Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007
Bei der Frage, in welcher Periode der kapitalistischen Entwicklung wir uns befinden, ist ein richtiges Verständnis davon, was materielle Produktivkräfte und ihre Entwicklungsdynamik im Kapitalismus sind, von entscheidender Bedeutung. Die Verwirrung, die verschiedenste Niedergangs- oder Aufschwungspropheten aktuell verbreiten, hat hier ihre Wurzeln.
So wird verbreitet, dass die jüngsten technischen Entwicklungen und die Globalisierung nicht nur eine enorme, beschleunigte Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger gebracht hätte. Sie gingen auch mit einer tiefgreifenden Aufschwungsphase einher.
Diese Ansicht vertreten nicht nur bürgerliche Ökonomien und Ideologen, sondern auch diverse pseudomarxistische Theoretiker (1). Auch bei vielen bürgerlichen Kritikern der Globalisierung wie dem US-amerikanischen liberalen Autor Rifkin ist die Vorstellung prägend, dass der Kapitalismus eigentlich eine enorme produktive Dynamik entfaltet hätte und dass die Früchte des Reichtums nur zunehmend schlechter verteilt würden.
In einem Meer zunehmender Armut, Kriege und Klimakatastrophen und einer um sich greifenden Zukunftsangst proklamieren sie zur Verteidigung ihrer kühnen Behauptung eine phänomenale Entwicklung der Produktivkräfte, verweisen auf China und Indien, verweisen sie auf riesige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts oder auf das Ansteigen der Aktienkurse.
Die Frage, was hier eigentlich wächst, bleibt außen vor. Ein zentrales Problem liegt darin, dass „Wachstum“ mit ohnehin schon fetischisierten Kategorien bestimmt wird, da sie der Ebene der wirtschaftlichen Aktivität ohne notwendigerweisen Bezug zur realen Wertbildung stehen bleiben. Damit wird der Blick auf die dahinter liegende Dynamik – oder besser fehlende – Dynamik in der realen Produktion verstellt.
Rekapitulieren wir daher als erstes, was Marx und die Marxisten eigentlich unter Produktivkräften verstehen. Produktivkräfte umfassen sowohl die materiellen Mitteln und Resultate der Produktion – also Produktionsmittel (Maschinen etc.) und Waren, den erreichten Stand der Organisation des Arbeitsprozesses, von Kommunikation und Transport – als auch die Menschen, die die Produktionsmittel bedienen und zu diesem Zweck bestimmte Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingehen.
Es versteht sich von selbst, dass Produktionsmittel und Arbeiter einander gegenseitig bedingen und – vom kapitalistischen Gesichtspunkt aus gesehen – der Zweck der Anwendung der Arbeiter an den kapitalistischen Produktionsmitteln darin besteht, Waren und dadurch Mehrwert zu produzieren. Produktivkräfte sind also nicht bloß eine Ansammlung von materiellen Dingen, sondern beinhalten auch und vor allem die Menschen und ihre Lebensbedingungen.
Kapital und Ware sind ein gesellschaftliches Verhältnis – also ein Verhältnis zwischen Menschengruppen (Klassen). Marx schrieb dazu: „Das Kapital besteht nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten; es besteht ebensosehr aus Tauschwerten. Alle Produkte, woraus es besteht, sind Waren. Das Kapital ist also nicht nur eine Summe von materiellen Produkten, es ist eine Summe von Waren, von Tauschwerten, von gesellschaftlichen Größen (2).“
Friedrich Engels fasste diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen:
„Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge (3).“
An einer anderen Stelle wies Friedrich Engels auf die widersprüchliche Einheit des Begriffs „Produktivkräfte“ sowie seine umfassende Bedeutung hin:
„Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten – Überfluß dort, von Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten (4).“
Dieses Verständnis behielten auch die marxistischen Theoretiker nach dem Ableben der Gründungsväter des wissenschaftlichen Sozialismus bei. Stellvertretend für sie sei Nikolai Bucharin – ein führender Theoretiker der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale – zitiert:
„In der Tat, es ist offensichtlich, daß wenn wir wissen, wie die Produktionsmittel und wie die Arbeiter sind, so wissen wir auch, wieviel sie in einer bestimmten Arbeitszeit produzieren; durch diese zwei Größen wird auch die dritte – das erzeugte Produkt – bestimmt. Diese zwei Größen bilden, zusammengenommen, dasjenige, was wir als materielle Produktivkräfte der Gesellschaft bezeichnen (5).”
