Neujahrserklärung der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1208, 1. Januar 2023
2022 wurde die Welt von einer Reihe miteinander verbundener Krisen heimgesucht. Da waren die Kriege in der Ukraine, in Tigray, im Jemen und in Myanmar sowie ein „Kalter Krieg“, den die Nato begonnen hatte. Hinzu kommen wirtschaftliche Verwerfungen und eine galoppierende Inflation, das eskalierende Ausmaß von Klimakatastrophen und eine immer noch andauernde Pandemie. Das Jahr war auch geprägt von einer großen Zahl von Flüchtlingen aufgrund dieser Katastrophen und den Maßnahmen der reichsten Staaten zur Abriegelung ihrer Grenzen und Küsten.
Hinter all diesen Ereignissen steht die Krise der kapitalistischen Globalisierung und die sich verschärfende Rivalität zwischen den imperialistischen Lagern USA-EU und China-Russland. Das Ergebnis wird nicht nur von den objektiven wirtschaftlichen Entwicklungen abhängen, sondern vor allem von den politischen Konflikten, die sie hervorrufen, d. h. von den Kämpfen um die Kontrolle und die Nutzung der Produktionskapazitäten der Gesellschaft. Die grundlegendste dieser Auseinandersetzungen ist der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit, aber sie umfassen auch Konflikte zwischen und innerhalb der großen kapitalistischen Mächte.
Am intensivsten und bedrohlichsten ist der Krieg, der durch den Einmarsch und die versuchte Besetzung der Ukraine durch Russland ausgelöst wurde, der am 24. Februar begann und dessen unmittelbares Ende noch immer nicht abzusehen ist. Die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine und die beispiellosen Wirtschaftssanktionen der G7 haben zu einem nationalen Verteidigungskampf hinzugefügt, dass die NATO versucht, Putins Großmachtambitionen zu vereiteln, wobei die USA und das Vereinigte Königreich von Großbritannien hoffen, in diesem Rahmen auch die eigenständigen Bestrebungen der EU zu blockieren.
Putins Blockade der Schwarzmeerhäfen und die westlichen Sanktionen haben einen starken Druck auf die Öl- und Gaspreise sowie auf die Versorgung mit Getreide und Düngemitteln erzeugt. Die Folgen sind wachsender Hunger und sinkende Reallöhne. Die Reaktion der Arbeiter:innenschaft und der armen Menschen in den Städten und auf dem Land steht erst am Anfang, ist aber unvermeidlich: Die Frage ist, ob der Kampf siegreich sein kann.
Diese neuen zwischenimperialistischen Konflikte kommen zu denen hinzu, die durch ihre frühere Politik verursacht wurden. Die Abstimmung der UN-Vollversammlung, die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen, und zwar genau an dem Tag, an dem Netanjahus äußerst rechte und rassistische Regierung ihr Amt antrat, ist vielleicht das beste Beispiel dafür.
Wir stehen am Beginn einer weiteren globalen Rezession, die mindestens so schwerwiegend ist wie die der großen Finanzkrise von 2008, aber dieses Mal mit China als Hauptleidtragendem und nicht als Lokomotive des Aufschwungs. Anders als damals ist eine koordinierte Strategie der führenden imperialistischen Mächte als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise praktisch ausgeschlossen.
Dies verschärft nicht nur die zyklische Wirtschaftskrise in einzelnen Staaten, sondern auch die zwischenimperialistischen Antagonismen, die Tendenzen zur „Deglobalisierung“, die Fragmentierung des Weltmarktes, die Blockbildung und die Abwälzung der Krisenkosten auf die halbkoloniale Welt. Der Krieg um die Ukraine und die gegenseitigen Sanktionen, die beide Seiten massiv treffen, wirken krisenverschärfend, ebenso wie die Krise die gegenseitige Konkurrenz und die Kriegsgefahr erhöht.
