassen und in der Resolution durch die Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ ersetzt. Gleichzeitig solle die Partei die führende Rolle im Kampf gegen die Konterrevolution einnehmen und dazu weiter in den Räten als zentralem Arbeitsfeld tätig sein und auch die Einheitsfronttaktik gegenüber anderen Sowjetparteien anwenden.
Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten.
Der drohende Kornilow-Putsch zeigte aber auch, dass Lenin mit der Einschätzung falsch lag, dass die Räte nicht erneuert oder wiederbelebt werden könnten. Im Gegenteil, der Kampf erfüllte sie mit neuer Energie – und veränderte sie auch:
„Die Sowjet-Organisationen zeigten überall, an der Front wie im Hinterland, ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den Kornilow’schen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt Kornilow auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution.“ (78)
Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch ist das berühmt gewordene Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik. In „An das Zentralkomitee der SDAPR“ (79) skizziert Lenin sehr anschaulich, wie die Bolschewiki gegen Kornilow kämpfen sollten.
Dabei richtet er sich gegen eine rechte Abweichung von der Einheitsfronttaktik, wie sie von Teilen der Bolschewiki wie Wolodarski vertreten wurde. Diese schlugen einen Block mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Unterstützung der Provisorischen Regierung vor. Die von Kamenew stark beeinflusste Sowjetfraktion steuerte in diese opportunistische Richtung. Zweifellos zeigt sich daran das Bestreben des rechten Parteiflügels, eine Einheitsfront gegen die Konterrevolution als Schritt zur Bildung einer Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu betrachten.
Der linke Flügel der Partei andererseits wies durchaus ultralinke Tendenzen auf, selbst bis hin zur Ablehnung jeder Form der praktischen Zusammenarbeit mit den Sowjetorganen, die von deren Mehrheit zu Verteidigungszwecken eingerichtet worden waren. Diese Haltung stieß aber angesichts der realen Entwicklung rasch an ihre Grenzen und war relativ leicht zu überwinden. Die rechte Abweichung stellte die größere politische Gefahr dar.
Lenin kritisiert sie scharf, weil es eine Aufweichung in der Frage der Landesverteidigung, einen Übergang zum Sozialpatriotismus mit sich bringen würde und damit eine Absage an den Internationalismus. Er führt die notwendige Taktik dabei folgendermaßen aus:
„Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik‘ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.
Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche.“ (80)
Und weiter:
„Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, aber jetzt ist das die Hauptsache geworden; darin besteht die Änderung.“ (81)
Lenin verdeutlicht hier, wie die Einheitsfrontpolitik in eine Strategie zur Machtergreifung eingebettet ist. Der Opportunismus des rechten Flügels der Bolschewiki in der Frage hängt umgekehrt eng mit deren Opportunismus in der Regierungsfrage zusammen.
Lenin führt im selben Brief auch noch aus, wie er sich den aktuellen Kampf gegen Kerenski vorstellt.
„Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen‘ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf.“ (82)
Im Gegensatz zu vielen „radikalen Linken“, denen bis heute die Einheitsfronttaktik ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist, betrachtet Lenin die Forderungen an Kerenski, an die menschewistisch-sozialrevolutionäre Regierung und Sowjetführung als Mittel zum Kampf gegen diese. Setzen sie die Forderungen um, wird das die Dynamik der Bewegung steigern. Widersetzen sie sich, verschleppen sie diese usw., entlarvt das die Schwäche, den Unwillen und den konterrevolutionären Charakter Kerenskis. Lenin hält eine solche Taktik für notwendig, für eine „Hauptsache“, um so den schon vor sich gehenden Ablösungsprozess der Massen von den kleinbürgerlichen Kräften zu beschleunigen. Die Revolution wie jede revolutionäre Politik braucht – gerade weil sie auch ein Wettlauf gegen die Zeit ist – eine aktive, vorwärtstreibende Politik und kein passives Warten, bis sich die falsche Führung ohnedies diskreditiert hat.
Die Forderungen an die Führung müssen schließlich mit solchen an die Basis, an die Massen kombiniert werden.
„Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch‘ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken‘ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.“ (83)
Diese Politik, wie sie in der Taktik der Partei und ihrer Propaganda zum Ausdruck kommt, hat den Weg zur Machtergreifung beschleunigt, ja in gewisser Weise überhaupt erst möglich gemacht.
Die Niederlage Kornilows schafft in Lenins Augen noch einmal eine Situation, in der eine „friedliche Machtübernahme“ möglich werden könnte. In „Über Kompromisse“ (84) bietet er den Menschewiki und Sozialrevolutionären an, auf einen gewaltsamen Sturz zu verzichten, wenn sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ verwirklichen, indem sie „eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki“ (85) bilden. Diese Bedingung präzisiert Lenin noch dahingehend, dass die Regierung nicht nur einzig und allein den Sowjets verantwortlich sein, sondern auch die ganze örtliche Macht auf die Sowjets übergehen müsse.
Im Gegenzug würden die Bolschewiki auf die Eroberung der Macht mit „revolutionären Mitteln“ verzichten, wenn ihnen volle Propaganda und Agitationsfreiheit zugesichert würde. Sie würden für ihre Politik und für die Machtübernahme innerhalb der Sowjetdemokratie kämpfen. Die Möglichkeit für die Verwirklichung eines solchen Kompromisses schätzt Lenin schon beim Verfassen des Schreibens sehr gering ein und hält sie schon wenige Tage später für unmöglich, sie zeigt aber seine taktische Flexibilität, die Form des Kampfes um die Macht sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen.
Die Schrift selbst stieß den linksradikalen Flügel der Partei durchaus vor den Kopf. Die radikalen UnterstützerInnen Lenins fürchteten eine Rechtsentwicklung. Umgekehrt versuchte der rechte Flügel „Über Kompromisse“ für seine Zwecke zu missbrauchen. Ihm schwebte nämlich eine strategische, langfristige Allianz aller Sowjetparteien vor. Für Kamenew war letztlich Russland noch nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Dieser menschewistische Standpunkt wiederum bildete eine organische Basis für den Opportunismus. Lenin, Trotzki und andere Parteiführer hingegen sahen selbst in „Über Kompromisse“ eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Räteregierung nur als ein Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats, zu einer Sowjetregierung unter bolschewistischer Führung, an.
Die Bedingungen für den „Kompromiss“ wurden durch die Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki selbst zunichte gemacht. Deren Spitzen dachten nicht daran, eine Kursänderung vorzunehmen. Nach dem Kornilow-Putsch sollte die Regierung umgebildet werden, Kerenski weiter an ihrer Spitze bleiben, das Bürgertum sollte weiter vertreten sein, wenn auch ohne Kadetten, die durch ihre Kollaboration mit dem Putschversuch zu diskreditiert schienen. Die „kleinbürgerliche Demokratie“ versuchte, die Koalition mit der Bourgeoisie um jeden Preis fortzusetzen – notfalls auch nur mit dem „Schatten der Bourgeoisie“.
Zugleich vollzogen sich entscheidende Veränderungen, die die Machtübernahme unter Führung der Bolschewiki und die Notwendigkeit des Aufstandes auf die Tagesordnung setzten.
Dazu gehörte erstens eine immer größere Linksentwicklung in den Räten. Anfang September ging die Mehrheit in Petersburg an die Bolschewiki über, im Laufe des Monats vollzog sich diese Entwicklung in vielen anderen Städten. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse drängte auf Entscheidung und radikalisierte sich. Auch die Stimmung in der Garnison in Petersburg wie an der Front ging mehr und mehr nach links.
