Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017
Der Untertitel des ersten Bandes „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ findet eine einfache Erklärung: Es geht Rabinowitch nicht um eine umfassende Darstellung des Revolutionsjahres 1917 von der Februarrevolution bis zur Oktoberrevolution. Er fokussiert sein Werk ganz auf die Rolle der Bolschewiki und auf den Zeitraum vom sogenannten „Juli-Aufstand“ bis zur Oktoberrevolution (Zum zeitlich anschließenden 2. Band „Das erste Jahr“ siehe die weitere Besprechung), wobei sich Rabinowitch so weit wie möglich auf die Ereignisse in Petrograd (Petersburg) beschränkt. Man mag diese Beschränkung bedauern, aber sie ermöglicht Rabinowitch (R.) eine sehr detaillierte und atmosphärisch dichte Darstellung, die durch zahlreiche Quellen gestützt wird. Nicht zuletzt zeigen seine Bücher, dass wissenschaftliche Darstellungen durchaus spannend erzählt werden können.
R. schreibt: „Mein Hauptziel bestand darin, die Entwicklung der Revolution ‚von unten‘ so vollständig und genau wie möglich zu rekonstruieren und dabei die Ansichten, das Handeln und die Lage der bolschewistischen Parteiorganisationen…auf allen Ebenen zu beleuchten. Dabei habe ich mich bemüht, den entscheidenden Zusammenhang zwischen diesen beiden zentralen Aspekten der Revolution und dem Erfolg der Bolschewiki herauszuarbeiten.“ (S. xxxviii)
R. hatte ursprünglich vor, ein anderes Werk zu schreiben, nämlich eine Biografie des Menschewistenführers Zereteli, aber er stellte bald fest, „dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen.“ (S. xx) Erst Anfang der neunziger Jahre öffneten sich für R. die sowjetischen/russischen Archive, die ihm durchaus neue, bisher unbekannte Einzelheiten enthüllten, jedoch nach seinen eigenen Worten seine grundlegenden Ergebnisse „nicht wesentlich verändern würden.“ (S. xxix)
Der Erkenntnisgewinn, den das Werk „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ bringt, besteht nicht zuletzt darin, dass die Russische Revolution nur verstanden werden kann, „wenn man eine breite Schicht von Führern auf mittlerer Ebene und von Institutionen mittlerer Bedeutung und vor allem auch die Bestrebungen und politischen Stimmungen der einfachen Leute in die Analyse einbezieht…“ (S. xxi). Durch die Berücksichtigung dieser „mittleren Ebene“ der Bolschewiki ergeben sich neue Sichtweisen auf die bolschewistische Partei, – das Bild wird bunter, vielfältiger.
Noch ein paar Worte zum Autor selbst. Er ist ein (emeritierter) amerikanischer Professor, der in einer russischen Emigrantenfamilie aufgewachsen ist. Sein Vater ging 1921 nach Westeuropa und von dort aus am Ende des 2. Weltkrieges in die USA. Im Hause Rabinowitch verkehrten prominente Exilrussen, u. a. der Literat Nabokow und auch, man beachte, Kerenski. Es wurde dort natürlich viel über Russland diskutiert und bei allen Differenzen, über eines war man sich einig: „Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden.“ (S. xix)
Es ist doch angenehm, einmal feststellen zu können, dass es auch seriöse bürgerliche Wissenschaftler gibt, die in der Lage sind, ihre eigenen ideologischen Vorurteile offen zu revidieren, was diese Buchbesprechung zeigen soll.