All dies treibt die Eskalation anderer grundlegender Probleme der Menschheit voran, darunter der Klimawandel, das Artensterben, die Zerstörung der Ozeane und Pandemien, die ohne ein wirksames globales Gesundheitssystem endemisch werden können. Die zunehmende Häufigkeit extremer Wetterereignisse, die von Klimawissenschaftler:innen seit langem vorhergesagt wird, war im vergangenen Jahr weltweit zu beobachten: Dürren, Waldbrände und Ernteausfälle in der Sahelzone und am Horn von Afrika, Überschwemmungen in Pakistan, Wirbelstürme und noch nie dagewesene Winterstürme in den USA, Trockenheit in Europa.
Die Pandemie, die Millionen von Menschenleben gefordert hat, die drohende Hungersnot und die Vertreibung von einer Milliarde Klimaflüchtlingen in den nächsten 30 Jahren sind Ausdruck dieser Entwicklung. Die Kombination aus Wirtschaftskrise und dem zwischenimperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird die Krise des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt erheblich verschärfen.
Die Krise wird zwangsläufig von Angriffen auf die Arbeiter;innenklasse, die Bauern- und Bäuerinnenschaft sowie die unteren Schichten des Kleinbürger:innentums begleitet. Heute steht die Inflation im Mittelpunkt der Angriffe auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Massen. Mit der Entwicklung der Krise könnte es jedoch zu einer Deflation kommen, die mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einhergeht, wie es bereits in großen Teilen der Halbkolonien der Fall ist.
Die imperialistische Bourgeoisie konnte sich durch eine Politik des billigen Geldes („Quantitative Easing“) von der großen Rezession und der globalen Krise von 2008 – 2010 „erholen“. Dadurch wurde die Vernichtung von Überschusskapital in den imperialistischen Zentren begrenzt und vor allem das Finanzkapital gerettet. Die der Krise zugrundeliegenden Ursachen – sinkende Profitraten und Überakkumulation des Kapitals – erforderten jedoch eine solche Vernichtung, und ohne sie wurden sie auf einem höheren Niveau in einem Aufschwung reproduziert, der durch die Expansion des fiktiven Kapitals stark unterstützt wurde.
Schon vor 2020 zeichnete sich eine neue Krise ab. Ihre Entwicklung wurde jedoch von der Coronapandemie überholt, die dazu diente, einen gewaltigen Einbruch der Weltproduktion zu synchronisieren – wenn auch unter anderen Umständen als 2008. Die Struktur der Weltwirtschaft hatte sich weiter verschoben und die globale Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten zugespitzt. Das Ausmaß der Pandemie, die 2020 alle Länder mit voller Wucht traf, führte zu einem weitaus stärkeren Produktionseinbruch als 2008 – 2010, von dem sich die Weltwirtschaft bis heute nicht erholt hat.
Schließlich ist die Fähigkeit, der Krise mit denselben Mitteln wie nach 2010 entgegenzuwirken, stark eingeschränkt (für die Halbkolonien lange vor 2020). Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Weltordnung, die wirtschaftlichen, politischen und ökologischen, haben sich so sehr verschärft, dass sie sich gegenseitig verstärken und die Instabilität und Konflikte schaffen, mit denen die Menschheit jetzt konfrontiert ist.
Die sich entfaltende Weltkrise markiert den Beginn eines neuen Kapitels im Klassenkampf, in dem sich die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten weltweit in einer schwierigeren Lage befinden als nach der Krise 2008 – 2010. Nach der großen Rezession befand sich die Bourgeoisie ideologisch in der Defensive. Die Arabischen Revolutionen und die vorrevolutionäre Eskalation in Griechenland haben das Potenzial für einen großen Aufschwung des Klassenkampfes aufgezeigt und die Arbeiter:innenklasse und die Massen weltweit mehrere Jahre lang inspiriert. Ihre Fortschritte verdeutlichten das spontane revolutionäre Potenzial der Arbeiter:innenklasse – aber auch seine Grenzen.
Die schließlichen Niederlagen dieser Bewegungen, die auf die tiefe Krise der Führung des Proletariats zurückzuführen sind, hatten auch nachhaltige globale Auswirkungen auf die Moral, die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse. Die Verschiebung des Kräfteverhältnisses hatte reaktionäre Folgen: die Zersetzung der traditionellen Arbeiter:innenorganisationen und der Aufstieg des Rechtspopulismus, einschließlich faschistischer und halbfaschistischer Kräfte, der sich als reaktionäre, aber gegen die „Elite“ gerichtete pseudoradikale Lösung präsentierte.