Die Partei der Sozialrevolutionäre spaltete sich, der linke Flügel näherte sich den Bolschewiki an. Das spiegelte auch die Stimmung in der Armee, vor allem aber in der Bauernschaft und die sich ausweitende Agrarrevolution wider.
Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution immer als Bündnis zweier Klassen, von ArbeiterInnen und Bauern konzipiert. Anders als 1905 jedoch betonten sie – ähnlich wie Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution – die Notwendigkeit, sich der unterschiedlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnenschaft und Bauern bewusst zu sein, weil in der proletarischen Revolution diese – selbst im Falle eines Bündnisses – von Beginn an auch zur Geltung kommen müssten. Das geht auch damit einher, dass es eine stärkere Betonung auf die Organisierung des Landproletariats, der halb-proletarischen Schichten, wie der Klassendifferenzierung in der Bauernschaft gab. (86) Für das Landproletariat und die halb-proletarischen Schichten sollen eigene Organisationsformen, Verbände geschaffen werden, um auf dem Land eine hegemoniale Stellung und ein enges Bündnis mit der Masse der Kleinbauern zu erwirken.
Die Unterstützung der Landrevolution im Sommer 1917 war ein entscheidendes Mittel, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen – zumal sich die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen die Enteignung des Gutsbesitzes von unten stellten.
Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet auch die nationale Frage, die in etlichen Teilen Russlands eng mit der Landfrage verbunden war. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – einschließlich ihres Rechtes auf Lostrennung – verteidigte.
Schließlich hat sich die Lage auch dadurch geändert, dass die Zerrüttung durch den Krieg, die instabilen Verhältnisse usw. die Gefahr einer allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Katastrophe (Blutzoll an der Front, Hunger, Stillstand der Betriebe, weiterer Zerfall des gesellschaftlichen Austausches) hervorbrachten.
Ende September 1917 bringt Lenin dieses Problem deutlich auf den Punkt in „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (87), das ein Aktionsprogramm zur Abwendung des Niedergangs präsentiert. Lenin setzt sich darin mit allen Grundfragen der Revolution auseinander und propagiert eine Reihe von Übergangsforderungen, die allesamt die Machtübernahme, die Beendigung der Doppelmacht erfordern. Nur so könne die Katastrophe abgewendet werden
„Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt werden und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierungsmehrheit vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.
Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, …“ (88)
In einer Situation des Zerfalls des Landes, der Bauernrevolution, nationaler Unruhen, des weiteren Verlustes des Einflusses von Sozialrevolutionären und Menschewiki, der Diskreditierung der Bourgeoisie vsuchte die Konterrevolution verzweifelt nach einer neuen Basis für ihre Macht. Dies wurde zusätzlich dringlicher, als die Mehrheit in den Räten immer häufiger nach links, zu den Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären überging.
Beratungen wie die „Demokratische Staatskonferenz“, die aus VertreterInnen aller Klassen, von Räten, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Wirtschaftsvertretern, Militärs, bürgerlichen Wissenschaftern usw. bestand und Ende September tagte, sollten den Rahmen für eine „Verständigung“ und eine neue Koalition bilden. Die Anhänger einer Koalitionsregierung, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hofften, so eine neue Grundlage für eine Regierung der Klassenzusammenarbeit zu finden, während die Kapitalistenklasse und die Stäbe des russischen Imperialismus auf einen Diktator als letzte Rettung hofften und sogar erwogen, Petrograd dem deutschen Imperialismus zu überlassen, um die Revolution zu vernichten. Diese Mischung aus Reaktion und Verzweiflung äußerte sich in einer instabilen Regierung und drängte zu einem weiteren Versuch, eine bonapartistische Herrschaftsform zu etablieren.
Die Entwicklung stellte auch die Bolschewiki vor die Frage, wie auf die geänderte Lage zu reagieren sei. Von Beginn bis Mitte September hatte Lenin die Möglichkeit einer „friedlichen Entwicklung“ der Revolution, eines Kompromisses mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki als Schritt zu einer Machtergreifung ins Auge gefasst, bald jedoch verworfen. Der rechte Parteiflügel orientierte sich hingegen auf eine solche Entwicklung, auf eine Allianz der „Sowjetparteien“.
Dessen Stärke verdeutlicht die Abstimmung über die Frage des Austritts aus der Staatskonferenz und des Boykotts des „Vorparlaments“, das der sog. Staatskonferenz folgen sollte.
Kamenew und seine Anhänger waren für einen Verbleib, um die Koalitionspolitik zu denunzieren und ein Bündnis mit den schwankenden Elementen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu bilden und so den Grundstein für einen „sozialistischen Block“ am Sowjetkongress zu schaffen.
Der linke Flügel um Trotzki trat für einen demonstrativen Auszug aus der Staatskonferenz ein und für den Boykott des Vorparlaments, um damit den Bruch mit den Versöhnlergruppen zu unterstreichen und mit der Agitation für die Machtübernahme der Sowjets durch alle revolutionären Gruppierungen zu verbinden.
Beide Strömungen waren für die Einberufung eines Sowjetkongresses – allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Zielen. Das Zentralkomitee stimmte zwar mit 9:8 Stimmen für den Boykott des Vorparlaments, entschied aber auch, die endgültige Beschlussfassung einer gemeinsamen Sitzung der Führung und der Delegierten zur Demokratischen Konferenz zu überlassen. Dort unterlagen die Linken mit 50:77 Stimmen. Der Verlauf des „Vorparlaments“ hatte zwar eine korrigierende Wirkung und führte zu einem öffentlichkeitswirksamen Auszug, dem das gesamte Zentralkomitee außer Kamenew zustimmte (89), aber trotzdem zeigten sich hier tiefe, strategische Differenzen.
Auf der anderen Seite hatte Lenin schon zuvor entschieden auf eine Neuorientierung der Partei, auf den Kurs in Richtung Aufstand gedrängt. Er betonte dabei zu Recht, dass die Frage des Aufstandes praktisch gestellt sei. „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ (90)
Er betont die Dringlichkeit der Aufgabe, weil eine Preisgabe Petrograds drohe, der Sowjetkongress selbst verschoben oder sabotiert werden könne. Die Bolschewiki, so Lenin, hätten die Pflicht, die Macht durch einen Aufstand in Petrograd und Moskau zu errichten und dürften dabei auch nicht auf den Sowjetkongress oder eine formelle Mehrheit warten.
Lenins entschiedener Kurs auf einen raschen Aufstand verschreckte nicht nur die Partei-Rechte, auch viele Aufstandsbefürworter waren im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass er die politische Vorbereitung des Aufstandes unterschätze, und traten dafür ein, diesen unter Ausnutzung der Sowjetorgane durchzuführen.
Lenin umgekehrt befürchtete, angesichts der Stärke und Hinhaltepolitik des rechten Flügels, dass der Aufstand verschleppt würde. Er trat daher sehr entschieden für die Anhänger des Boykotts des Vorparlaments ein. So notiert er am 23. September:
„Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!
Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. (…)
Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.
Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muß sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen.“ (91)
Aus diesen Zeilen wird deutlich, dass er den Fehler in der Boykottfrage im Kontext der grundsätzlichen Ausrichtung betrachtete, als Zeichen für die Ablehnung des Kurses der Machtergreifung durch den rechten Flügel und die „,parlamentarischen‘ Spitzen der Partei“.
