Tobi Hansen, Infomail 1011, 14. Juli 2018
Nun laufen also Massenabschiebungen nach Afghanistan – 69 vor zwei Wochen, 51 diese Woche. Der Innenminister feixt und freut sich, dass der Koalitionsvertrag endlich umgesetzt wird. Schließlich gilt Afghanistan schon seit der letzten Großen Koalition (GroKo) als „sicheres Herkunftsland“, nur leider wurden dem rassistischen Ansinnen der CSU zufolge bislang zu wenige abgeschoben. Bisher durften nur die sog. „GefährderInnen“, die unter direkter Überwachung des Verfassungsschutzes stehen, sog. IdentitätsverweigererInnen und Vorbestrafte abgeschoben werden. Diese Bestimmung wurde nunmehr gelockert. Unter den aktuellen Abschiebungen finden sich, wie auch der bayrische Innenminister Joachim Herrmann zugeben musste, beispielsweise nur 5 vorbestrafte und abgelehnte afghanische AsylbewerberInnen. Stolz verwies Herrmann außerdem darauf, dass mehr als 20 aus Bayern abgeschoben wurden, was für die CSU wiederum einen Erfolg darstellt.
Rassismus, Abschiebungen und Kriminalisierung von Geflüchteten sowie MigrantInnen sind immer menschenverachtend und zum Kotzen – es wird aber besonders widerlich, wenn der Innenminister darüber Witze macht. Einer breiteren Öffentlichkeit und sogar Teilen der Koalitionspartnerin SPD fiel das auf, als sich einer der 69 Abgeschobenen in Afghanistan umbrachte. Der 25-jährige Jamal Nasser M. erhängte sich in der Aufnahmestelle in Kabul. Er lebte seit 8 Jahren in Deutschland, ein Leben in Afghanistan war für ihn nicht mehr vorstellbar. Manche Medien und PolitikerInnen verstanden in der Situation vielleicht erstmals den Slogan „Abschiebung ist Mord“, zumindest war die Empörung groß. Dass die aktuellen EU-Vereinbarungen, die Abriegelung der italienischen Häfen im Juni zu mehr als 600 Toten im Mittelmeer geführt hatten, war eher eine Randnotiz geblieben, aber „immerhin“ fiel wieder der Skandal einer Migrationspolitik auf, die rassistische Grenz- und Abschiebepolitik mit humanitären Floskeln verbrämt.
Manche aus der SPD wie Juso-Chef Kühnert oder die ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Renate Schmidt fanden auch durchaus harte Worte, um Seehofer die Eignung zum Minister abzusprechen. Sie vergessen leider zu erwähnen, dass der Innenminister genau das umsetzt, was die SPD auch unterschrieben hat. Die sog. Obergrenze, die „sicheren Herkunftsstaaten“, die Beschränkungen beim Familiennachzug, die jetzt entstehenden ANKerzentren, Transitzonen oder Transfergefängnisse – all das waren und sind keine Allmachtsphantasien eines Seehofer, das ist der umgesetzte Koalitionsvertrag.
Dementsprechend schnell kippte selbst für SPD-Verhältnisse die Parteiführung um Nahles und Scholz bei der Frage der Transitzonen um. In diesen de facto Abschiebegefängnissen wird innerhalb von 48 Stunden entschieden, ob jemand berechtigt ist, Asyl zu bekommen oder nicht. Die SPD war zufrieden, als festgestellt wurde, dass die UN-Regelungen auch gelten sollen, die Zonen jetzt anders heißen und sich die Geflüchteten im Abschiebegefängnis „frei“ bewegen dürfen – also auf dem Gelände, nicht außerhalb davon.
Das Hauptproblem für die SPD-Führung war nämlich nicht der rassistische Koalitionsamoklauf von Seehofer an sich, sondern dass dieser fast die EU-Regelung gekippt hätte. Dort hatte die SPD-Spitze Merkel in fast allem unterstützt, was sie mit Kurz und Conte vereinbart hatte: die Aufrüstung von Frontex, die bessere Ausrüstung der libyschen Küstenwache, die selbst in Menschen- und Sklavenhandel involviert sein soll.
