Robert Teller, Neue Internationale 227, April 2018
Am 18. März rückten die türkische Armee und von der türkischen Regierung kontrollierte FSA-Verbände ins Stadtzentrum von Afrin ein – zwei Monate nach Beginn des militärischen Überfalls auf den gleichnamigen kurdischen Kanton durch die „Operation Olivenzweig“. Wie auch in anderen von türkischen Truppen eroberten Ortschaften des Kantons war der militärische Siegeszug begleitet von Plünderungen und einem Massenexodus der dort lebenden BewohnerInnen. Ohne Zweifel ist der türkische Einmarsch ein weiterer Schlag der Konterrevolution im Nahen Osten, der die Zukunft von Rojava in Frage stellt.
Erdogan hat wiederholt erklärt, dass er bei Afrin nicht Halt machen wird, sondern die gesamte türkisch-syrische Grenze und sogar den Nordirak von kurdischen Verbänden „säubern“ will. Die Situation führt uns – wie bereits im Kampf gegen den IS/Daesch – einmal mehr vor Augen, dass keiner der beteiligten Akteure im Nahen Osten eine kurdische Selbstverwaltung akzeptieren wird, dass die dort bestehende staatliche Ordnung auf der nationalen Unterdrückung des kurdischen Volkes beruht. Zugleich werden die militärischen Erfolge Erdogans begleitet von einer Repressionswelle gegen KriegsgegnerInnen, und sein militärischer Erfolg wird den weiteren Abbau demokratischer Rechte und die Errichtung eines diktatorischen Regimes in der Türkei beschleunigen, was dort eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Krieg dringend erforderlich macht.
Die türkische Armee setzt bei ihrer Offensive deutsche Leopard-Panzer ein. Entgegen der anfänglichen Aussage Sigmar Gabriels, aufgrund des türkischen Angriffs auf Afrin zunächst keine Waffenexporte in dieses Land mehr zu genehmigen, wurden allein seit Beginn der Offensive insgesamt 20 Rüstungsexportgenehmigungen erteilt. Der militärische Angriff auf Rojava setzt für InternationalistInnen nicht nur die unmittelbare Unterstützung der kurdischen Verbände im Kampf gegen die türkischen Truppen auf die Tagesordnung. Er wirft auch die Frage auf, welche politische Strategie erforderlich ist, um die Errungenschaften in Rojava zu verteidigen.
Die kurdischen Verbände der YPG/YPJ haben als Teil der SDF (Syrian Democratic Forces) seit 2015 große militärische Erfolge gegen den IS/Daesch errungen und kontrollieren heute einen großen Teil der vom IS in Syrien zurückgelassenen Gebiete. Der größte militärische Erfolg war die Eroberung von ar-Raqqa im Oktober 2017. Die militärischen Erfolge beruhten auch auf der Unterstützung der SDF durch die USA in Form von Waffenlieferungen, Militärberatern und Luftangriffen, in geringerem Umfang auch auf russischer Unterstützung. Dank der militärischen Erfolge der SDF kontrolliert der IS/Daesch heute nur noch einige ländliche Gegenden im Osten Syriens, an der israelischen Grenze und das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus. Die kurdischen Verbände dagegen kontrollieren fast alle Gebiete östlich des Euphrat, etwa ein Viertel der Fläche Syriens. Seit Beginn der türkischen Intervention in Nordsyrien 2016 stellte Russland in den entsprechenden Gegenden Truppen in Pufferzonen bereit, die eine direkte Konfrontation der türkischen Armee mit den kurdischen Verbänden verhinderten. Vor Beginn des Angriffs auf Afrin zog Russland diese Truppen jedoch von dort zurück. Der türkische Angriff fand also mit der Duldung Russlands statt.
Nachdem 2014/2015 die Gefahr bestand, Rojava könnte vom IS militärisch zerschlagen werden, so scheint es heute gerade durch die zuletzt neu gewonnene militärische Stärke vor neuen Problemen zu stehen: nicht nur die Türkei, auch das syrische Regime und seine iranische Schutzmacht können einen unabhängigen kurdischen Staat als Teil einer Nachkriegsordnung in Syrien nicht akzeptieren. Assad hat wiederholt erklärt, dass er nicht bereit ist, eine Abspaltung Rojavas zu akzeptieren. Für die USA dagegen sind die kurdischen Kräfte zwar zentral für den Kampf gegen den IS – aber die militärische Niederlage des IS in Syrien wird die Grundlage dieser Kooperation in Frage stellen. Im Ringen um eine Nachkriegsordnung werden die USA Rojava mit in den Verhandlungstopf werfen, aus dem es neu zu verteilen gilt.