Sein Drängen auf den Aufstand trägt ohne Zweifel maßgeblich dazu bei, dass die Partei den Kurs auf den Oktober einschlägt. Lenin wendet sich dabei auch an „untere“ Parteifunktionäre, kämpferische Regionalkomitees, um das „lasche“ Zentralkomitee unter Druck zu setzen. An bestimmten Punkten droht er sogar mit einem Austritt aus der Parteiführung, um nicht an deren innere Loyalität gebunden zu sein, und sich direkt an die Parteibasis wenden zu können.
Bei der historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober tragen die Aufstandsbefürworter einen politischen Sieg davon. Die Revolution Lenins wird mit 10 zu 2 (Kamenew, Sinowjew) Stimmen angenommen.
„Das Zentralkomitee stellt fest, dass sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarischen Partei – daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) – daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.“ (92)
In ihrer schriftlichen Begründung (93) zeigen Kamenew und Sinowjew, wie tief ihre Differenzen sind, wie weit sie sich von den Aprilthesen und dem Kurs auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht entfernt haben. Nachdem sie darlegen, dass sie einen Aufstand für abenteuerlich halten, weil er zum Ruin der Partei und der Revolution führen würde, erklären sie, dass ihre zentrale Zielsetzung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sei, die von der Bourgeoisie immer weniger blockiert werden könne. Die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie würden von links unter Druck kommen und gezwungen sein, eine Allianz mit dem Proletariat gegen die Kadetten einzugehen. Das bilde nicht nur die Basis für eine Allianz mit diesen Parteien, sondern auch für die Kombination der Konstituierenden Versammlung mit den Sowjets.
„Die verfassunggebende Versammlung kann natürlich nicht aus sich heraus das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändern. Aber sie wird verhindern, dass dieses Verhältnis weiter verschleiert wird. Es gibt kein Loswerden der Sowjets, die im Leben Wurzeln geschlagen haben. Die Räte üben schon jetzt vielerorts praktisch die Macht aus.
Die Konstituierende Versammlung kann sich in ihrer revolutionären Arbeit auch nur auf Sowjets stützen. Konstituierende Versammlung plus Sowjets – das ist die Kombination von staatlichen Institutionen, auf die wir uns zubewegen. Auf dieser Grundlage erhält unsere Partei eine riesige Chance auf einen wirklichen Sieg.“ (94)
Diese Stellungnahme der Partei-Rechten offenbart, dass sie noch immer der „demokratischen Revolution“ von 1905 verhaftet waren. Die Doppelmacht solle nicht zugunsten des Proletariats und der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft gelöst, sondern in neuer Form weitergelebt werden, als „Mischung“ zwischen bürgerlichen und proletarischen Organen. Dieses Echo der historisch überholten Position des „alten“ Bolschewismus ist zugleich ein Vorbote des Rechtszentrismus der USPD, des hoffnungslosen Versuchs, Formen des bürgerlichen und proletarischen Staates zu ergänzen. Lenin denunziert die „Verfassungsillusionen“ Kamenews und Sinowjews entschieden. Ihre Perspektiven hätten nicht der Revolution, sondern der Konterrevolution zugearbeitet.
Der rechte Flügel der Partei hatte nicht vor, sich dem Beschluss für den Aufstand zu fügen und er war sicher auch einflussreicher, als das Stimmverhältnis am 10. Oktober nahelegt. Teile hofften, dass der Entscheidung keine praktischen und organisatorischen Maßnahmen folgen würden. Je konkreter jedoch die Aufstandsvorbereitungen und die praktischen Schritte wurden, desto illoyaler wurde die rechte Minderheit, die auch vor dem „offenen Streikbruch“, also der öffentlichen Distanzierung vom Kurs der Bolschewiki in der parteifeindlichen Presse nicht zurückschreckte. Lenin forderte daher den Ausschluss von Sinowjew und Kamenew – einen Schritt, den die Parteiführung jedoch ablehnte, weil sie eine Spaltung und damit noch größeren Schaden befürchtete.
Unter den AufstandsbefürworterInnen gab es zwar keine Differenzen über das Ziel, wohl jedoch über den Weg zur Machteroberung. Lenin vertrat von Beginn an, dass die Bolschewiki selbst den Aufstand initiieren und dann die Macht auf die Räte übertragen müssten. Er lehnte es strikt ab, auf einen Rätekongress zu warten.
„Der Sowjetkongreß ist auf den 20. Oktober verschoben worden. Das entspricht angesichts des Tempos, in dem Rußland lebt, benahe einem Aufschub auf den Sankt-Nimmerleinstag.“ (95)
In einem Brief an Smilga, einen der linkesten Bolschewiki dieser Tage, betont er die Notwendigkeit des sofortigen Handelns.
„Meines Erachtens muß man zur richtigen Orientierung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf setzen: Die Macht muß sofort in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der ‚kornilowschen Vorbereitungen‘ Kerenskis hinnehmen“. (96)
Noch nachdrücklicher:
„Man muß ‚aussprechen was ist‘, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. (…)
Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist Idiotie, denn der Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!“ (97)
„Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongreß abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ (98)
im Zentralkomitee noch eine dritte Gruppierung in der Aufstandsfrage. Während die Rechten durch die Logik ihrer Argumentation gezwungen waren, von der Losung „Alle Macht den Räten“ abzurücken und Lenin in Anlehnung an die Julitage die Überrumpelung durch den Feind befürchtete (99), setzte die dritte Strömung um Trotzki, darauf, die bestehenden Sowjetinstitutionen für den Aufstand zu nutzen, diesen als „defensive“ Aktion durchzuführen.
„Eine andere Haltung, die taktisch vorsichtige Bolschewiki einnahmen – vor allem diejenigen, die in den Sowjets oder in anderen typischen Einrichtungen an der Basis aktiv und daher besonders gut mit der vorherrschenden Stimmung der Massen vertraut waren – sah folgendermaßen aus: (1) Die Sowjets (wegen ihres Ansehens bei Arbeitern und Soldaten) und nicht die Organe der Partei sollten beim Sturz der Provisorischen Regierung zum Einsatz kommen. (2) Um die breitest mögliche Unterstützung zu erhalten, sollte jeder Angriff auf die Regierung als Verteidigungsaktion im Auftrag der Sowjets dargestellt werden. (3) Aus diesem Grund sollte eine solche Aktion solange aufgeschoben werden, bis sich ein passender Vorwand für den Aufbruch zum Kampf bot. (4) Um potenziellen Widerstand zu unterlaufen und die Erfolgschancen zu erhöhen, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, die Macht der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. (5) Der formelle Sturz der Regierung sollte durch die Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses legitimiert werden.“ (100)
Eine für die Revolution wichtige und auch beispielhafte Form der Ausnutzung der Sowjetorgane war das „militärische Revolutionskomitee“, eine ursprünglich von den Menschewiki vorgeschlagene Institution, die von den Bolschewiki unter Einbeziehung der linken Sozialrevolutionäre zur Aufstandsvorbereitung verwendet wurde:
„Indem es die Kommission zur Ausarbeitung der Verordnung für das ‚Komitee der Verteidigung‘ ins Leben rief, hatte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets für das Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit der Nordfront und dem Stab des Petrograder Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem Distriktsowjet von Finnland zur Klärung der militärischen Situation und der notwendigen Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes der Garnison von Petrograd und Umgebung, wie auch der Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Disziplin in den Soldaten- und Arbeitermassen. Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten sich fast sämtlich an der Grenze zwischen Verteidigung der Hauptstadt und bewaffnetem Aufstande. Aber diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das Element der Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen worden, sondern ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des Vorabends des Aufstandes.“ (101)
Während die Anschläge der Regierung auf die Petersburger Garnison und deren drohende Verlegung in Lenins Augen die Notwendigkeit eines Losschlagens ergaben, sahen die Anhänger Trotzkis gerade darin eine Möglichkeit, die Sowjetorgane zu nutzen.
„Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistrikts geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß ‚das Wasser genügend siedend ist‘; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, ‚wäre der größte Fehler‘. Er geht jedoch mit Lenin auseinander ,in der Frage, wer beginnt und wie beginnen‘. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. ‚Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird … Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden … Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.‘ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.“ (102)
Lenins Konzeption hatte zweifellos einen Vorzug – die Schnelligkeit. Aber sie hatte auch einen offenkundigen politischen Nachteil. Eine Aufstandsbewegung, die nicht aus den Sowjetorganen erwächst, verfügt über eine weitaus geringere gesellschaftliche Basis.
Lenins langes und letztlich vergebliches Insistieren auf einen von der Partei ausgelösten oder ausgerufenen Aufstand hatte neben berechtigten Befürchtungen und geringer Nähe zur Basis eine weitere Ursache. Im Gegensatz zu Trotzki erkannte er nicht die Möglichkeiten, die sich aus den Institutionen der Doppelmacht für den Aufstand ergaben, die ihn erleichterten und schwer angreifbar machten. Lenin beschreibt die Räte in seinen Artikeln vor dem Aufstand oft als „machtlos“, „schwächlich“, als Organe der Selbstorganisation, auf die erst durch den Aufstand die Macht übertragen werden könne. Für ihn müssen die Räte vor die Tatsache der erfolgreichen Machtübernahme gestellt werden, der erfolgreiche Aufstand könne zwar Räteorgane zu Hilfe nehmen, der Aufstand sei aber ein militärisch-politischer Ansturm von außen.
Zweifellos ist die von Lenin immer wieder dargelegte Schwäche oder Ohnmacht der Räte, gerade unter nicht-revolutionärer Führung, ein reales Moment. Aber er blendet zugleich aus, dass die Sowjets im Bewusstsein der Massen auch schon legitime Machtorgane sind, solange es eine Doppelmachtsituation gibt. Daran knüpft die erfolgreiche Aufstandstaktik im Oktober an.
„Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.
Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der 8 Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?“ (103)
Das Militärische Revolutionskomitee zum Organ des Aufstandes zu machen, die Sozialrevolutionäre einzubeziehen war ein genialer Akt, dessen Stärke aus einem richtigen Verständnis der Möglichkeiten der Sowjets erwächst.
Dass der Aufstand dabei relativ unblutig vonstatten ging, dass er relativ „ruhig“ erschien, ist im Übrigen auch ein Resultat der Tatsache, dass die Revolution den Staatsapparat schon weitgehend zerbrochen hatte. Die Soldaten waren über die Sowjets ins Lager des Oktober übergetreten, der Aufstand war – wie jeder Aufstand – erfolgreich, weil er eine breite gesellschaftliche Basis hatte. Ansonsten hätte sich die Sowjetmacht nicht halten und erst recht nicht die Eigentumsverhältnisse im Land umwälzen können.
Die Bedeutung der Räte, Milizen, der Roten Garden für die Revolution ist eng mit dem Oktober verbunden. In der Tat liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Erfolges wie auch für die revolutionären Politik unserer Zeit gerade darin, das Verhältnis von Klasse, Partei und Räten richtig zu verstehen.
„Wäre es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.
Diese Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder obwohl darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.
Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der Bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.“ (104)
Mit dem Sieg des Aufstandes geht die Macht an die von den Bolschewiki geführten Räte über, die Doppelmacht wird beendet. Der Rat der Volkskommissare wird gebildet, erste Dekrete der Sowjetmacht werden erlassen.
Die Oktoberrevolution hat nicht nur eine Bresche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschlagen, ihre Entstehung, ihr Verlauf, ihr späterer Niedergang, vor allem aber die Strategie und Taktik der Bolschewistischen Partei sind bis heute ein Bezugspunkt für alle, die für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse, für die sozialistische Weltrevolution kämpfen.
Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. In ihnen konzentrieren sich politische, wirtschaftliche und ideologische Klassenkämpfe und Widersprüche einer Gesellschaft, die über ganze Perioden die Verlaufsformen ihrer inneren Auseinandersetzung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung prägen.
Diese geschichtlichen Perioden stellen die Verhältnisse in Frage, die der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, den Angehörigen der herrschenden wie beherrschten Klassen als „Gewissheiten“ erscheinen. Die inneren Widersprüche, die sich in den „Tiefen“ der Gesellschaft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt haben, die jedoch an deren Oberfläche als „reguliert“ erschienen, treten dann offen hervor. Revolutionen sprengen diesen inneren Zusammenhang, treten eruptiv als gesellschaftliche „Explosionen“, als Sprünge in Erscheinung. Obwohl, ja weil sie aus den gesellschaftlichen Gegensätzen erwachsen, die für lange Zeit auch die Basis jener politischen, staatlichen, sozialen Formen bildeten, in deren Rahmen das politische, wirtschaftliche und soziale Leben reproduziert wurde, „überraschen“ Krisen und erst recht deren revolutionäre Zuspitzung alle Klassen und ihre Parteien.
Revolutionen scheinen die Verhältnisse „auf den Kopf“ zu stellen. Sie erscheinen nicht nur den direkten Parteigängern der alten Ordnung als „Wahnsinn“, sondern auch den AnhängerInnen einer „vernünftigen“, schrittweisen, graduellen „Reform“ der Gesellschaft. Dieser Schein wird zusätzlich dadurch genährt, dass sie die in Bewegung geratenen Massen wie auch die entschlossensten GegnerInnen der bestehenden Ordnung „überraschen“.
Dabei treten die unterdrückten Klassen als Subjekte, als Akteure hervor. Diejenigen, die gestern noch bloßes Ausbeutungsmaterial oder Kanonenfutter waren, die allenfalls über gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf ihre Interessen vertreten mussten oder konnten, werfen sich in den Kampf um eine Neuordnung der Gesellschaft, werfen die Machtfrage auf. Sie scheinen in eine andere Welt katapultiert zu werden. Sie machen wirklich Geschichte, wenn auch nicht aus freien, selbst gewählten Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Die zur revolutionären Aktion Gestoßenen agieren zwar ohne klares Bewusstsein der Verhältnisse, die sie treiben, kombinieren daher unvermeidlich Vergangenes mit Zukünftigem, Fortschrittliches mit Reaktionärem. Wie die Gesellschaft selbst ist ihr Bewusstsein im Fluss, weil ihr Handeln über das Bestehende hinausdrängt, ja schon hinausgegangen ist.
Das trifft letztlich auch auf diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse zu, die politisch-ideologisch und theoretisch die Revolution vorweggenommen, gewissermaßen durchdacht haben, die sich schon als Avantgarde formierten oder dabei waren/sind, diesen Schritt zu unternehmen.
Auch sie können von der Revolution „überrascht“ werden. Selbst Lenin fürchtete gelegentlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dass seine Generation eine tiefe, längerfristige konterrevolutionäre Entwicklung durchleben müsse, dass die russische und internationale Revolution in weite Ferne gerückt wäre und ihm „nur“ die Vorbereitung der Zukunft verbliebe.