Hier gab es gegenüber den Unionsplänen zunächst Ablehnung. Etwas bekanntere „Linke“ wie Mattheis, Bülow und Kiziltepe wiesen darauf hin, dass im Koalitionsvertrag nichts von Transitzentren stehe und sie daher entsprechende Vorlagen ablehnen würden. Ähnlich die Jusos. Bei der Urabstimmung über die GroKo hatten sie sich noch am deutlichsten gegen die CSU-Pläne positioniert. Nun traten sie nur mit einer Pressemeldung von Kühnert an die Öffentlichkeit.
Ebenfalls verdächtig ruhig agiert die „Progressive Soziale Plattform“ zum Thema: fast nichts zur Migration, nichts, was irgendwie anti-rassistisch daherkommen würde. Hier verzichtet das zarte innerparteiliche Oppositionspflänzlein auf eine klare Haltung. Ob die viel genannte „Erneuerung“ der SPD so funktionieren wird, stand von Beginn an in den Sternen, aber nun verzichten auch die bisher oppositionell auftretenden MandatsträgerInnen auf eine Positionierung – so geht keine Opposition!
Stattdessen wird viel Sozialpolitik und oftmals auch Sozialromantik ausgekippt, was man alles tun könnte, wenn man denn nach den Prämissen einer „sozialen Gerechtigkeit“ regieren würde. Inwieweit das einhergeht mit rassistischer Politik gegenüber den MigrantInnen, wird nicht erklärt. Aber genau da wäre eine Positionierung bzw. Klarstellung wichtig.
Aus der Gerüchteküche der Gesamtpartei drang hervor, dass speziell der mitgliedsstarke Landesverband NRW auf eine schnelle Einigung mit der Union drängte. Angeblich soll dort die Abschiebepolitik besonders auf Bezirksebene „populär“ sein. Gleichzeitig wurde auch die „Horrorvision“ Neuwahlen an die Wand gemalt, um allzu „Kritische“ zum Schweigen zu bringen – schließlich liegen SPD und AfD in den Umfragen derzeit fast gleichauf.
Auch vom DGB war zur den Koalitionsauseinandersetzungen gar nichts zu vernehmen. Die Gewerkschaftsführungen stellten sich politisch taub beim Thema Migration. Dass Rassismus in der Klasse bekämpft werden muss, dass ohnedies schon überdurchschnittlich viele Gewerkschaftsmitglieder AfD wählen, scheint die Gewerkschaftsführung in ihrer Passivität noch zu bestärken. So werden die Rechten nicht bekämpft, sondern letztlich nur weiter bestärkt!
Ähnlich wie die Parteiführung haben sich auch die „Linken“ in der SPD darauf verständigt, die Ergebnisse des Koalitionsausschusses zur Migration als eine Niederlage Seehofers zu interpretieren. Die „Transitzentren“ wären vom Tisch, die AsylbewerberInnen hätten formal einen Anspruch auf Rechtsbeistand und müssten nach 48 Stunden in eine „ordentliche“ Einrichtung, also ein Lager überführt werden. Wer solche „Siege“ feiert, kann allerdings schwer verlieren. Zweifellos musste Seehofer der SPD einige Zugeständnisse machen – aber die gesamte Dynamik der aktuellen Praxis, der Verschärfung der EU-Politik, das Schmieden der „Allianz der Willigen“ mit Rassisten wie Kurz und Salvini verweist darauf, dass der „Koalitionskompromiss“ nur einen Schritt zur weiteren Verschärfung der rassistischen Politik der Bundesregierung darstellt. Die SPD und ihre „Linke“ liefern dazu einträchtig mit Angela Merkel die „humanitäre“ Begleitmusik. Während sie
Seehofer, die CSU und die AfD an den Prager stellen, hüllen sie den Mantel des Schweigens über die Politik von CDU und SPD, von Merkel und Scholz oder tun gar so, als ob nur Seehofer und nicht die gesamte Bundesregierung für die mörderische EU-Politik im Mittelmeer mitverantwortlich wäre.
