Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1072, 9. Oktober 2019
Am 9. Oktober begann der türkische Angriff auf das kurdische Rojava mit Luftschlägen, Bombardements und heftigem Artilleriefeuer. Der türkische Präsident Erdogan und die Armee des Landes ließen schon seit Tagen keinen Zweifel daran, dass ein blutiger Angriff von langer Hand vorbereitet war.
Das türkische Regime betrachtet eine Besetzung Rojavas oder zumindest von Teilen des kurdischen Kantons als sein „Recht“, das ihm als Regionalmacht bei der Neuordnung Syriens zustehe. Die kurdische Bewegung wird ebenso wie die PKK und alle anderen kurdischen Kräfte in der Türkei als „terroristisch“ verleumdet – ein durchsichtiges Manöver, um den Angriff auf Rojava mit fadenscheinigen Gründen zu legitimieren.
Den öffentlich verkündeten Abzug bzw. Rückzug von US-Truppen verstand nicht nur die Türkei als Signal, dass die USA ihre einstigen Verbündeten, die kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union) und von ihr dominierten „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF), endgültig fallengelassen haben. Schon 2018, als die türkische Armee und von ihr unterstützte islamistische Milizen das kurdische Efrîn okkupierten und ein eigenes Terrorregime errichteten, versagten die USA ihren Verbündeten jegliche Hilfe.
Dies offenbart einmal mehr: Wer sich auf einen imperialistischen Verbündeten verlässt, ist am Ende selbst verlassen. Die kurdischen Selbstverteidigungskräfte PYD, YPG/JPG und die SDF trugen bekanntermaßen die Hauptlast im Krieg gegen den klerikal-faschistischen sog. „Islamischen Staat“ (IS). Auch wenn wichtige Teil des US-Militärs, der Republikanischen und Demokratischen Partei ähnlich wie die meisten europäischen ImperialistInnen mit Trumps Syrien-Politik nicht übereinstimmen, eine härtere Gangart gegenüber Erdogan fordern und die SDF längerfristig als Verbündete und Fußtruppen für die eigenen Interessen halten wollen, betrachten letztlich auch sie die kurdische Bewegung nur als Mittel zum eigenen, imperialen Zweck. Das Bündnis der PYD mit den USA hat den türkischen Angriff letztlich nicht aufgehalten, sondern nur aufgeschoben auf den Moment, wo es den USA nicht mehr nützlich erschien.
Nun wird die Türkei unter Erdogan versuchen, die Lage zu ihren Gunsten zu nutzen, um einen bis 20–30 Kilometer tiefen „Korridor“ an der türkischen Grenze zu errichten und zumindest Teile der kurdischen Gebiete zu annektieren. Mit dem russischen Imperialismus, den der Despot vom Bosporus sicherlich fürchtet, dürfte Erdogan ein Abkommen erzielt haben. Darauf deuten jedenfalls seine eigenen Aussagen hin. Die zeitweilige Überlassung von Teilen des syrischen Grenzgebietes scheint auch eine Art Entschädigung für die Übergabe der Kontrolle der Region um Idlib an Assad und seine SchergInnen darzustellen. Auch wenn Erdogan die Invasion als Zeichen der Stärke darstellt, so sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei ihre Kriegsziele in Syrien in den letzten Jahren herunterschrauben musste. Mit dem Sieg des Assad-Regimes musste sich Ankara längst abfinden. Nur die Vernichtung jeder Form kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die Vernichtung eines „KurdInnenstaates“ bleibt als Kriegsziel, das jedoch mit brutaler und mörderischer Konsequenz verfolgt wird.