Dabei hat er mehr als andere die Triebkräfte analysiert und verstanden, die zum Ausbruch der Russischen Revolution geführt haben. Die ganze strategische Ausrichtung der bolschewistischen Politik, die Politik des „revolutionären Defaitismus“ zielte auf die Umwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung – einschließlich der meisten linken oder pazifistischen KriegsgegnerInnen – charakterisierte der Bolschewismus die imperialistische Epoche als eine von Krieg und Revolutionen.
Die episodischen Unsicherheiten Lenins bezüglich des Tempos der Entwicklung und erst recht die Tatsache, dass die Bolschewiki wie alle anderen Parteien von der Februarrevolution überrascht wurden, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass Revolutionen letztlich nicht „vorhersehbar“ sind.
In Wirklichkeit sprechen solche Fakten nicht gegen das marxistische Verständnis von Revolution und Konterrevolution. Vielmehr vermag der Marxismus selbst die Notwendigkeit des Auftretens solcher „Zufälle“ zu erklären, zu verstehen.
Die Grundstruktur des Kapitalismus selbst führt nämlich dazu, dass Revolutionen auf der Oberfläche der Gesellschaft als etwas „Zufälliges“, „Irrationales“ erscheinen müssen. In der kapitalistischen Gesellschaft können sich ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre Dynamik nur „blind“, hinter dem Rücken unabhängiger Privatpersonen vollziehen. In einer Gesellschaftsformation, die auf allgemeiner Warenproduktion basiert, machen sich diese den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend, die immer nur im Nachhinein zeigen, welches Handeln erfolgreich, welches Produkt nützlich, welche Unternehmung profitabel war. Alle politischen, staatlichen Strukturen, Unterdrückungsverhältnisse, vorhergehende Produktionsweisen usw. sind letztlich von der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, mögen sie auch noch so „autonom“ erschienen.
Auch wenn sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung oft als sehr anpassungsfähig und „elastisch“ erwiesen hat, so kann sich staatliches und politisches Handeln nie vom prägenden anarchischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise frei machen. Akute gesellschaftliche Krisen sind daher nicht nur „bloß“ ökonomische Krisen. Das liegt erstens daran, dass auch den ökonomischen Widersprüchen immer ein Klassenwiderspruch zugrunde liegt, dass sich in einer allgemeinen ökonomischen Krise daher notwendigerweise die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Klassen erhebt. Zweitens liegt der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwar ein Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im Bereich der gesellschaftlichen Produktion zugrunde, aber dieses stellt eben nur die Basis für die Gesamtheit des politischen, ideologischen Überbaus der Gesellschaft dar, kann durchaus andere Produktionsweisen noch beinhalten. Drittens ist die kapitalistische Gesellschaftsformation immer schon ein internationales System, die Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems ist daher immer auch eines zwischen nationalen Kapitalien und Staaten, die bei einer Zuspitzung der Krisentendenzen notwendig um die Neuaufteilung der Welt kämpfen müssen.
Schließlich hat die Tatsache der Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft notwendig erscheint, zur Folge, dass sich „grundlegende“ Krisen, zentrale Konflikte vermittelt oder an scheinbaren „Nebenfragen“ entzünden. So entzünden sich viele Revolutionen an Fragen der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Würde, was dazu verführen mag, ihnen ihren „grundlegenden“ Charakter abzusprechen. In Wirklichkeit zeigt der Verlauf vieler dieser Umstürze, dass dahinter immer auch „handfeste“ ökonomische Fragen stehen. Zweitens stellen letztlich auch die Fragen der Gleichheit, demokratischer Rechte, von Krieg und Frieden, der sozialen Unterdrückung auch Fragen des Klassenkampfes dar, die in bestimmten Situationen sogar zu den Kernfragen der Revolution werden können.
So entflammte die verzweifelte Selbstverbrennung eines deklassierten jungen Menschen die arabischen Revolutionen.
Auch die russischen Revolutionen 1905 oder 1917 brachen gewissermaßen „zufällig“ aus. Oberflächliche Gemüter ziehen daraus gern den Schluss, dass diese geschichtlichen Erdbeben durch klügeres Handeln, frühzeitigere Reformen vermieden hätten werden können. Wäre 1905 nicht in die Demonstrationen geschossen worden, hätte der Zar die Petitionen der ArbeiterInnen zur Kenntnis genommen, wäre der Zar 1917 oder noch früher abgetreten, hätte es demokratische Reformen gegeben, wäre die Zivilgesellschaft entwickelter gewesen – die russischen Revolutionen wären uns erspart geblieben.
Solche hoffnungsvollen Erwägungen beschränken sich natürlich nicht auf ein Land. Ein ganz ähnliches Räsonieren liegt der Vorstellung zugrunde, dass der Faschismus in Deutschland hätte verhindert werden können, wenn alle auf die Weimarer Verfassung geschworen hätten… All das läuft letztlich darauf hinaus, dass große geschichtliche Umwälzungen – Revolutionen wie Konterrevolutionen – durch „vorausblickendes“, rationales politisches Verhalten von Regierung und Bevölkerungsmehrheit hätten vermieden werden können.
Sicherlich lag etwas „Zufälliges“ darin, dass bestimmte Ereignisse zum offenen Ausbruch von Revolutionen führten. Das bedeutet aber nur, dass politisches Handeln den Ausbruch und die Verlaufsform bestimmter Krisen verändern kann, nicht jedoch die grundlegenden Widersprüche, die zu ihrem offenen politischen Ausbruch drängen. Das würde nämlich erfordern, dass in einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der großen Mehrheit beruht, in einer globalen Krisensituation, die den Spielraum für Kompromisse eng begrenzt, alle Klassen im Interesse einer „höheren“, über der Gesellschaft stehenden vernünftigen Ordnung auf die Verfolgung ihrer jeweiligen eigenen Interessen verzichten müssten. Sie müssten den Klassenkampf einstellen, wenn er seine akuteste Form annimmt.
In revolutionären Krisen bedeutet es, die Revolution selbst auf einen Kompromiss zwischen den Klassen beschränken zu wollen, im Falle Russlands auf die Etablierung der bürgerlichen Demokratie, auf eine langfristige demokratische Etappe. Das Programm der kleinbürgerlichen Demokratie ist ein Programm, das nur in Verzicht auf die Machtergreifung enden und auf Verrat und Unterordnung der unterdrückten Klassen, von Proletariat und Bauernschaft unter jenes der imperialistischen Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinauslaufen kann.
Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse, mag sie auch in aufstrebenden Phasen einer Revolution gezwungen sein, auf die Kräfte der klein-bürgerlichen Demokratie (oder des sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus) zu setzen, früher oder später entschiedene Maßnahmen gegen die revolutionären Kräfte fordern muss und durchzusetzen versucht. So wie die Revolution kann auch sie nicht auf halbem Wege stehenbleiben, kann sich auch die herrschende Klasse nicht mit halben Lösungen zufrieden geben. Sie will nicht nur, sie braucht eine ganze Konterrevolution.