Selbst fortschrittliche Massenbewegungen wie der Frauenstreik, Ni Una Menos oder Black Lives Matter und der kämpferische Flügel der Arbeiter:innenklasse selbst sind sehr stark von kleinbürgerlichen und neoreformistischen Ideen (Identitätspolitik, Individualismus, Linkspopulismus, Transformationsstrategie) beeinflusst. Der Populismus wird in Frankreich von Jean Luc Mélenchon und La France Insoumise, in Spanien von Podemos und anderen vertreten. Sein Narrativ „das Volk gegen die Elite oder die Kaste“ und seine Beschränkung auf demokratische und reformistisch-utopische Forderungen können nur dazu führen, dass die Klassenidentität und die Unabhängigkeit geschwächt werden und zu Niederlagen beitragen, was wiederum der Rechten in die Hände spielt.
Diese globale Verschiebung des politischen und ideologischen Kräfteverhältnisses drückt sich auch in einer Schwäche der subjektiv revolutionären (zentristischen) Linken auf dem Globus und in ihrer Anpassung an solche Ideologien aus. Die endgültige Zersplitterung der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich markiert das Ende einer 2009 eröffneten Möglichkeit, in den Wellen des Kampfes, die Frankreich regelmäßig erschütterten, eine Kaderpartei aufzubauen, die ein Programm für die Arbeiter:innenmacht entwickeln könnte.
Zweifellos haben die Kämpfe der letzten Jahre wichtige Gelegenheiten für die Wiedergeburt einer militanten Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der sozial Unterdrückten geschaffen und werden dies auch weiterhin tun. Dazu gehörten große aufstandsähnliche Revolten wie in Sri Lanka, die mutigen Proteste gegen die Unterdrückung der Frauen durch die iranische Klerikaldiktatur, die Massenproteste in China gegen Xi Jinpings harte Abriegelung der Städte im Gefolge des Covidlockdowns, die seinen raschen Rückzug erzwangen, und die sich entwickelnde Streikwelle in Großbritannien.
In einigen Ländern könnten reformistische Arbeiter:innenparteien wie die PT in Brasilien trotz ihrer verräterischen Politik erneut die Hoffnungen und Illusionen der Arbeiter:innenklasse auf sich lenken. Solche Hoffnungen werden bald enttäuscht werden, aber wenn die Massen sich dem Verrat „ihrer“ Regierungen widersetzen und dabei kämpferische Organisationen aufbauen, kann dies eine Lösung der Führungskrise einleiten, einleiten, aber nicht vollenden.
Dies erfordert eine gezielte revolutionäre Intervention auf der Grundlage eines klaren, globalen Programms, dessen zentrales Thema die Notwendigkeit ist, unabhängige Arbeiter:innenparteien mit einem kämpferischen antikapitalistischen Programm aufzubauen. Im Widerstand gegen die Inflation und die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Klasse können Aktionsräte, Organisationen der Arbeiter:innenkontrolle nicht nur diese unmittelbaren Fragen aufgreifen, sondern auch zum Mittel werden, um den Kapitalismus zu stürzen und die Grundlage für Arbeiter:innenstaaten zu bilden.
Parteien, die sich auf ein solches Programm stützen, müssen es in Form von nationalen oder sektionsspezifischen Aktionsprogrammen konkretisieren und ständig aktualisieren. Sie müssen auch wissen, wie sie prinzipielle Taktiken beim Parteiaufbau anwenden können, z. B. Umgruppierung, Eintritt oder Bildung einer Arbeiter:innenpartei, die national und international die Sache einer neuen Fünften Internationale voranbringen kann.
Wir, die Liga für die Fünfte Internationale, laden die Kräfte, die diese Herausforderungen und die Notwendigkeit, ein gemeinsames Programm für eine Organisation von Revolutionär:innen zu entwickeln, um sie in die Mitte des Klassenkampfes zu bringen, erkennen, dazu ein, gemeinsam mit uns nationale und internationale Foren einzuberufen, um dies im Jahr 2023 zu diskutieren.