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt R.: „Vor dem Erscheinen dieses Buches war der gescheiterte Aufstand vom Juli 1917 (die ‚Julitage‘) von sowjetischen Historikern als spontane Massendemonstration gegen die unpopuläre Politik der Provisorischen Regierung gewertet worden, die im Zaum zu halten die Bolschewiki sich ehrlich bemühten. Für westliche Historiker stellte sie einen ersten Versuch Lenins dar, die Macht zu erobern (‚Generalprobe für den Roten Oktober‘).“ (S. xx f.) Das Buch erschien in den USA bereits 1976. Dass die Auffassung vom Juli-Aufstand als „gescheitertem Putsch“ hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit weit verbreitet war, spricht Bände über die deutsche Wissenschaftslandschaft sowie über die vorherrschende Medien- und Verlagspolitik. Was nicht ins eigene ideologische Weltbild passt, wird ignoriert. So ist es auch kein Wunder, dass erst einem kleinen linken Verlag, dem Mehring Verlag, das Verdienst zukommt, dass dieses bedeutsame Buch 2012 (d. h. 36 Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung) auf Deutsch erschien.
Ebenso wenig wie der Juli-Aufstand war die Oktoberrevolution ein Militärputsch einiger russischer Fanatiker ohne Massenanhang. Für die Putschthese werden häufig drei Aspekte angeführt. Erstens, dass sich der Sturz der bürgerlichen provisorischen Regierung relativ unspektakulär vollzogen habe. Der „Sturm aufs Winterpalais“, wo sich die provisorische Regierung mit bewaffneten Anhängern verschanzt hatte, erscheint in der Tat wenig bedeutsam. Auch R. schreibt: „Im Gegensatz zu den meisten Berichten in der Sowjetunion wurde das Winterpalais nicht gestürmt. Antonow (der bolschewistische Führer der Aktion, M. E.) selbst erzählte später, dass ‚der Angriff auf den Palast…vollkommen desorganisiert war’…dass nicht mehr viele Kadetten übrig waren…Als wir eintraten, leisteten die Kadetten keinen Widerstand.“ (S. 439).
Zweitens wird angeführt, es hätten nur kleinere militärische Geplänkel stattgefunden, die Massen hätten abseits gestanden.
Und drittens, das eigentliche Aufstandszentrum bzw. Putschzentrum, das Militärische Revolutionskomitee (des Petrograder Sowjets) sei als Organ als eine „reine Frontorganisation zu sehen, die vom bolschewistischen Zentralkomitee oder der Militärorganisation kontrolliert wurde.“ (S. 349)
Der erste Einwand ist an Dummheit kaum zu überbieten. Mit der gleichen Logik müsste man der Französischen Revolution den revolutionären Charakter absprechen, denn auch der „Sturm auf die Bastille“ hat so nie stattgefunden. In der Bastille saßen am 14. Juli 1789 ganze sieben Gefangene, und nach einer kurzen Auseinandersetzung übergab die kleine Besatzung die Festung schließlich an die „Aufständischen“. Die Bedeutung besteht in beiden Fällen, dem „Sturm auf die Bastille“ und dem „Sturm auf das Winterpalais“, jedoch nicht darin, dass heroische Kämpfe der Massen stattgefunden hätten, sondern in der revolutionären Symbolik der Machtübernahme. Der „Sturm auf das Winterpalais“ bildete den vorläufigen Schlusspunkt nach monatelangen Massenkämpfen, und schließlich bedeutete er die Festnahme der provisorischen Regierung, die verhaftet werden musste, um einer Sowjetregierung Platz zu machen.