Weil die Revolution alle Elemente der Gesellschaft, ihre ökonomische Basis wie ihren politischen Überbau in den Grundfesten erschüttert und in ihrer Zuspitzung Formen der Doppelmacht hervorbringt, die nur zugunsten einer der beiden Hauptklassen gelöst werden kann, führt sie unvermeidlich dazu, dass sich auch jene Institutionen, die dem gemeinen, „demokratischen“ Verstand als Mittel des Ausgleichs, der „friedlichen“ Beilegung des Konflikts erscheinen, rasch abnutzen, verbrauchen, als ungeeignet erweisen. Das trifft auf alle Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu, auch, und gerade auf jene, die als demokratische Revolutionen beginnen.
Die bürgerliche – und dazu gehört auch die sozialdemokratische – Geschichtsschreibung stellt diese Zusammenhänge in der Regel auf den Kopf. Selbst wenn sie tiefe ökonomische Ursachen, soziale Verwerfungen für revolutionäre Ausbrüche anerkennt, so erblickt sie im Radikalismus der konsequent revolutionären Kräfte wie der entschlossenen Reaktion keinen gesetzmäßigen Ausdruck des Klassenkampfes, sondern den Hort der „Unvernunft“, eine irrationale Überspitzung, die durch institutionelle Arrangements, Demokratie, Zivilgesellschaft usw. eigentlich zu verhindern wäre. Allen gesellschaftlichen Zuspitzungen, der Revolution wie der Konterrevolution, wird ein grundlegend irrationaler Charakter zugesprochen. Revolutionen erscheinen nicht als Motoren, sondern als Betriebsunfälle der Geschichte, hervorgerufen letztlich durch subjektive „Fehlentwicklungen“.
Die unterdrückten Klassen geraten in ihren Augen in vor-revolutionären oder revolutionären Situationen in eine Phase des politischen „Fieberwahns“, der „Unvernunft“ und „überzogener Erwartungen“. Sie erscheinen nicht als Klassensubjekte, die damit beginnen, die Last des Vergangenen abzustreifen, sondern als von den Radikalen „verführte“, „irregeleitete“, „radikalisierte und manipulierte“ Masse. Wo die Massen der Unterdrückten zu Subjekten werden und beginnen, den Alp des herrschenden Bewusstseins abzustreifen, spricht ihnen die bürgerliche Geschichtsschreibung ihre Bewusstheit ab. Der Unterdrückte gilt ihr nur als systemkonformer „Mitbürger“ als „vernünftig“. Wenn die ArbeiterInnen oder die bäuerlichen Massen, nationale und rassistisch Unterdrückte, Frauen, Jugendliche usw. ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, selbst den Rahmen bürgerlicher Herrschaft, ob nun in offen diktatorischer oder fürsorglicher, bürgerlich-demokratischer Herrschaft, sprengen, wenn sie in der revolutionären Aktion ihren Hass auf die bestehende Gesellschaft zum Ausdruck bringen, dann schlägt ihnen unvermeidlich der Klassenhass nicht nur der Herrschenden entgegen und zwar nicht nur durch die äußerste Reaktion zu, sondern auch durch die Sozialdemokratie.
Die Oktoberrevolution erscheint in den primitiveren Varianten der bürgerlichen Kritik als „Putsch“ des Bolschewismus, in den etwas umsichtigeren als Resultat einer geschickten „Machtpolitik“, kluger Taktiererei der RevolutionärInnen. Das Programm und dessen taktische und organisatorische Konkretisierung erscheinen nicht als Antwort auf die brennenden gesellschaftlichen Probleme, die die Revolution erst hervorbrachten und auf die die Partei eine zusammenfassende Antwort gibt, sondern als geschicktes Mittel der Manipulation. Diese Auffassung geht bis weit in die „radikale“ Linke unserer Tage hinein, was neben den Entstellungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Geschichtsschreibung auch der stalinistischen Legendenbildung um die Partei Lenins zu verdanken ist.
In beiden werden Lenins Partei und ihr Programm zu einer sich immer gleich bleibenden Einheit. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse, zu deren Avantgarde, zu den anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft erscheint als ein undialektisches, in dem die „Partei“ immer schon recht hatte und einfach nur einheitlich und geschlossen das Richtige macht. Im Stalinismus tritt letztlich die Partei an Stelle der ArbeiterInnenklasse als Subjekt der Revolution.
Ein marxistisches Verständnis der Rolle der Partei muss von einem korrekten Verständnis des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse ausgehen. Aus sich heraus kann die ArbeiterInnenklasse nicht „spontan“ revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln. In nicht-revolutionären Perioden wird sie als ausgebeutete Klasse „spontan“ nur gewerkschaftliches und darauf aufbauendes reformistisches Bewusstsein entwickeln. Revolutionäres Klassenbewusstsein muss von außen in die Klasse getragen werden, auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrungen im Klassenkampf. Die unmittelbaren Erfahrungen des rein ökonomischen Kampfes oder des Kampfes um politische Reformen führen nicht nur nicht zu revolutionärem Bewusstsein, sie stehen dessen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad sogar entgegen, da sie, gerade wenn sie erfolgreich sind, eine graduelle Verbesserung der Klassenlage als möglich erscheinen lassen.
In revolutionären Perioden und Krisen wird dieser rein ökonomische und auch politisch-reformerische Horizont in Frage gestellt. Je nach Vorgeschichte der Klasse und internationaler Konstellation kann in diesen Phasen auch rasch über den Reformismus oder Ökonomismus hinausgehendes Bewusstsein entstehen. Die Klasse insgesamt, und vor allem ihre Avantgarde wird vor Fragen – nicht zuletzt die Machtfrage – gestellt, die praktisch nach einer sozialistischen Antwort verlangen. Die in Bewegung geratenen Massen setzen Taten, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen, selbst wenn sie das nicht „vorhatten“. Das heißt auch, dass sich in bestimmten Phasen auch ideologisch zentristische Stimmungen oder gar ultralinke, ultrarevolutionäre Einstellungen in der Klasse oder deren Avantgarde ausbreiten. In solchen gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kann sich durchaus mehr als tradeunionistisches Bewusstsein entwickeln. Damit sich diese Tendenzen zu einer bewussten, politisch klaren revolutionären Kraft entwickeln können, braucht es jedoch die Fusion von wissenschaftlichem Sozialismus und ArbeiterInnenvorhut – die Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei.
Die spontanen revolutionären Tendenzen der Klasse, die Tatsache, dass die Tat zum revolutionären Programm drängt, macht das Programm nicht obsolet, wie Spontaneisten denken, sondern begründet erst dessen Unverzichtbarkeit, dessen Notwendigkeit und die Möglichkeit, dass das Programm wirklich zum Wegweiser für die Aktion, für die Lösung der Machtfrage, der entscheidenden Frage aller Revolutionen, wird.
Die revolutionäre Partei ist Ausdruck dieser geschichtlichen und internationalen Erfahrung. Ihre Politik muss auf einer wissenschaftlichen, nicht ideologischen Grundlage basieren.
Das Programm der Partei muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes, eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handel an.
Für den Bolschewismus und insbesondere für Lenin war letztlich das politische Programm der entscheidende Bezugspunkt, nicht die organisatorische, statuarische Form der Partei. So wichtig der „demokratische Zentralismus“ für die Parteikonzeption auch ist, er bleibt gerade aufgrund seines großen Formwandels im Laufe der Entwicklung unverständlich, wenn er nicht im Kontext sich verändernder Situationen, einer sich wandelnden Partei und deren programmatischen Erfordernissen betrachtet wird.