Aber sie gingen noch weiter und betonten, dass der wichtigste Aspekt der die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist. Das ist nur allzu logisch, denn es ist nur die lebendige Arbeit, die die natürlichen Reichtümer und die Produktionsinstrumente in Produktivkräfte der Menschheit verwandeln und verwenden können.
Marx betonte die zentrale Stellung des Proletariats im Verständnis der gesellschaftlichen Produktivkräfte:
„Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten (6).“
Ähnlich hob auch Bucharin (und mit ihm Lenin) die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft für das Verständnis der Produktivkräfte in ihrer Totalität hervor:
„Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, der rein kapitalistischen Gesellschaft das Proletariat, ist einerseits eine der beiden Komponenten des Begriffs Produktivkräfte (denn die Produktivkräfte sind nichts anderes als die Gesamtsumme der vorhandenen Produktionsmittel und der Arbeitskräfte); dabei ist die Arbeitskraft, (…), die wichtigste Produktivkraft (7).“
Diesen Gedanken betonte auch Trotzki in einer während des I. Weltkrieges verfaßten Arbeit, wo er die Arbeiterbewegung als „die wichtigste Produktivkraft der modernen Gesellschaft“ bezeichnete (8).
Schließlich sei noch eine weitere Erklärung der komplexen Natur der Produktivkräfte durch den deutschen trotzkistischen Theoretiker Franz Jakubowski angeführt: „Naturkräfte werden zu Produktivkräften erst in ihrer Anwendung durch die menschliche Arbeit. Nur durch ihre Einbeziehung in menschliche Verhältnisse, nur durch die Verwendung für menschliche Zwecke werden sie zu sozialen Kräften. Zu Produktivkräften werden Naturkräfte erst, wenn sie der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens dienen. Die wichtigste Produktivkraft ist die menschliche Arbeitskraft (9).“
Wenn wir also den Standpunkt der Marxisten zusammenfassen, so ergibt sich, daß der Entwicklungsgang des Kapitalismus nicht bloß anhand der Auf und Ab’s des materiellen Outputs gemessen werden kann, weil dieser noch gar nichts aussagt, über die dahinter liegende Dynamik der Kapitalakkumulation oder gar die gesellschaftlichen Entwicklungspotenzen, die systematisch nicht realisiert und unter kapitalistischen Bedingungen auch nicht realisiert werden können.
Die Entwicklung der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklung der Ware Arbeitskraft und ihren Reproduktionsbedingungen aus. Mit anderen Worten: wie entwickeln sich die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. Dies ist ein äußerst wichtiger Faktor nicht nur für die betroffenen ArbeiterInnen und ihre Familien, sondern auch für die gesamte zukünftige Entwicklung der Menschheit.
Die Entwicklung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ergeben sich aus dem Wesen ihrer Existenz – also einer Klasse von LohnarbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen muss. In diesem Prozess schaffen sie mit ihrer Arbeit eine bestimmte Menge an Waren, in denen mehr Wert steckt, als sie als Lohn vom Kapitalisten erhalten. Diese Mehrarbeit eignet sich der Kapitalist als Mehrwert an.
„Das Arbeitsvermögen des Lohnarbeiters … tritt nicht nur nicht reicher, sondern es tritt ärmer aus dem Prozeß heraus, als es hereintrat. Denn nicht nur hat es hergestellt die Bedingungen der notwendigen Arbeit als dem Kapital gehörig; sondern die in ihm als Möglichkeit liegende Verwertung, … existiert nun ebenfalls als Mehrwert, Mehrprodukt, mit einem Wort als Kapital … Es hat nicht nur den fremden Reichtum und die eigene Armut produziert, sondern auch das Verhältnis dieses Reichtums als sich auf sich selbst beziehenden Reichtum zu ihm als der Armut, durch deren Konsum es neue Lebensgeister in sich zieht und sich von neuem verwertet (10).“
Damit kommen wir auch zu der mit der kapitalistischen Ausbeutung verbundenen Verelendung der Arbeiterklasse. Marx unterschied bekanntlich zwischen der relativen Verelendung und der absoluten Verelendung des Proletariat, wobei hier wichtig ist, unter Proletariat die gesamte Klasse zu sehen (also nicht nur die aktiv beschäftigten Arbeiter, sondern auch die Arbeitslosen, proletarische Jugendlichen und Pensionisten etc.). Unter relativer Verelendung verstand er die wachsende Kluft zwischen dem Reichtum des Kapitals und jenem der Arbeiter. Dies schließt eine Zunahme des Arbeitereinkommens nicht aus, nur eben langsamer als das Wachstum der Profite.