Zum zweiten Einwand, am Umsturz seien keine Massen beteiligt gewesen, es habe keine Massenkämpfe gegeben: Dazu ist zu sagen, dass in Petrograd die provisorische Regierung inzwischen gesellschaftlich so isoliert war, die unterdrückten Massen derart geschlossen hinter den Räten/Sowjets standen, dass die Machtübernahme auch ohne heroische Straßenkämpfe o. ä. weitgehend schmerzlos möglich war. R. zitiert hier einen Führer der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS), der erklärte, dass „es denen von uns, die in den unteren Klassen Petrograds arbeiteten, klar war, dass Kerenski in der Petrograder Garnison kein Dutzend Leute finden würde, die ihn als Vertreter der Koalitionsregierung verteidigen würden.“ (S. 377)
Und zum dritten Einwand, das Militärische Revolutionskomitee (RMK) sei eine reine Frontorganisation der Bolschewiki gewesen, bemerkt R: „Doch eine solche Einschätzung ist ungenau. Bolschewiki spielten innerhalb des Komitees die führende Rolle. Sie waren aber nicht seine einzigen aktiven Teilnehmer, und sogar die bolschewistischen Teilnehmer stimmten in ihrer Auffassung der Aufgaben des Komitees nicht alle überein.“ (S. 349)
Insgesamt bleibt festzuhalten: Hätte es sich bei der Oktoberrevolution wirklich nur um einen Putsch gehandelt, bei dem sich eine kleine Minderheit an die Macht geputscht hätte, dann wären die folgenden tiefgehenden gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zustande gekommen und auch der folgende Bürgerkrieg wäre verloren gegangen.
Ein sich hartnäckig haltender Mythos über die bolschewistische Partei lautet in etwa: Die bolschewistische Partei sei hierarchisch aufgebaut, stark zentralisiert gewesen, über ein institutionalisiertes Befehlssystem sei die Partei von einer Parteiführung straff geführt worden und die unteren Kader hätten die befohlene Linie lediglich nach außen zu vertreten. An der Spitze der Partei habe ein autoritärer, nicht antastbarer Lenin gestanden.
Mit der Realität hat dieser Mythos kaum etwas gemeinsam. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie, in der August Bebel als eine Art Ersatzkaiser fungierte, musste Lenin häufig um seine Positionen kämpfen. Es gab, so stellt R. fest, „innerhalb der Petrograder bolschewistischen Organisation auf allen Ebenen durchgängig freie und lebhafte Diskussionen über Grundfragen von Theorie und Taktik. Führer, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmten, durften offen für ihre Ansichten eintreten, und nicht selten ging Lenin aus diesen Auseinandersetzungen als Verlierer hervor.“ (S. 456 f.) Die bolschewistischen Kader verstanden sich in aller Regel nicht als bloße Befehlsempfänger.
Am Punkt „Parteidemokratie und Parteistrukturen“ zeigt sich bei R. allerdings zweierlei: einerseits, wie unbefangen und vorurteilsfrei seine Untersuchungen zur Revolution 1917 in Petrograd sind, aber andererseits auch Rabinowitchs begrenzte Kenntnis der bolschewistischen Parteigeschichte. Er hebt zwar an der bolschewistischen Partei 1917 hervor, sie sei charakterisiert durch „relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise… wie auch ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter“ (S. 456) , dann aber schreibt er, dass dies „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht.“ (S. 456)
Aber die gesamte Geschichte der bolschewistischen Partei, selbst in den finstersten Phasen der Reaktion und Illegalität, war geprägt von offenen und kontroversen Diskussionen. Selbstverständlich muss eine kleine Kaderorganisation in der Illegalität anders strukturiert sein als eine Massenorganisation im revolutionären Aufschwung. Demokratische Strukturen ließen sich unter den Bedingungen der Illegalität natürlich nur z. T. aufrechterhalten, aber von einem neuen Parteimodell zu reden, das „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht“ ist zumindest eine arge Verkürzung.
Aber zurück zum Mythos. Man könnte umgekehrt sagen, hätte der Mythos über die bolschewistischen Parteistrukturen der Realität entsprochen, hätte die bolschewistische Partei niemals die Petrograder Arbeiterklasse in den Oktoberumsturz führen können. Schon ein paar Zahlen verdeutlichen dies. Die bolschewistische Partei Petrograds hatte in der Stadt bei Ausbruch der Februarrevolution 1917 2 000 Mitglieder, Anfang April 16 000, Ende Juli 32 000 und Ende Oktober 50 000 Mitglieder (weit überwiegend FabrikarbeiterInnen). D. h., gerade einmal 4 % der Parteimitglieder Petrograds im Oktober waren erfahrene, in der Illegalität geschulte und geprägte Kader. Die Zahlen zeigen, dass die Partei eng verbunden mit, ja ein Bestandteil der Petrograder Arbeiteravantgarde war. Die Vorstellung, dass eine solche Partei durch bloße Befehlsstrukturen geführt werden könnte, ist naiv.