Als Folge des türkischen Angriffs wurden kurdische Verbände von der Front gegen den IS abgezogen und nach Afrin verlegt. Die Türkei hingegen zog zehntausende ihr loyale Rebellen aus der Provinz Idlib ab, um sie im Kampf gegen die kurdischen Verbände einzusetzen. Am 25. Januar forderte die kurdische Führung in Afrin das syrische Regime auf, Truppen zu seiner Verteidigung gegen den türkischen Einmarsch zu schicken. Am 19. Februar trafen Assad-treue Regierungsmilizen in Afrin ein und wurden von der türkischen Armee unter Beschuss genommen. Es gibt Berichte, dass das syrische Regime auch zur Entsendung der regulären Armee bereit gewesen wäre, dies aber durch eine Intervention Russlands verhindert wurde, das eine Eskalation zwischen dem syrischen Regime und der Türkei verhindern möchte. Als Teil einer Einigung zwischen der PYD und dem Regime übergab die PYD am 22. Februar die Kontrolle über den mehrheitlich kurdischen Stadtteil Sheikh Maqsoud und alle anderen von ihr in Aleppo kontrollierten Viertel an die Truppen des Regimes und erhielt dafür von selbigem die Erlaubnis, die von ihm kontrollierten Versorgungsrouten nach Afrin zu nutzen. Am 18.03. zogen sich die KämpferInnen der kurdischen Verbände aus der Stadt Afrin zurück, nachdem diese von den türkischen Truppen eingekesselt worden war.
Letztlich hat der türkische Angriff nicht nur zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Afrin geführt, sondern auch zur Wiederherstellung der Kontrolle des Assad-Regimes über ganz Aleppo und er hat die Bedingungen für seine Offensive in der Provinz Idlib verbessert. Die syrische und die türkische Regierung verfolgen zwar im syrischen Bürgerkrieg entgegengesetzte Ziele. Dennoch haben sie ein gemeinsames Interesse, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. Insofern ist der türkische Angriff Teil der konterrevolutionären Entwicklung in der Region und steht in einer Reihe mit den verbrecherischen Angriffen des Assad-Regimes in Ost-Ghuta und Idlib, um seine Kontrolle über diese Gebiete wiederherzustellen.
Die absehbare Niederlage des IS und die mögliche Niederlage der letzten Rebellenverbände in der Provinz Idlib und der Region Damaskus werden unter den verbliebenen Mächten – dem russischen Imperialismus und dem Iran als Schutzmacht Assads, der Türkei und den USA – die Frage nach einer Nachkriegsordnung auf die Tagesordnung setzen. Fast alle würden kein unabhängiges Rojava akzeptieren und auch die USA werden ihren zeitweiligen Verbündeten allenfalls als politisches Faustpfand verwenden (und gegebenenfalls fallenlassen).
Es droht somit, dass Rojava durch die Türkei militärisch zerschlagen oder aber in den syrischen Staat reintegriert wird. Die PYD hat ihrerseits erklärt, dass sie bereit ist, im Rahmen einer Autonomielösung die bestehenden nationalen Grenzen Syriens zu respektieren und mit dem Regime über eine Nachkriegslösung zu verhandeln. Hierbei werden aber sowohl die türkische als auch die syrische Regierung ihre Bedingungen gegenüber den Kurdinnen durchsetzen wollen. Die politische Selbstbestimmung der KurdInnen wird dabei als Erstes auf der Strecke bleiben.
Verhindert werden könnte eine solche Entwicklung nur auf internationaler Ebene. Die Geschichte Rojavas ist eng verbunden mit der syrischen Revolution und den Aufständen der KurdInnen in der Türkei. Die Entwicklungen im Nordirak zeigen, dass dort die Bevölkerung den Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit vertritt. Letztlich ist die ArbeiterInnenklasse in der Türkei die entscheidende Kraft, die die militärische Expansionspolitik Erdogans stoppen kann. Umgekehrt ist jede militärische Niederlage Erdogans auch eine politische Niederlage für die Errichtung seiner Präsidialdiktatur. Die nationale Frage der KurdInnen ist also verbunden mit der demokratischen Frage und dem Klassenkampf in der Türkei. Die Zukunft von Rojava wird am Ende davon abhängen, ob es gelingt, ein Bündnis mit den unterdrückten Massen der ganzen Region zu bilden. Ein solches Bündnis wäre zugleich auch die einzige Hoffnung auf ein Ende des Vormarsches von Reaktion, Konterrevolution und Imperialismus in Syrien oder im Irak. Die Siege des Assad-Regimes und der Türkei bedeuten für die Bevölkerung Massenvertreibung, Plünderungen, Vergewaltigungen und Elend. Die drohende Ausschaltung der KurdInnen und die Niederlage der syrischen Revolution bedeuten aber keineswegs eine Befriedung des Landes, sondern werden angesichts der verschärften internationalen Konfrontationen früher oder später zu einem weiteren Kampf zwischen den verschiedenen Mächten führen, die heute ganze Länder verwüsten.
RevolutionärInnen treten für die Niederlage und den Rückzug der türkischen Armee ein, die Verteidigung der bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen und den Sieg der KurdInnen gegen die Invasoren. Wir fordern den Stopp der Waffenlieferungen an die Türkei und den Rückzug der Bundeswehr. Wir treten für den Abzug aller imperialistischen Truppen und aller Regionalmächte aus Syrien ein. Wir sollten als InternationalistInnen den kurdischen Verbänden jegliche mögliche Unterstützung für ihren Kampf zukommen lassen, ohne jedoch die nationalistische Politik ihrer Führung zu verteidigen, deren Utopie eines „Dritten Wegs“ die internationale Dimension des Befreiungskampfes negiert.
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