Daher wird die PYD als „terroristisch“ diffamiert. Die türkische Öffentlichkeit soll durch die gleichgeschalteten Medien – unter tatkräftiger Mithilfe der nationalistischen Opposition – auf Krieg eingeschworen werden. Mittels enormer waffentechnischer Überlegenheit soll die von ihren NATO-Verbündeten (und neuerdings auch von Russland) hochgerüstete Armee die kurdische Bevölkerung demoralisieren und die KämpferInnen der SDF, von YPG und YPI durch massive Bombardements vernichten oder vertreiben. Islamistische Milizen und demoralisierte Einheiten der ehemaligen FSA, die praktisch zu Erdogan-SöldnerInnen mutierten, sollen zumindest die an die Türkei grenzenden Gebiete Rojavas besetzen, die kurdische Bevölkerung und alle weiteren vertreiben, die sich ihrer Herrschaft von Erdogans Gnaden nicht beugen wollen.
Erdogans Invasion, würde sie Erfolg haben, liefe praktisch auf die ethnische Säuberung dieser Gebiete hinaus, die von der türkischen Armee und ihren reaktionären Verbündeten besetzt wären. Die Vertreibung Hunderttausender in einem immer kleineren und immer unhaltbareren „Restkanton“ Rojava ist Teil des Plans, alle Formen und Institutionen kurdischer Selbstverwaltung zu vernichten.
Dies stellt das eigentliche Kriegsziel der Türkei dar, mit dem die USA und die EU, aber auch Russland, Iran und Assad durchaus leben können. Letzterer bietet zur Zeit zwar den KurdInnen seinen „Beistand“, doch dieser ist freilich nur zu haben, wenn sich die PYD vollständig seinem Regime, seiner Armee, seinen Interessen unterordnet. Gerade die Erfahrung des Bündnisses mit dem US-Imperialismus sollte den KurdInnen klarmachen, dass solche opportunistischen Abenteuer letztlich nicht ihnen, sondern nur ihren „Verbündeten“ nutzen, die sie jederzeit fallenlassen werden, wenn es ihnen opportun erscheint. Eine solche opportunistische Politik hilft nicht nur den ImperialistInnen oder reaktionären Regimen, sie unterminiert auch die Möglichkeit, dort Verbündete zu finden, wo es allein verlässliche für die kurdischen Massen geben könnte – unter den ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie auf dem ganzen Globus.
Das Erdogan-Regime war immer eine aktive Partei im Kampf um die reaktionäre Erstickung der ursprünglich demokratischen syrischen Revolution. Es war immer an der Vernichtung der kurdischen Bewegung in Syrien und erst recht in der Türkei interessiert. Jetzt versucht die Regionalmacht, sich ihren Anteil an der „Beute“ und damit ein „Mitspracherecht“ bei der zukünftigen Ordnung Syriens zu sichern.
Zynisch versucht Erdogan auch das sog. „Flüchtlingsproblem“ zu lösen. Hunderttausende syrische Geflüchtete sollen aus der Türkei oder der Provinz Idlib in den zu erobernden Gebieten Rojavas „angesiedelt“ werden. Gefragt werden sie dabei nicht. Auch sie sollen gegen die kurdische Bevölkerung und Bewegung in Stellung gebracht werden, um eine spätere „Ordnung“ auf nationalistischen Gegensätzen und Unterdrückung der KurdInnen aufzubauen.
Gegen die offen reaktionäre Politik erheben die VertreterInnen der EU, darunter auch die Bundesregierung, „Bedenken“. Der scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker fordert die Einstellung der türkischen Angriffe, zumindest aber ein „verhältnismäßiges“ Vorgehen. Der deutsche Außenminister will ebenfalls eine Einstellung des Angriffs und fordert die Türkei auf, „ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen“ – eine diplomatisch verlogene Formulierung, die bei aller Kritik am Erdogan-Regime implizit anerkennt, dass es in Rojava legitime Sicherheitsinteressen verfolgt. Solche „FreundInnen“ werden für die KurdInnen keinen Finger rühren. Erstens sind sie (und wohl auch große Teile des US-Establishments) an einer Türkei interessiert, die ökonomisch nicht zusammenbricht und auch nicht ins Lager von Putin abwandert. Zweitens kritisieren sie zwar Erdogans Flüchtlingspolitik als zynisch – aufnehmen wollen sie aber selbst keinen einzigen Menschen aus Syrien. Zur Not lassen eben auch sie einmal mehr die KurdInnen fallen.