Rabinowitch weist „in detektivischer Kleinarbeit“ (so der französische Historiker Marc Ferro) nach, dass die bolschewistische Partei 1917 in strategischen Fragen uneins war und durch relativ selbständige Parteizellen innere Spannungen und Spaltungen aufwies. (S. xxiii)
Zentrale Forderungen im revolutionären Prozess wurden also von bzw. in der Arbeiteravantgarde eigenständig formuliert (häufig in Fabrikkomitees und in den Arbeiterräten) und fanden so, vermittelt über die bolschewistische Arbeiterbasis, ihren Weg in die Partei. Die Programmatik und Taktik der bolschewistischen Partei sind nur zu verstehen, wenn man sie in Wechselwirkung mit der Arbeiteravantgarde Petrograds sieht.
Zugleich muss jedoch unbedingt betont werden, dass es ohne die bolschewistische Partei und ohne ihre programmatisch-strategische Umrüstung in Lenins Aprilthesen (Ausrichtung auf die sozialistische Revolution) keine siegreiche Oktoberrevolution gegeben hätte. R sagt zu Recht, dass er „einen Sieg der Bolschewiki ohne Lenin für undenkbar“ (S. xIiii) hält.
Und mehr noch. Es war, auch darauf weist R. hin, „fast ausschließlich auf Lenins Eingreifen zurückzuführen, dass die Vereinigungsgespräche zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki alsbald scheiterten.“ (S. xIviii) und zwar bekämpfte er diese Linie u. a. deshalb, weil diese „vereinigte Partei“ die russischen Kriegsanstrengungen hätte unterstützen müssen, d. h., die Politik des revolutionären Defätismus, die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg und eine internationale sozialistische Revolution hätte aufgegeben werden müssen.
Aber es war nicht nur Lenins Härte gegen die politisch überholte und kompromisslerische Linie der bolschewistischen Parteiführung, die die innerparteiliche Durchsetzung der Aprilthesen ermöglichte. Die Partei war zwar im Petrograder Sowjet noch eine kleine Minderheit, aber sie hatte inzwischen in Petrograd 16 000 Mitglieder. Diese Mitglieder waren, wie gesagt, ein Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds und trugen die „Stimmungen der Massen“, zumindest der fortgeschrittensten Teile, in die Partei. Lenins Aprilthesen sind gewissermaßen auch Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Arbeiteravantgarde und Partei, und zwar inhaltlich („Forderungen“) als auch strategisch (Ausrichtung auf eine sozialistische Revolution durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiterräte). Dies war auch der Grund, warum Lenin erfolgreich mit der Mobilisierung der Parteibasis gegen große Teile der Parteiführung drohen konnte, um die Partei umzurüsten. D. h., es zeigte sich, dass zumindest zeitweise ein Teil der Arbeiteravantgarde weiter war als die Partei, genauer: die Parteiführung (wie schon in der Revolution 1905).
Es wird hier nicht nur die Wichtigkeit eines revolutionären Programms (Aprilthesen) und einer revolutionären Führung deutlich, es zeigt auch, dass die Entstehung eines solchen Programms kein bloßer theoretischer Akt ist, dessen Ergebnisse dann der Klasse zu vermitteln sind, sondern dass die Entwicklung eines solchen Programms nur in Wechselwirkung mit den Klassenkämpfen und mit der Verankerung der RevolutionärInnen in diesen Kämpfen verstanden werden kann.
Wir müssen uns heute vor Augen halten, dass wir weit davon entfernt sind, ein revolutionäres Programm zu haben. Wir sind heute weitgehend darauf zurückgeworfen, revolutionäre Prinzipien (inhaltlich und taktisch) zu propagieren/verteidigen und uns mit unseren begrenzten Kräften an Kämpfen zu beteiligen und dies dann programmatisch zu verarbeiten.