Die revolutionäre Partei – die Verschmelzung von Wissenschaft und Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – kann selbst nur zur Führerin der Klasse und unterdrückten nicht-proletarischen Massen werden, wenn sie es vermag, deren Bedürfnisse zu verallgemeinern und mit der Einsicht in den allgemeinen Werdegang der proletarischen Revolution zu verbinden. Nur so kann die Partei ihre Rolle erfüllen und zur Führerin der ArbeiterInnenklasse werden.
Das Verhältnis von Klasse und Partei, von FührerInnen und Geführten, von Bewussteren und weniger Bewussten darf dabei jedoch nicht als LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis betrachtet werden, so das Wissen, jedenfalls der Vorstellung des Lehrenden nach, auf einer Seite monopolisiert ist.
Die ArbeiterInnenklasse selbst kann zwar im Kapitalismus nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln, in ihren Lebensverhältnissen und Klassenkämpfen wird sie jedoch immer wieder auch auf die inneren Widersprüche der Gesellschaft gestoßen, hin in eine sozialistische Richtung. Sie drängt zur Revolution, zum Sozialismus. Der Kommunismus ist der bewusste Ausdruck der proletarischen Bewegung, also auch, wenn seine wissenschaftliche Ausformung von außen in die Klasse getragen werden muss: Er ist nichts Äußerliches, da er die Stellung der ArbeiterInnenklasse und ihren Befreiungskampf einfach nur bewusst macht, zum Ausdruck bringt.
Dabei übernimmt die ArbeiterInnenklasse selbst keinen passiven Part. So hat Marx aufgrund der Erfahrungen der Revolutionen von 1848 und vor allem des Bonapartismus in Frankreich herausgearbeitet, dass die ArbeiterInnenklasse den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss. Die Form, wie dies geschehen kann, hat nicht Marx im Studierzimmer entworfen, sondern haben die Kommunarden 1871 in Paris aufgezeigt. Das zeigt besonders deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse ein tätiges, spontan zu ihrer eigenen Befreiung drängendes revolutionäres Subjekt ist.
Zugleich zeigt aber Marx` Analyse der Kommune auch die Grenzen dieses Drängens. Die Charakterisierung der Kommune als die „geschichtliche Form zur Befreiung der Klasse“ und als ArbeiterInnenregierung erfolgte keineswegs „automatisch“ aus den Kämpfen der Kommunarden – und erst recht nicht, welche Maßnahmen notwendig waren, um die von der Kommune geschaffenen Möglichkeiten auch zu realisieren. Im Gegenteil. Die Einschätzung und die Lehren aus den Klassenkämpfen in Frankreich offenbarten eine tiefe Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in einen revolutionären, marxistischen Flügel, den kleinbürgerlichen Anarchismus (Bakunisten) und die Vorläufer des Reformismus (britische Gewerkschafter).
Die theoretische Verallgemeinerung und die programmatischen Schlussfolgerungen aus der Kommune konnten nur auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gezogen werden – nicht bloß aus der unmittelbaren Erfahrung des Kampfes. Sie mussten selbst den BarrikadenkämpferInnen „von außen“ vermittelt werden. Schließlich zeigt dieses Beispiel aber auch, dass eine Neubestimmung des Programms der revolutionären ArbeiterInnenbewegung selbst erfolgte. Im Kommunistischen Manifest hieß es noch, dass die nächste Aufgabe der ArbeiterInnenklasse die „Eroberung der Demokratie“ sei und sie so zur Herrschaft gelangen würde.
Mit der Kommune war diese Formel ungenügend geworden. Das Festhalten an der alten Formel in großen Teilen der Zweiten Internationale und das „Vergessen“ der Lehren der Kommune hatten natürlich materielle Ursachen in einer relativ stabilen, „friedlichen“ Entwicklung des Kapitalismus nach der Niederlage des Jahres 1871. Zugleich aber begünstigte diese Verflachung des Marxismus den Übergang der Zweiten Internationale in das Lager der Konterrevolution.
Wie wir auch am Beispiel des Bolschewismus gesehen haben, bedarf ein revolutionäres Programm, bedürfen revolutionäre Erkenntnisse nicht nur ihrer Anwendung und Überprüfung in der Praxis. Die revolutionäre Partei selbst tritt mit einem Fundus an Programmatik und Erkenntnis in neue geschichtliche Kämpfe, die – selbst auf ihrem höchsten Entwicklungsstand – immer nur die Verallgemeinerung vergangener Erfahrung sein können.
Jede revolutionäre Krise erfordert aber nicht die mechanische Anwendung des Programms, sondern seine Anwendung muss immer auch mit der aktuellen Situation verbunden, in die Sprache der Taktik übersetzt sein. Dieselben Losungen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Revolution im Mittelpunkt stehen, können auf einer anderen nicht mehr angemessen bzw. falsch sein. Das trifft nicht nur auf die inneren Veränderungen in einer revolutionären Situation und auf Fragen der Taktik zu, sondern bezieht sich auch auf die strategische Grundausrichtung der revolutionären Partei.
Ohne Bolschewistische Partei hätte es sicherlich nie die Oktoberrevolution, die Errichtung der Diktatur des Proletariats gegeben. Umgekehrt aber wäre diese Partei nie dazu in der Lage gewesen, Kurs auf den Oktober zu nehmen, hätte sie nicht selbst im Frühjahr 1917 ihre strategische Ausrichtung geändert, was letztlich in die Aprilthesen Lenins mündete. Diese „Umbewaffnung“ der Partei, wie es Trotzki ausdrückte, war von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie überhaupt Kurs auf den Oktober nehmen konnte.
Um diese Umbewaffnung zu verstehen – und damit auch Kontinuität wie Bruch innerhalb des Bolschewismus – ist es unerlässlich, auch dessen „Vorgeschichte“ zu betrachten. Die russische Sozialdemokratie konnte in der Revolution 1905 ihre politischen Konzeptionen erstmals erproben. Auch wenn die Revolution 1905 niedergeschlagen wurde, so war sie für die weitere Entwicklung des Bolschewismus von unschätzbarem Wert. Alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung stellten ihre Programme, ihre Politik vor.
Einen zweiten Wendepunkt für die programmatische Formierung des Bolschewismus markieren der Ausbruch des imperialistischen Krieges und der Verrat der Sozialdemokratie. Hier entwickelten sich die Bolschewiki – auf den Status einer relativ kleinen Propagandaorganisation zurückgeworfen – zu einer internationalen Strömung, die nicht nur politisch-organisatorisch mit den Parteien der Zweiten Internationale, den Vaterlandsverteidigern, bricht, sondern auch eine politisch-programmatische Erneuerung des Marxismus beginnt.
Diese wird im Jahr 1917 mit der Machtergreifung und dann mit Gründung der Kommunistischen Internationale weiter vertieft. Sowohl die entwickelte Programmatik des Bolschewismus und der ersten vier Kongresse der KomIntern als auch die Formierung dieser Dritten Internationale zur Kampfpartei der Weltrevolution stellen einen bis heute unerreichten Höhepunkt der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung dar, den auch die Vierte Internationale, bis zu ihrer Degeneration Ende der 40er Jahre, aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Propagandaorganisation, nicht zu erreichen vermochte.
Jede neue, revolutionäre Internationale muss daher das Erbe des Bolschewismus bis zu seiner Degeneration und Pervertierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer eigenen Politik machen.
