Frederik Haber, Revolutionärer Marxismus 48, August 2016
Er wollte ein Held werden. Nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg von Syriza im Januar 2015 war er Finanzminister geworden und stand als solcher im Scheinwerferlicht der harten Auseinandersetzungen zwischen der griechischen Regierung und der Troika aus EU, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB).
Einige Monate hielten er und Regierungschef Tsipras dem Druck der Institutionen stand oder gaben das wenigstens vor. Hinter ihnen stand nicht nur eine Parlamentsmehrheit, sondern die große Mehrheit der griechischen Bevölkerung, vor allem der ArbeiterInnenklasse und der verarmten Schichten, z. B. der RentnerInnen. Das Referendum vom 5. Juli 2015 brachte eine überwältigende Mehrheit für das „Oxi“, das Nein zu den Zumutungen und den Erpressungen der EU unter deutschem Kommando, personifiziert in Schäuble und Merkel. Trotz dieses Votums kapitulierten Tsipras, seine Regierung und Syriza. Varoufakis trat zurück. An der schändlichen Umsetzung des EU-Diktats war er nicht mehr beteiligt, auch wenn er schon davor einer Reihe von schäbigen Kompromissen mit der EU zugestimmt hatte.
Varoufakis verließ rechtzeitig das sinkende reformistische Schiff, um sich als Mensch mit sauberen Händen hinzustellen – und für die Fortsetzung jener Politik zu plädieren, die schon Syriza zum Kentern brachte.
Seit Anfang des Jahres 2016 aber hat er eine Initiative auf Kiel gelegt, mit der offensichtlich eine Heldentat vollbringen will. DiEM25 heißt das Projekt: Bewegung Demokratie in Europa 2025. Der Titel des Manifestes dieser Bewegung lautet: „Europa demokratisieren! Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen!“ (https://diem25.org; Zitate von dieser Seite)
Schon der Titel macht klar, dass Varoufakis unter Europa die EU versteht, dass er diese für undemokratisch hält und dass er den Zerfall der EU verhindern will.
Er beschreibt die EU mit Worten, die an die Propaganda erinnern, die die EU-Gründung begleitete: „Die Europäische Union war eine außerordentliche Leistung. Sie hat europäische Völker, die unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Kulturen pflegen, in Frieden zusammengeführt und damit bewiesen, dass es möglich ist, einen gemeinsamen Rahmen der Menschenrechte auf einem Kontinent zu errichten, auf dem vor noch nicht allzu langer Zeit mörderischer Chauvinismus, Rassismus und Barbarei herrschten. Die Europäische Union hätte der sprichwörtliche Leuchtturm sein können, sie hätte der Welt zeigen können, wie aus jahrhundertelangen Konflikten und Bigotterie Frieden und Solidarität entstehen können.“
Die Krise der EU ist nicht zu übersehen und es ist gut möglich, dass ihr Verfall – nach dem inzwischen beschlossenen Brexit – in Zerfall endet. Das Manifest benennt:
„o Die Volkswirtschaften der Eurozone werden in den Abgrund eines Wettbewerbs um die härteste Austeritätspolitik getrieben, was zu einer anhaltenden Rezession in den schwächeren Ländern und zu Investitionsschwäche in den Kernländern führt.
o Die EU-Mitglieder, die nicht der Eurozone angehören, wenden sich von Europa ab, suchen Inspiration und Partner in dunklen Ecken, wo sehr wahrscheinlich undurchsichtige Freihandelsvereinbarungen auf sie warten, die sie binden und ihre Souveränität aushöhlen.
o In ganz Europa wachsen in ungekanntem Ausmaß Ungleichheit, Hoffnungslosigkeit und Misanthropie.“
Letzterer Punkt ist sicher richtig, wenn man den steigenden Rassismus, insbesondere die Islamfeindlichkeit, verharmlosend mit dem Begriff Misanthropie bezeichnen will. Wenden sich nur die Nicht-Eurozonen-Länder der EU von dieser ab? Auch Freihandelsvereinbarungen drohen an verschiedensten Ecken. Die EU selbst ist Spezialistin für undurchsichtige Freihandelsvereinbarungen mit ihren Beitrittskandidaten oder den afrikanischen Ländern. Aber immerhin bezieht sich der zweite Punkt auf die realen Absetzbewegungen von der EU weg.