Alle angesprochenen Probleme zeigen sich besonders in den „Juli-Tagen“. Deshalb lautet nicht zufällig die Überschrift des 1. Kapitels (nach Vorwort bzw. Einleitung zur deutschen und englischen Ausgabe) „Der Juli-Aufstand“. Wie unter einem Brennglas fokussiert, kann man hier besonders den Aspekt des Verhältnisses Arbeiteravantgarde Partei betrachten. Ende Juli hatte die bolschewistische Partei noch nicht die Mehrheit der Petrograder ArbeiterInnenklasse hinter sich, aber die Partei war schon eine bedeutende Kraft in Petrograd. Sie hatte in der Stadt 32 000 Mitglieder, hinzu kamen 2000 Soldaten der bolschewistischen Militärorganisation, die wiederum einen „parteilosen“ Club von 4000 Soldaten führte.
Abgesehen von den z. T. chaotischen und schnell wechselnden Umständen war das Zentralkomitee der Bolschewiki nur bedingt in der Lage, diese Partei zu lenken und zu führen. R. schreibt dazu im Vorwort der deutschen Ausgabe, dass „die Julitage zwar ein authentischer Ausdruck des Volkszorns über die mageren Ergebnisse der Februarrevolution waren, dass aber zugleich radikale Teile des bolschewistischen Petersburger Komitees (das meint die Petersburger Partei, M. E.) und der Militärischen Organisation der Partei auf den Druck ihrer militanten Anhängerschaft in den Fabriken und Garnisonen Petrograds hin den Aufstand aktiv vorantrieben – entgegen dem ausdrücklichen Willen Lenins und des Zentralkomitees der Partei. Das Zentralkomitee, so stellte sich heraus, hatte bewaffneten Aktionen gegen die Regierung eine eindeutige Absage erteilt.“ (S. xxii) Die einfachen Parteimitglieder, zur überwältigenden Mehrheit der Partei erst nach der Februarrevolution beigetreten, waren keine marxistisch geschulten Kader, sie wollten revolutionäre Aktionen, so dass der Druck auf die Partei erheblich war, und diesem Druck konnte auch die zentrale Parteiführung nur mit Mühe widerstehen.
Ein Schlaglicht: Als Lenin am 4. Juli gedrängt wurde, auf einem Balkon zu einer bewaffneten Demonstration zu reden, lehnte Lenin zunächst „in der Hoffnung ab, dass seine Weigerung seine Ablehnung der Demonstration ausdrücken würde. Aber auf Drängen der Kronstädter Bolschewiki-Führer hin stimmte er schließlich zu. Als er auf den Balkon im zweiten Stock hinaustrat, um sich an die Matrosen zu wenden, knurrte er einige Funktionäre der Militärorganisation an: ‚Man sollte euch dafür verdreschen‘ .“ (S. 13 f.)
Z. T. mussten Führungskader der Petrograder Partei ihren militanten Mitgliedern auch entgegenkommen, um ihre Hinwendung zu den Anarchisten zu verhindern.
Weil die Arbeiterbasis Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds war und eben alles andere als ein bloßer Befehlsempfänger des ZK, gab es nicht nur Auseinandersetzungen in der Parteiführung (z. B. mit dem rechten Flügel um Kamenjew, aber auch z. B. zwischen Lenin und den praktischen Aufstandsführern vom Oktober), sondern die bolschewistische Basis in Petrograd wurde in den Juli-Tagen förmlich zerrissen zwischen der Parteilinie des ZK und der vorpreschenden Arbeiteravantgarde Petrograds. Nur das hohe Ansehen einzelner Parteiführer (insbes. Lenins) und die Tatsache, dass es links der Bolschewiki keine bedeutende organisatorische Kraft gab, verhinderten den (halben) Aufstand und vermutlich auch eine Spaltung der Partei.