Erdogan und die türkische Regierung sind sich dieser politischen Gemengelage bewusst. Sie wissen, dass sie, abgesehen von Rhetorik, bei einer Invasion, die sich auf Teile Rojavas beschränkt, relativ wenig unmittelbare Probleme zu erwarten haben, solange Russland diese toleriert.
Damit will die türkische Armee zugleich das Risiko großen, dauerhaften Widerstandes verringern. Sie könnte militärische Erfolge als Mittel nutzen, von den inneren Problemen im Land, allen voran der ökonomischen Krise, abzulenken. Schließlich erweist sich „das Volk“ für den nationalistischen Wahn dann am empfänglichsten, wenn das „eigene“ Land Siege vorzuweisen hat. Ein Sieg Erdogans würde daher nicht nur für hunderttausende EinwohnerInnen Rojavas und für das kurdische Volk eine barbarische Niederlage bedeuten, er soll auch dazu dienen, die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in der Türkei an „ihren“ Präsidenten zu binden, also Erdogan und seine Herrschaft im eigenen Land zu stärken.
Daher müssen die gesamte internationale ArbeiterInnenbewegung, die Linke, alle demokratischen und fortschrittlichen Kräfte gegen die drohende Invasion der Türkei mobilisieren und, für den Fall des Angriffs, für deren Niederlage eintreten. Wir treten für den Sieg der SDF und der kurdischen Selbstverteidigungskräfte ein – und damit auch dafür, dass sie die Mittel für diesen Sieg erhalten.
Der Kriegstreiber Erdogan wird nur gestoppt werden können, wenn Millionen in Solidarität mit Rojava demonstrieren, wenn das türkische Regime und die Armee selbst unter Druck geraten. Jede militärische Unterstützung, jede Waffenlieferung an die Türkei muss sofort beendet werden. Die ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften, müssen die militärische und wirtschaftliche Unterstützung Erdogans durch Streiks und ArbeiterInnenboykotts unterlaufen.
Die Grenzen der EU müssen für die syrischen Flüchtlinge geöffnet werden, auch um zu verhindern, dass sie für Erdogans Krieg missbraucht werden. Während die EU und andere imperialistische Staaten Erdogan verhalten kritisieren und die KurdInnen für ihren Kampf gegen den IS loben, so verweigern sie diesen nicht nur Hilfe – sie verfolgen vielmehr weiter kurdische Organisationen wie die PKK in Europa. Damit muss Schluss sein – Aufhebung aller Verbote kurdischer und türkischer revolutionärer, linker und demokratischer Organisationen in der EU und in Deutschland!
Auch wenn die Türkei die Invasion in Rojava beschränken will und daher zu vermeiden sucht, dass es zu einer offenen Konfrontation mit syrischen, russischen, iranischen oder auch verbliebenen US-amerikanischen Streitkräften kommt, so kann der Angriff sehr wohl zu einem Flächenbrand werden. Der Nahe Osten ist längst zu einem zentralen Aufmarschgebiet im Kampf um die Neuaufteilung der Welt geworden – daher kann jeder Konflikt auch entgegen den unmittelbaren Kriegszielen und Absichten der einzelnen AkteurInnen internationalen, globalen Charakter annehmen. Auch daher muss die internationale ArbeiterInnenbewegung gegen den türkischen Angriff mobilisieren. Ein erzwungener Rückzug der türkischen Armee oder ein erfolgreicher Widerstand der KurdInnen könnten jedoch in Verbindung mit dem Aufbau einer internationalen Solidaritätsbewegung, von Protesten, Streiks und Demonstrationen auch zu einer fortschriftlichen Internationalisierung der Auseinandersetzung führen – nämlich zur engeren Verbindung der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in der Türkei, Syrien, im Iran oder auch dem Irak.