Der erste Punkt ist komplett verdreht: „Die Volkswirtschaften der Eurozone werden in den Abgrund eines Wettbewerbs um die härteste Austeritätspolitik getrieben?“ Wer treibt da? Und dieses Treiben führt letztlich zu Investitionsschwäche der Kernländer? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Kern der globalen Krise des kapitalistischen Systems ist die Unfähigkeit für Massen von Kapital profitable Anlagemöglichkeiten zu finden, also sie zu investieren – eine Unfähigkeit, die mit einem historischen Gesetz dieses Systems, dem tendenziellen Fall der Profitrate, zusammenhängt. Da hilft es auch nicht billiges Geld, zinslose Kredite, über die stagnierenden Volkswirtschaften auszuschütten, wie es die EZB gerade tut. So suchen Regierungen und Banken ihr Heil darin, durch Lohndrückerei und Haushaltskürzungen die Profite und die Profitrate zu erhöhen. Das ist dann die Austeritätspolitik, die Griechenland und andere europäische Länder so massiv trifft.
So zeigt sich wieder einmal, dass bürgerliche ÖkonomInnen Kapitalismus nicht kapieren, auch wenn sie linke bürgerliche ÖkonomInnen sind. Recht aber hat Varoufakis, wenn er ausdrückt, dass die Austeritätspolitik die Krise vertieft und nicht löst, was sie mit der Billiggeldschwemme der EZB übrigens gemein hat.
Wie ist jetzt die EU, die ein „Leuchtturm hätte sein können, sie der Welt hätte zeigen können, wie aus jahrhundertelangen Konflikten und Bigotterie Frieden und Solidarität entstehen können“, in eine Zerfallskrise geraten? Das Manifest bleibt völlig unklar über den Zeitpunkt oder das Ereignis, das diese Wende zum Schlechten bewirkt haben soll:
„Doch leider trennen eine gemeinsame Bürokratie und eine gemeinsame Währung heute die europäischen Völker, die trotz unterschiedlicher Sprachen und Kulturen auf dem Weg zur Einigung waren. Eine Verschwörung kurzsichtiger Politiker, ökonomisch naiver Beamter und in Finanzdingen inkompetenter ‚Experten‘ unterwirft sich sklavisch den Beschlüssen der Finanz- und Industriekonzerne, entfremdet die Europäer einander und schürt eine gefährliche europafeindliche Stimmung.“
Wann und wodurch ist diese Bürokratie entstanden? Warum spaltet die gemeinsame Währung? Warum unterwerfen sich die inkompetenten „Experten“ den Konzernen? Und sind diese auch in Finanzdingen inkompetent? Vage wird ein Prozess beschrieben:
„Ökonomisch betrachtet, begann die EU als ein Kartell der Schwerindustrie (später bezog sie noch die Bauern mit ein), das entschlossen war, die Preise zu diktieren und die Gewinne des Oligopols durch die Brüsseler Bürokratie zu verteilen. Das im Entstehen begriffene Kartell und seine in Brüssel beheimateten Verwalter fürchteten den Demos und verachteten die Idee einer Regierung durch das Volk.
Geduldig und methodisch wurde der Prozess der Entscheidungsfindung entpolitisiert, mit dem Ergebnis, dass der Demos langsam, aber stetig aus der Demokratie verschwand und jegliche politische Entscheidungsfindung in einen alles überwuchernden pseudo-technischen Fatalismus gehüllt wurde. Die nationalen Politiker wurden gut dafür entlohnt, dass sie dabei mitmachten, die Kommission, den Rat, den Finanzministerrat Ecofin, die Eurogruppe und die EZB in politikfreie Zonen zu verwandeln. Wer sich diesem Prozess widersetzte, bekam das Etikett „Europagegner“ verpasst und galt als „eklatanter Außenseiter.“
Offensichtlich gab es so etwas wie eine politische Seite der europäischen Integration und eine ökonomische. Aber selbst da, wo das Manifest die Macht und die Interessen der Kapitalisten benennt, vermeidet es tunlichst, daraus irgendetwas zu folgern. Es wird weder die Frage gestellt, ob diese Macht und diese Interessen auf der Ebene der Nationalstaaten auch bestehen und wenn ja in welcher Form, noch ob und wie diese etwas mit der Krise der EU zu tun haben. Das ist derselbe Fehler, den die linken VertreterInnen von EU-Austritten wie die griechische KKE oder die britische SWP (Schwesterorganisation von Marx 21) und SP (Schwesterorganisation der SAV) ihrerseits machen, wenn sie so tun als wären solche Austritte in irgendeiner Weise „antikapitalistisch“.