Wie sich bald herausstellte, war die taktische Linie des ZK richtig. Sie verhinderte einen vorzeitigen Aufstand und damit eine vom übrigen Land isolierte „Petrograder Kommune“. Nichtsdestotrotz waren die Ergebnisse dieses mühsam verhinderten Aufstandes ein Rückschlag. R. schreibt: „Die ungeduldigen Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen, die sich bisher um die Bolschewiki geschart hatten, gingen aus den Juli-Ereignissen geschwächt und zumindest vorübergehend demoralisiert hervor“ (S. 23) Auch die Partei wurde in die Defensive gedrängt, unterlag Repressionen, verlor vorübergehend an Einfluss und hatte „zumindest bei einigen bolschewistischen Organisatoren in den Fabriken den Glauben in ihre eigene höhere Parteiführung untergraben“. (S. 92) Allerdings gab es keine Massenaustritte.
Insgesamt zeigen die Juli-Ereignisse, dass der Einfluss der Arbeiteravantgarde auf die revolutionäre Partei ambivalent ist und durchaus nicht immer und automatisch positiv zu werten ist. Und diese Ereignisse zeigen auch exemplarisch, dass die Partei gezwungen sein kann, aus übergeordneten taktischen Erwägungen, sich sogar der Arbeiteravantgarde entgegenzustellen. Dazu ist es auch bei kleinen Organisationen nötig, Kader herauszubilden, die zur Standhaftigkeit, zur Fähigkeit, auch gegen den Strom (in der organisierten Linken und/oder der ArbeiterInnenbewegung) zu schwimmen, in der Lage sind.
Die Oktoberrevolution zeigt aber auch, dass auf dem Gebiet der Taktik, genauer gesagt der Taktik der revolutionären Machtergreifung, die revolutionäre Partei durch nichts zu ersetzen ist. Die zentrale Bedeutung der Taktik zeigte sich in jeder Phase zwischen der Februar- und Oktoberrevolution. Die verschiedenen Wendungen und Auseinandersetzungen in der bolschewistischen Partei werden von Rabinowitch akribisch nachgezeichnet.
In revolutionären Situationen (nicht nur dann, aber da entscheidend) sind revolutionäres Bewusstsein der ArbeiterInnenmassen und Programm notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Sieg des revolutionären Aufstandes. Dieser setzt voraus, den richtigen Zeitpunkt, den der tiefsten Schwäche der Bourgeoisie, zu erkennen (hier geht es u. U. um Tage, ja selbst Stunden). Der Schlag muss weiter am richtigen Ort gegen das entscheidende Machtzentrum des Klassenfeindes geführt werden. Nicht zuletzt ist eine richtige Einschätzung der Gesamtlage des Landes mit all ihren Ungleichzeitigkeiten vonnöten, um Spaltungen im Lager der Herrschenden zu erkennen und auszunutzen und zu verhindern, dass sich Spaltungen im eigenen Lager zur Katastrophe auswachsen. Beispielsweise gibt es fast immer Gegensätze zwischen den großstädtischen Zentren der Revolution und dem übrigen Land (siehe die Julitage in Petrograd).
All dies können z. B. Räte prinzipiell nicht leisten, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil revolutionäres Bewusstsein allein noch kein Handlungskonzept umfasst (was für einen Aufstand lebensnotwendig ist), sondern weil sie ja auf der einen Seite gerade die Heterogenität der Unterdrückten widerspiegeln, was wiederum auf der anderen Seite aber ihre Stärke ist.
Revolutionäre Politik bedeutet in einem solchen Moment, aufgrund politischer Erfahrungen und organisatorischer Strukturen die Mehrheit in den Räten in den Aufstand zu führen. All dies ist ohne revolutionäre Partei unmöglich.