„Es zeigt sich hier, wie progressiv die objektive Welt des Reichtums durch die Arbeit selbst als ihre fremde Macht sich ihr gegenüber ausweitet und immer breitere und vollere Existenz gewinnt, so daß relativ, im Verhältnis zu den geschaffenen Werten oder den realen Bedingungen der Wertschöpfung die bedürftige Subjektivität des lebendigen Arbeitsvermögens einen immer grelleren Kontrast bildet. Je mehr sie sich – die Arbeit sich – objektiviert, desto größer wird die objektive Welt der Werte, die ihr als fremde – als fremdes Eigentum – gegenübersteht (11).“
Unter absoluter Verelendung verstand Marx das Sinken der materiellen Lebensverhältnisse des Proletariats in seiner Gesamtheit.
„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört. (…)
Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann – dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, daß, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eignen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals. Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, daß die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals. (…)
Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert (12).“
Das Steigen der relativen Verelendung ist für die meiste Zeit ein typisches Merkmal für den kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess. In Perioden des kapitalistischen Niedergangs hingegen findet auch ein Prozess der absoluten Verarmung statt. Es lässt sich schwer bestreiten, dass für die Masse der Arbeiterklasse und der unterdrückten Schichten weltweit ein Prozess der absoluten Verarmung stattfindet. Natürlich trifft das nicht in jedem einzelnen Land, nicht in jedem einzelnen Jahr und für jede einzelne Schicht der Klasse zu. Aber als ein allgemeiner, weltweiter Prozess ist dies eine unbestreitbare Tatsache.
Schließlich kommen wir noch zu einem weiteren Charakteristikum der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte in der imperialistischen Epoche: der zunehmenden Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte.
Marx selber wies schon vorausblickend darauf hin:
„Diese Produktivkräfte erhalten unter dem Privateigentum eine nur einseitige Entwicklung, werden für die Mehrzahl zu Destruktivkräften, und eine Menge solcher Kräfte können im Privateigentum gar nicht zur Anwendung kommen (13).“
„Wir haben gezeigt, daß die gegenwärtigen Individuen das Privateigentum aufheben müssen, weil die Produktivkräfte und die Verkehrsformen sich so weit entwickelt haben, daß sie unter der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften geworden sind, und weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist (14).”
Die Produktivkräfte haben sich bereits so weit entwickelt, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht nur zu einer Fessel für die vollständige, freie Entfaltung der Produktivkräfte geworden sind, sondern die Produktivkraftentwicklung in einem zunehmenden Ausmaß immer monströsere, zerstörerische Kräfte – Destruktivkräfte – hervorbringt. Sicherlich gab es auch früher Destruktivkräfte, aber erst in der Epoche des Imperialismus nahmen sie einen weltumspannenden Charakter hat, wo sie das Potential haben, die ganze Menschheit in ihrer Entwicklungsstufe um unzählige Generation zurückzuwerfen bzw. überhaupt als ganzes zu vernichten.
Die dramatische Gefährdung der Lebensgrundlagen der Menschheit durch die systematische Umweltzerstörungen durch die Profitgier des Kapitals (globale Erwärmung, Ozonloch usw.) oder auch die Gefahr nuklearer Kriege mit Millionen Toten – all das zeigt, wie sehr die Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus zugleich Destruktivkraftentwicklung ist. Marx selber schrieb schon vorausblickend:
„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter (15).“
Wenn Marxisten also von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, so meinen sie damit nicht ein wirtschaftliches Null-Wachstum und schon gar nicht einen Stillstand des technischen Fortschritts. Dies ist im Kapitalismus auch nur kurzfristig, in Phasen höchster gesellschaftlicher Krise möglich.