MarxistInnen gehen anders vor. Für sie liegt die Krise der EU generell in der Unfähigkeit der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, sich über die Grenze des (kapitalistischen) Nationalstaats zu erheben und einen europäischen (bürgerlichen) Über-Staat zu schaffen und konkret in der fundamentalen Krise des kapitalistischen Systems, die die Konkurrenz unter den Kapitalien und den Staaten so verschärft, dass dadurch die fragile Konstruktion der EU mit ihren – natürlich bürokratischen – Mechanismen, die die unterschiedlichen Interessen ausgleichen sollen, zerfrisst. Und dann messen MarxistInnen die Frage, ob mit oder ohne EU, daran, was die Kampfbedingungen gegen die KapitalistInnen verbessert.
Hier ist die einfache Antwort, dass im Rahmen der EU ein internationaler Klassenkampf besser möglich ist als auf der Ebene einzelner Nationalstaaten für sich. So ist letztlich Varoufakis` Pro-EU-Position etwas näher an dieser Erkenntnis als die Exit-Position gewisser Linksreformisten wie der KKE oder rechter Zentristen wie der SP und der SWP, aber keineswegs, weil Varoufakis´ Analyse oder seine Strategie richtig wären.
Varoufakis sucht sein Heil in der Demokratie. „Die EU demokratisieren“. Der (angebliche) Prozess der „Entdemokratisierung“ soll umgedreht werden:
„Im Zentrum unserer zerfallenden EU liegt ein böser Betrug: Ein durch und durch politischer, undurchsichtiger und autokratischer Entscheidungsprozess wird zu einem ‚unpolitischen‘, ‚rein technischen‘, ‚prozeduralen‘ und ‚neutralen‘ Verfahren erklärt. Dessen Zweck ist es, die Europäer daran zu hindern, eine demokratische Kontrolle über ihre Währung, ihre Finanzen, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Umwelt auszuüben.“
Das ist eine naive Utopie. Die materielle Basis für diese Utopie ist die Tatsache, dass selbst die bescheidenen demokratischen Abläufe heute von den Herrschenden angegriffen werden, um die Diktate der Krise durchzusetzen. Das macht aber den Umkehrschluss nicht richtig, dass mit mehr Demokratie die Macht des Kapitals aufgehoben werden könnte.
Für bürgerliche Nationalstaaten wie für den Über-Halb-Staat EU gilt, dass sie Strukturen sind, die die ökonomische Herrschaft der Bourgeoisien auch politisch absichern sollen. Der Grad an „Demokratie“, der seitens der Herrschenden dabei eingesetzt wird, ist abhängig davon, wie viel sie brauchen, um ihre unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Interessen auszugleichen und zugleich den ausgebeuteten Klassen nicht zu viel Einmischungsmöglichkeiten zu gewähren.
Von daher verteidigen MarxistInnen alle demokratischen Errungenschaften, aber sie verfallen weder der Illusion, noch verbreiten sie diese, dass damit die Herrschaft der Bourgeoisie wirklich beendet werden könnte. Dazu muss der bürgerliche Staat als solcher angegriffen und zerschlagen werden.
Kleinbürgerliche DemokratInnen allerdings hegen und verbreiten solche Illusionen. So fordert das DiEM 25-Manifest an konkreten Maßnahmen:
„SOFORT: Volle Transparenz bei der Entscheidungsfindung
o Sitzungen des EU-Rats, von Ecofin, Beratungen über Steuerfragen und Sitzungen der Eurogruppe müssen per Livestream öffentlich gemacht werden.
o Die Protokolle der Sitzungen des Gouverneursrats der Europäischen Zentralbank müssen innerhalb weniger Wochen veröffentlicht werden.
o Alle Dokumente im Zusammenhang mit wichtigen Verhandlungen (zum Beispiel TTIP, „Rettungs“-Kredite, über den Status Großbritanniens), die alle Facetten der Zukunft der Europäer betreffen, müssen ins Netz gestellt werden.
o Alle Lobbyisten müssen sich registrieren lassen und dabei die Namen ihrer Kunden angeben, wie viel Geld sie erhalten und wann sie sich mit (gewählten und nicht gewählten) Vertretern Europas getroffen haben.