(1) Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1973, S. 115
(2 ) Ebenda, S. 117
(3) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), Erlangen [Politladen], S. 97
(4) In: Junius Verlag [Hrsg.]: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, Hamburg, 1981, S. 26
(5) Ebenda, S. 28
(6) Lenin, W. I.: „Die Sewstwokampagne und der Plan der „Iskra“, in: LW 7, Berlin/Ost [Dietz], 7. Auflage, 1976, S. 522)
(7) Axelrod, Pawel Borissowitsch: „Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1906, April/Mai 1906“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 32
(8) ders.: ebenda, S. 35
(9) Martow, Julius: „Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 30
(10) Lenin, W. I.: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: LW 9, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1957, S. 65
(11) Ebenda, S. 87 f.
(12) Ebenda, S. 126 f.
(13) Siehe: Trotzki, Leo: „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ [1939], in: ders., „Stalin – Eine Biographie“, Band II, Anhang, Reinbek [Rowohlt], Juni 1971
(14) Marx, Karl: „Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch“, in: MEW 19, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1974, S. 384- 406
(15) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven – Die Permanente Revolution“, Frankfurt a. M. [EVA], 1971, Seite 51 f.
(16) Ebenda, S. 64 f.
(17) Ebenda, S. 68
(18) Ebenda, S. 70
(19) Ebenda, S. 106
(20) Ebenda, S. 120
(21) Lenin, W. I.: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“, in: LW 10, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 8)
(23) ders.: „Sozialismus und Anarchismus“, in: LW 10, a. a. O., S. 57 ff.
(23) Siehe: Le Blanc, Paul: „Lenin and the Revolutionary Party“, Amherst/New York [Humanity Books], 1993, S. 107
(24) Siehe z. B. Lenin, W. I.: „Über die Reorganisation der Partei“, in: LW 10, a. a. O., S. 13 ff.
(25) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, Vorwort [1919], in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven…“, a. a. O., S. 122
(26) Siehe: Laszer, Max: „Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910“, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin, 2010, S. 193 ff.
(27) Frölich, Paul: „Rosa Luxemburg – Gedanke und Tat“, Berlin [Dietz], 1990, S. 164 ff.
(28) Vgl.: Workers Power: „Party and Programme“: http://www.workerspower.co.uk/1977/10/party-programme-pt-1/; http://www.workerspower.co.uk/1978/10/party-and-programme-lenin-and-luxemburg-against-opportunism-and-centrism-part-3/; Le Blanc, „Lenin and the Revolutionary Party“, a. a. O.
(29) Hilferding, Rudolf: „Das Finanzkapital“ [1910], Dietz-Verlag, Berlin/Ost 1953
(30) Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1985, S. 5 ff.
(31) Lenin, W. I.: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, in: LW 21, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1970, S. 1
(32) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, in: LW 21, a. a. O., S. 26
(33) Ebenda, S. 27
(34) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“, New York, 1984, S. 369; eigene Übersetzung aus dem Englischen
(35) Lenin, W. I.: „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 22, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 149.
(36) Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: LW 22, a. a. O., S. 304
(37) Lenin, W. I.: „Sozialismus und Krieg“, in: LW 21, a. a. O., S. 301 f.
(38) Lukács, Georg: „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, Neuwied und Berlin, 3. Auflage, 1969, S. 9.
(39) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, a. a. O., S. 28
(40) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“, New York, 1984, S. 304; eigene Übersetzung aus dem Englischen
(41) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 1; in: Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007: http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm
(42) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, Berlin/West [S. Fischer], 1960, S. 132
(43) Ebenda, S. 137
(44) Siehe ebenda, S. 187
(45) Rosenberg, Arthur: „Geschichte des Bolschewismus“, Frankfurt a. M. [EVA], 1966, S. 123
(46) „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 49
(47) Lenin, W. I.: „Briefe aus der Ferne“, in: LW 23, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 309-357
(48) Ebenda, S. 321
(49) Lorenz, Richard [Hrsg.]: „Die russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten“, München [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung], 1981, S. 51
(50) Ebenda, S. 52
(51) Zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 256, eigene Übersetzung
(52) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“,Essen [Mehring Verlag], 2012, S. 536
(53) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 2; in: Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007, S. 15
(54) Ebenda, S. 15
(55) Zitiert nach: Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, a. a. O., S. 243
(56) Protokoll der Konferenz, zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 258 f.
(57) Ebenda, S. 259 f.
(58) Lenin, W. I.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, in: LW 24, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 6)
(59) Zitiert nach: Lenin, W. I.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 32 f.
(60) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 1-8
(61) Ebenda, S. 3 f.
(62) ders.: „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 21, a. a. O., S. 415 f.
(63) ders.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 33
(64) Ebenda
(65) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 5)
(66) ders: „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“, in: LW 25, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 393 – 507
(67) Ebenda, S. 397
(68) Iswestja, 63, 11.5.1917, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 51
(69) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, Frankfurt a. M. [ISP], 1983, S. 22
(70) ders.: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“, Essen [Verlag Ergebnisse und Perspektiven], o. J., S. 26; (Fehler stillschweigend korrigiert; d. Red.)
(71) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Einleitung zur englischen Ausgabe, Essen [Mehring Verlag], 2012, S. LVII
(72) Trotzki, „Geschichte der russischen Revolution“,
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-kap02.htm
(73) Lenin, W. I.: „Zu den Losungen“, in: LW 25, a. a. O., S. 181
(74) ders.: „Die politische Lage“, ebenda, S. 174
(75) ders.: „Zu den Losungen“, a. a. O., S. 188
(76) Ebenda, S. 182 f.
(77) Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion siehe Rabinowitch, a. a. O., Kapitel 5, S. 121 ff.
(78) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, a. a. O., S. 37
(79) Lenin, W. I.: „An das Zentralkomitee der SDAPR“, in: LW 25, a. a. O., S. 292 ff.
(80) Ebenda, S. 294 f.
(81) Ebenda, S. 295
(82) Ebenda
(83) Ebenda
(84) ders.: „Über Kompromisse“, in: LW 25, a. a. O., S. 313 ff.
(85) Ebenda, S. 314
(86) ders.: „Resolution zur Agrarfrage“, April 1917, in: LW 24, a. a. O., S. 283
(87) ders.: „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, in: LW 25, a. a. O., S. 327-377
(88) Ebenda, S. 363
(89) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution: minutes of the Central Committee of the Russian Social-Democratic Labour Party (Bolsheviks) August 1917-February 1918“, London [Pluto Press], 1974, S. 78
(90) Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, in: LW 26, Berlin/Ost [Dietz], 2. Auflage, 1970, S. 1
(91) ders. „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, ebenda, S. 40 f.
(92) ders. „Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), 10. (23.) Oktober 1917“, in: LW 26, a. a. O., S. 178
(93) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution“, S. 89 -95
(94) Ebenda, S. 90
(95) Lenin, W. I.: „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, in: LW 26, a. a. O., S. 41
(96) ders.: „Brief an Vorsitzenden des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands I.T. Smilga“, ebenda, S. 54
(97) ders.: „Die Krise ist herangereift“, in: LW 26, a. a. O., S. 65 f.
(98) ders.: „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, in: LW 26, a. a. O., S. 125
(99) Siehe dazu Trotzki, Über Lenin, EVA, Frankfurt/Main 1964, S. 71 ff.
(100) Rabinowitch, Alexander: Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, a. a. O., S. 329 f.
(101) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, a. a. O., S. 571 f.
(102) Ebenda, S. 618 f.
(103) Ebenda, S. 708
(104) Ebenda, S. 709
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