Auch die Grünen waren im Chor der HeuchlerInnen führend mit dabei. Ihre „Humanität“ erweist sich als (Selbst-)Täuschung, wenn wir nur die Frage stellen, warum der Hamburger Senat aus SPD und Grünen Jamal Nasser M. ausgewiesen hat und damit Mitschuld am Tod des Geflüchteten trägt. Dazu erfahren wir auch von den Grünen nichts. Während eilig Spenden für die Seenotrettung gesammelt werden, die inzwischen auch strafrechtlich verfolgt wird, steht das Handeln grüner MinisterInnen oder Regierungschefs in Hamburg, Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Rheinland-Pfalz und Berlin nicht zur Debatte.
Bei der Heuchelei geht es aber leider noch einen Gang höher – auch die Linkspartei an der Regierung schiebt nach Afghanistan ab, auch diese Woche in Berlin, Thüringen oder Brandenburg.
Die Partei lehnt zwar den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ab und tritt angeblich irgendwie für offene Grenzen und gegen staatlichen Rassismus ein. Das ist aber dann Schall und Rauch, wenn es darum geht, was die Landesregierungen in Berlin, Thüringen und Brandenburg umsetzen. Thüringen führt Abschiebungen besonders effektiv durch. Dort wurden von Januar bis August 2017 52 Prozent aller Ausreisepflichtigen abgeschoben (in Bayern im Vergleichszeitraum „nur“ 23,2 Prozent), was dem Bundesland hinter dem Saarland den unrühmlichen zweiten Platz einbrachte.
Diese Realpolitik geht auf Kosten der Geflüchteten wie auch der verbliebenen Glaubwürdigkeit. Offenkundig ist es zu viel, von dieser irgendwie „sozialistischen“ Partei zu verlangen, für die Nicht-Abschiebung nach Afghanistan eine Koalition platzen zu lassen und den Konflikt mit Bundesinnenminister und Abschiebebehörden zu suchen. Sich real für die Geflüchteten einzusetzen und dafür auch mal Ämter in Regierungen sausen zu lassen – soweit geht die Empörung dann doch nicht.
Jene „GenossInnen“ in der SPD, die den rassistischen Kurs der Bundesregierung und ihrer Parteispitze nicht mittragen wollen, müssen nicht bloß Seehofer kritisieren, sondern vor allem mit der Koalition, der CDU und der Politik der SPD-Führung brechen, die am Ende des Tages jede Verschärfung durchwinken wird. An dieser Frage entscheidet sich derzeit aber auch bei den FunktionsträgerInnen der Linkspartei, ob hier jemand den Anfängen wehrt – oder eben nicht.
Wenn wir der Zuspitzung des staatlichen Rassismus, den Abschiebungen, dem täglichen Sterben im Mittelmeer etwas entgegensetzen wollen, dann brauchen wir einen Bruch mit dieser Politik des Sozialchauvinismus – und dürfen diese nicht mit einem weinenden, heuchelnden Auge letztlich durchgehen lassen. Dies ist ein Lackmustest für die ArbeiterInnenbewegung. Niemand möge sich über den Rechtsruck entrüsten, der gleichzeitig zur Politik der Führungen von SPD, Gewerkschaften, aber auch der Linkspartei schweigt.
Wir brauchen eine antirassistische Einheitsfront aus Organisationen der Klasse, den MigrantInnen, Geflüchteten, den AktivistInnen der Seenotrettung, den SupporterInnen vor Ort, welche real gegen den Rassismus der Rechten, der Regierung und der EU kämpft. Das kann dem Rechtsruck etwas entgegensetzen – nicht die Krokodilstränen der geheuchelten Empörung!
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