INNERHALB VON ZWEI JAHREN: Eine Verfassunggebende Versammlung. Das Volk Europas hat ein Recht, sich mit der Zukunft der Union zu befassen, und die Pflicht, aus Europa (bis 2025) eine voll entwickelte Demokratie mit einem souveränen Parlament zu machen, das die nationale Selbstbestimmung respektiert und die Macht mit den nationalen Parlamenten, mit Regionalversammlungen und Gemeindeparlamenten teilt. Dafür muss eine Versammlung seiner Repräsentanten einberufen werden. …
BIS 2025: Umsetzung der Beschlüsse der Verfassunggebenden Versammlung“
Natürlich sind die Forderungen nach mehr Transparenz – gerade auch bei den TTIP-Verhandlungen – nicht falsch. Aber wer kann und will per live-stream alle Verdrehungen der Bürokratie nachverfolgen? Und was kann damit erreicht werden?
Ist es wichtiger zu wissen, welcher Lobbyist für welche Fraktion des Kapitals tätig ist oder dass Tausende von ihnen die Gesetze beeinflussen und zum Teil verfassen – wie sie dies auch auf nationaler Ebene tun, wo eine enge Verquickung zwischen Wirtschaft und Ministerialapparat herrscht? Die DiEM 25-Forderungen können helfen, den Charakter der EU offenzulegen, sie können ihn nicht verändern.
Solches ist auch heute nötig. Aber es kann besser geschehen, indem die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien Europas sich auf Widerstandsprogramme einigen und mit Aktionen gegen die Krisenabwälzung, gegen die Austeritätsprogramme und Angriffe wie derzeit in Frankreich wehren. Die Weigerung der reformistischen Führungen dieser Organisationen muss politisch angegriffen werden. Die Wahl eines anderen Spielfeldes rettet dies nicht.
So bleibt von den Vorschlägen nur Hilflosigkeit und Irreführung.
Warum findet ein so dürftiges Konzept so breite Unterstützung? 17.000 sind bisher beigetreten. Vor allem aus der Intelligenz, aus Kultur und den Metropolen.
Solche Schichten haben durchaus von der EU profitiert. Sie nutzen die Reisefreiheit nicht nur für die jährliche Urlaubsreise, sie profitieren möglicherweise von EU-Fördermitteln für Kunst und Kultur. Aber sie stehen auch für das, was die wirkliche Stärke von Varoufakis´ Initiative ist: Sie ist die derzeit einzige, die eine europäische Bewegung versucht.
Weder die Gewerkschaften noch die Linksparteien, geschweige denn die SozialdemokratInnen haben hier derzeit viel zu bieten. Ihr alte Losung „Für ein soziales und demokratisches Europa“ haben sie in die Ecke gestellt. Sei es, weil sie im zunehmenden Konkurrenzkampf der Nationen dichter an die Seite ihrer jeweiligen Bourgeoisie rücken, sei es, weil sie sich angesichts der nationalistischen Kampagnen in den meisten Ländern opportunistisch und feige verhalten. Natürlich war und ist auch die Orientierung, die EU demokratisch und sozial machen zu wollen, genauso utopisch wie der Versuch sie zu demokratisieren. Aber Varoufakis´ Bewegung bleibt so fast die einzige „europäische“ Stimme.
So schafft es beispielsweise die von Kipping und Riexinger ausgerufene „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“ (https://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/artikel/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit-und-demokratie/) vom April des Jahres über den nationalen Tellerrand hinaus nur die hunderttausendste Bekräftigung der „’konkrete Utopie‘ eines demokratischen, sozial gerechten und friedlichen Europas ‚von unten’“. Anschließend wird festgestellt, dass „angesichts der Verankerung neoliberaler Politik in den Institutionen und der Verfassung der EU – und gerade angesichts der Erfahrung der Erpressung der linken Regierung und der de-facto-Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie in Griechenland – eine radikale Kritik der EU dringend erforderlich“ sei. Praktisch bleibt nur übrig, dafür zu kämpfen, „dass die sozialen Garantien europaweit Verfassungsrang bekommen und Freihandelsabkommen wie TTIP gestoppt werden.“
Vor dem Hintergrund solcher Dürftigkeit seitens der ReformistInnen gewinnen die kleinbürgerlichen Illusionen in die Demokratie und die Demokratisierung an Gewicht.
Die europäische ArbeiterInnenklasse braucht mehr.