Arbeiter:innenmacht

Einleitung: Trotzki’s Rolle in der Geschichte

Richard Brenner, November 2013

Seit Beginn der Zivilisation ist die Geschichte vom permanenten Kampf zwischen Klassen geprägt. Die Besitzenden und die Habenichtse kämpfen um die Kontrolle des gesellschaftlichen Reichtums. Dieser Konflikt geht manchmal schleppend und verbissen vor sich, dann wieder bricht er offen aus: in Rebellion, Bürgerkrieg oder Revolution.

Von den Mächtigen wird diese geschichtliche Wahrheit zu verschleiern versucht. Ihre Geschichtsschreibung reduziert die historische Entwicklung auf Taten „großer Männer“. Wir hören von den Pharaonen im alten Ägypten, von „ihren“ Tempeln, Grabstätten und Pyramiden. Doch die Menschen, die sie erbaut haben, werden nicht erwähnt; nichts wird berichtet über die Kämpfe um ihre Entlohnung mit Geld oder Getreide, die oft zurückgehalten wurden, damit Priester und Pharaonen sie in ihren Tempeln horten konnten. Viel wird erzählt über die Eroberungen von Julius Caesar und der römischen Kaiser, wenig aber erfährt man über den großen Sklavenaufstand unter Spartakus, dessen Sklavenheer einst große Teile Italiens kontrollierte.

Auch die Geschichte der modernen Welt ist vom Klassenkampf geprägt. Das heutige Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, hat sich nicht allmählich und friedlich entwickelt; es war Ergebnis blutiger Kriege und großer Revolutionen. Die Vorfahren unserer gegenwärtigen Herrscher mussten zuerst die Herrschaft des alten Land besitzenden Adels stürzen. Im britischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts und in der Französischen Revolution 1789-93 schlugen die Vertreter der aufstrebenden Kapitalistenklasse, des Bürgertums, den absolutistischen Königen Charles I. und Ludwig XIV. die Köpfe ab und führten neue Gesetze ein, die dem Kapitalismus zum Durchbruch verhalfen.

Aber die Geschichte brachte nicht nur die Kapitalisten an die Macht. Die moderne Industrie gebar eine neue Klasse: die Arbeiterklasse, das Proletariat. Diese riesige und wachsende Klasse, die sich in den großen Fabriken konzentrierte, konnte ihren Lebensunterhalt nur dadurch bestreiten, dass sie ihre Arbeitskraft für Lohn verkaufte. Schlecht behandelt, zu langer, menschenunwürdiger Arbeit für einen Hungerlohn gezwungen, ohne elementare demokratische und  Menschenrechte, nahmen diese modernen LohnsklavInnen ihren bis heute andauernden Kampf gegen die Kapitalisten auf, der fortbestehen wird, solange es Kapitalismus gibt.

Das britische Proletariat gründete die erste demokratische politische Bewegung dieser neuen Klasse: die Chartisten. 1842 führten sie in Newport einen Generalstreik und einen bewaffneten Aufstand durch, bei dem erstmals in der Geschichte vom Hissen roter Fahnen berichtet wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schickten sich britische ArbeiterInnen an, Massengewerkschaften aufzubauen, um Lohn und Arbeitsbedingungen verteidigen zu können, oft gegen den erbitterten Widerstand der Unternehmer.

Die deutschen ArbeiterInnen gingen noch einen Schritt weiter. Sie gründeten 1875 die erste politische Massenpartei, die zum Sturz des Kapitalismus antrat. Als Ziel verfolgte sie ein neues System, das auf der Abschaffung der Lohnsklaverei und des Profits fußt und das Konkurrenz durch Kooperation  ersetzt – den Sozialismus. Die Sozialdemokratische Partei organisierte unter Einfluss der kommunistischen Ideen von Marx und Engels ArbeiterInnen in jedem Lebensbereich, behauptete sich gegen Verfolgung und Verbot durch die Regierung während des „Sozialistengesetzes” unter Kanzler Bismarck und wurde zur größten politischen Partei Deutschlands und zum Eckpfeiler einer starken internationalen Vereinigung der sozialistischen Arbeiterparteien: der II. Internationale.

In Frankreich war die Arbeiterbewegung durchdrungen von der Tradition der bürgerlichen Revolution von 1789. Aber wenig mehr als 80 Jahre später stand Paris vor der Bewährungsprobe einer Revolution, die sich gegen die Bourgeoisie selbst richtete. 1871 erhoben sich die ArbeiterInnen von Paris, bewaffneten sich und errichteten die erste Arbeiterregierung überhaupt: die Pariser Kommune. Sie wurde nach einer Belagerung durch Kräfte, die kapitalistisches „Recht und Gesetz“ durchsetzten, im Blut ertränkt. Trotzdem war die Kommune ein Beweis dafür, dass das Proletariat eine revolutionäre Klasse ist, die nicht nur bereit ist, heldenmütige Opfer zu bringen, sondern auch zum Aufbau einer neuen Gesellschaft fähig ist, einer Gesellschaft ohne Kapitalisten, Berufspolitiker und Bürokraten.

Die Einsicht in den Klassenkampf ist entscheidend für das Verständnis des Auf und Ab der Geschichte, ihrer Gefahren und Verheißungen. Anstelle einer formellen Abfolge von Herrschern, Feldherren und Päpsten können wir auch die Wirkung der Volksmassen auf die Geschichte untersuchen. Unser besonderes Augenmerk gilt den scharfen Interessenkonflikten zwischen den Klassen und den Kämpfen um Entlohnung, Nahrung, Wohnung, Freiheit und politische Macht.