Um die Partei darauf vorzubereiten, hatte Lenin im April 1917 gekämpft und der bolschewistischen Partei ab April 1917 eine neue Ausrichtung gegeben. In der 4. These der Aprilthesen steht unmissverständlich, dass „die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind“, und die generelle taktische Ausrichtung wird gleich mitgeliefert: „Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerlässlichen Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren, damit die Massen ihre Fehler durch Erfahrung überwinden.“
Alles scheint klar zu sein. Trotzdem musste die Partei z. T. abrupte taktische Wendungen vornehmen. Von Rabinowitch wird aufgezeigt, wie die bolschewistische Partei vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und schwerer innerparteilicher Konflikte diese Wendungen vollzog. Häufig war Lenin die treibende Kraft, aber er setzte sich nicht immer durch. Die taktischen Wendungen waren dabei z. T. so scharf, dass z. B. sogar die Losung „Alle Macht den Räten“ vorübergehend fallengelassen wurde.
Auffällig ist bei diesen taktischen Wendungen vor allem zweierlei: 1. Der Druck der Massen war z. T. so stark, dass Parteibeschlüsse nicht durchzuhalten waren. Es „sahen viele Massenorganisationen in Petrograd, ungeachtet der Parteibeschlüsse, in einer revolutionären Sowjetregierung die Lösung ihrer dringendsten Probleme. Zur Zeit der Kornilow-Affäre (der Versuch eines reaktionären Putsches, M. E.) Ende August wurde das Ziel einer ausschließlich sozialistischen Regierung von fast allen Petrograder Arbeiter und Soldaten geteilt; so waren auch die Bolschewiki gezwungen, formell ihren alten Schlachtruf ‚Alle Macht den Sowjets!‘ wiederzubeleben.“ (S. 130 f.)
2. Lenin, der sich lange Zeit versteckt halten musste, kam durch seine Isolierung in Teilen zu Fehleinschätzungen der „Massenstimmung“. Er forderte z. B. (ab Mitte September) einen „sofortigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten“ (S. 263) Die Organe des Aufstands sollten die Fabrikkomitees sein. Rabinowitch schreibt dazu: „Zum Teil wegen ihres ständigen Kontakts mit Arbeitern und Soldaten verfügten Führer wie Trotzki, Bubnow, Sokolnikow und Swerdlow über eine, wie es scheint, realistische Einschätzung darüber, wo die Grenzen des Einflusses der Partei und ihrer Autorität bei den Massen lagen…Folglich begannen sie jetzt, die Eroberung der Macht und die Bildung einer neuen Regierung mit der baldigen Einberufung eines nationalen Sowjetkongresses in Zusammenhang zu bringen – und zwar, um sich die Legitimität der Sowjets in den Augen der Massen zunutze zu machen.“ (S. 275 f.) Dieser Konflikt zwischen Lenin und den eigentlichen Organisatoren des Oktoberumsturzes blieb bis kurz vor dem Umsturz bestehen.
Taktisches Manövrieren hat immer zwei Hauptgefahren: a) dem Druck von Massenbewegungen bzw. Massenstimmungen nachzugeben. Um sich nicht zu isolieren, werden Zugeständnisse gemacht, die der revolutionären Orientierung mittel- und langfristig schaden. b) Ein „gegen den Strom Schwimmen“ birgt immer die Gefahr, prinzipienfest, aber taktisch unflexibel zu sein und dadurch die Isolierung von den Massen noch zu verstärken. Diese Gratwanderung ist nicht zu vermeiden.
Sicherlich kann Rabinowitchs Werk die Lektüre von Trotzkis dreibändiger „Geschichte der Russischen Revolution“ nicht ersetzen. Trotzkis Werk ist nicht nur umfangreicher, sondern ganz anders politisch gewichtet. Aber, die Schwerpunktsetzung Rabinowitchs auf die „mittlere Ebene“ der Bolschewiki bereichert die Kenntnisse und das Bild von der Oktoberrevolution ungemein.
Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd.1, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen, 2012, ISBN 978-3-88634-097-2