Dieser Klassenkampf ist die entscheidende Triebkraft der Geschichte: SklavInnen gegen ihre Herren, das Bürgertum gegen den Adel und Arbeiterinnen gegen die Bourgeoisie. Er taucht das große Geschehen von Unterdrückung und Widerstand, von Barbarei und Menschlichkeit in ein neues Licht. Die „großen Männer“ der Geschichte fassen ihre Entschlüsse nur scheinbar unabhängig; in Wahrheit beschränkt sich ihre Handlungsfreiheit auf den jeweiligen Stand der Klassenkämpfe. Marx schrieb dazu:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.” (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 7, S. 115)

Damit soll die Rolle Einzelner in der Geschichte nicht geleugnet werden. Eine Klasse hat weder Hände zur Arbeit noch ein Gehirn zum Denken; sie setzt sich aus Millionen von Einzelwesen zusammen. In einer Regierung oder einer politischen Bewegung entscheiden die obersten KlassenvertreterInnen, wie den Klasseninteressen entsprechend zu handeln ist.

In seiner revolutionären Vergangenheit verfügte das Bürgertum über wahrhaft revolutionäre Führer wie Cromwell und Robespierre, die alles, was den Fortschritt hemmte, aus dem Weg räumten und die revolutionäre Zerstörung der Monarchie und des Feudalsystems anführten. Sie verdanken ihren Platz in der Geschichte ihrem kompromisslosen Kampf für die Interessen der aufstrebenden Klasse.

Auch die Arbeiterbewegung hat solche herausragenden Persönlichkeiten. Eine ihrer Größten ist Leo Trotzki, der an der Spitze des bislang erfolgreichsten ArbeiterInnenkampfes der Geschichte stand. Im Oktober 1917 war er in Petrograd (St. Petersburg), der Hauptstadt Russlands, Vorsitzender des Rates der Arbeiter- und Soldatenabgeordneten (russ.: Sowjet). Er leitete den bewaffneten Aufstand zum Sturz der kapitalistischen Regierung. Die Geheimpolizei und der Staatsapparat wurden aufgelöst und stattdessen ein Staat etabliert, der auf von den ArbeiterInnen direkt gewählten Delegierten beruhte. Die Oktoberrevolution sollte den Lauf der Geschichte ändern.

Anders als die Pariser Kommune überlebte die russische Revolution länger als nur ein paar Wochen. Doch auch sie war unmittelbar bedroht. Armeen aus 14 kapitalistischen Staaten, darunter Deutschland, Britannien und Japan, marschierten in Sowjetrussland ein und kämpften an der Seite der „weißen Armeen”, die von reaktionären zaristischen Generälen aufgestellt worden waren. Trotzki nahm den Aufbau der neuen Roten Armee aus den erschöpften und kriegsmüden Bauern und ArbeiterInnen in Angriff, einer Armee, wie es sie weder vorher noch danach gegeben hat. Sie widerstand den Weißen und besiegte sie schließlich.

Anders als engstirnige PolitikerInnen bürgerlichen Typs schaute Trotzki über die Landesgrenzen hinweg auf die Arbeiterbewegungen Deutschlands, Britanniens, Frankreichs, Chinas und des Ostens. Er rief sie zur Hilfe für die Sowjetrepublik durch den Kampf gegen die Kapitalisten in ihren eigenen Ländern auf. Dieser Internationalismus war ein wesentlicher Bestandteil von Trotzkis politischer Anschauung.

Weil die ArbeiterInnen der westlichen Staaten dem russischen Beispiel nicht mit eigenen siegreichen Revolutionen folgten, blieb Russland isoliert und wurde zurückgeworfen. Eine wachsende Schicht, eine Kaste von Bürokraten begann, ihre eigenen Interessen über die internationale Revolution und die Arbeiterklasse zu stellen. Ab 1923 warnte Trotzki – wie zuvor schon Lenin – vor diesem Abgleiten in bürokratische Diktatur und Nationalismus. Er sagte dem kommenden Diktator Stalin ins Gesicht, er sei „der Totengräber der russischen Revolution”.

In einer großen Unterdrückungskampagne wurden Hunderttausende aufopferungsvolle KommunistInnen durch Stalin und seine Gehilfen inhaftiert, gefoltert und ermordet. Trotzki war der einzige führende russische Revolutionär, der den Kampf gegen dieses blutige Regime, das sich die politische Macht im ersten Arbeiterstaat der Welt durch Lüge und Gewalt aneignete, nie aufgab.

Trotzki wurde in die Verbannung geschickt, zunächst in den abgelegenen sowjetischen Osten. Dann wurde er in die Türkei ausgewiesen und kam über Norwegen, Frankreich schließlich nach Mexiko.  Doch wo immer er sich auch aufhielt, stets führte Trotzki einen furchtlosen Feldzug gegen den Stalinismus, gegen dessen Preisgabe der Ziele und Ideale der Revolution von 1917 und dessen Irreführung der kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt.

Er sammelte jene KommunistInnen, die in Opposition zum Stalinismus standen und sich weiter der revolutionären Sache verschrieben hatten, in einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution, der 4. Internationale. Seinem kämpferischen Leben wurde erst durch einen vom Stalinismus gedungenen Mörder, der Trotzki mit einem Eispickel erschlug, am 19.8.1940 in seinem mexikanischen Exil ein Ende gesetzt.

Die Beschäftigung mit Trotzkis Leben ist weder ein Rückfall in die Geschichtstheorie von den „großen Männern“ noch ein Kult um Trotzkis Person, in Anlehnung an den vom ihm so verachteten Kult um Stalin.

Die trotzkistische Bewegung der Gegenwart trägt seinen Namen nicht, weil sie in der Vergangenheit befangen ist, sondern weil sie für die Zukunft kämpft. Leo Trotzki war ein Revolutionär. Wir studieren sein Leben, seine Taten und Schriften, weil wir uns ebenfalls der Revolution verschrieben haben.

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