Der Zweck des Kapitals ist seine Selbstverwertung, also seine Vergrößerung, Ausbreitung, also Akkumulation. Die im entwickelten Kapitalismus normale Produktionsweise ist daher die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Alles andere wäre – so Marx im II. Band des Kapitals – „eine befremdliche Annahme“:
„Die einfache Reproduktion auf gleichbleibender Stufenleiter erscheint insoweit als eine Abstraktion, als einerseits auf kapitalistischer Basis Abwesenheit aller Akkumulation oder Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine befremdliche Annahme ist, andrerseits die Verhältnisse, worin produziert wird, nicht absolut gleichbleiben (und dies ist vorausgesetzt) in verschiednen Jahren (16).“
Ebenso revolutioniert der Kapitalismus beständig seine technischen Grundlagen. Anders kann es auch gar nicht sein! Denn – wie schon Marx feststellte – die Existenzweise des Kapitals vollzieht sich notwendigerweise in Form der Konkurrenz.
„Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit. (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.) (17).“
Diese Konkurrenz zwingt das Kapital dazu, permanent nach Möglichkeiten der Ersetzung der menschlichen Arbeit durch Maschinen zu suchen, um so den Lohnanteil am Gesamtkapital zurückdrängen und somit billiger produzieren zu können. Daher finden im Kapitalismus immer wieder technische Neuerungen zwecks Steigerung der Produktivität statt. Es reicht beispielhaft folgende zentrale technischen Neuerungen der letzten 200 Jahre zu nennen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Telegraphie, das Auto, das Flugzeug, Radio, Fernsehen, Raketen, Computer, die Mobiltelephonie, die Fortschritte im Bereich der Genetik usw.
Tatsache ist, dass sich der Grad der jugendlichen Frische bzw. der Überalterung und Verfaulung des Kapitalismus nicht an dem Umfang der technologischen Entwicklungen ablesen lässt. Demnach wäre ja der Kapitalismus in den letzten 200 Jahren eine stetig voranschreitende Gesellschaftsordnung gewesen und statt dem von Marx und Lenin diagnostizierten Zusammenbruchstendenzen würde er vielmehr ein ungebrochenes Fortschrittspotential aufweisen. Offenkundig ist dem aber nicht so und eine kurze Rekapitulation der Geschichte des imperialistischen Zeitalters macht dies klar: diese technischen Fortschritte waren begleitet von wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Katastrophen – darunter zwei Weltkriege, das Holocaust, Hiroshima um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.
Nein, die Schranke des Kapitalismus besteht nicht in der Erschöpfung seiner Möglichkeiten zur technischen Erneuerung oder gar einem technischen Zusammenbruch der Ökonomie. Die Schranke besteht sich vielmehr in dem Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen. Mit anderen Worten: den explosiven Widerspruchspotential, das dem lebendigen Prozess des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit anhaftet. Nicht umsonst schrieb Marx: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst (18).“
Was wir also im modernen Kapitalismus sehen, ist eine im höchsten Maße widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte. Einerseits erleben wir eine – vom Stachel der kapitalistischen Konkurrenz angetriebene – Revolutionierung der Technik. Andererseits sehen wir eine zunehmende Untergrabung des gesellschaftlichen Fortschritts der Menschheit und der wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Reproduktion. Letzteres ist jedoch der wichtigste Faktor der Produktivkräfte. Jene, die die Produktivkräfte auf die Technik reduzieren, unterliegen letztlich dem gesellschaftlichen Nebel des Warenfetischismus und ignorieren die Warnung von Marx: „Allein die politische Ökonomie ist nicht Technologie (19).“
Natürlich wäre es ein kindischer Umkehrschluss, den Stand der Technik, als unwichtig oder sekundär abzutun. Im Gegenteil sie ist eine zentrale Grundlage für die ökonomische Basis und damit die gesamte gesellschaftliche Entwicklungsrichtung.
Der marxistische Theoretiker und Revolutionär Leo Trotzki verstand es, die der imperialistischen Epoche eigene widersprüchliche Entwicklung von technischen Neuerungen und stagnierender Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte dialektisch miteinander zu verbinden.
„Der menschliche Fortschritt steckt in einer Sackgasse. Trotz der letzten Triumphe der Technik wachsen die natürlichen Produktivkräfte nicht an (20).“
„Das Manifest hat den Kapitalismus gebrandmarkt, weil er die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Zu seiner Zeit jedoch, wie auch im Laufe der folgenden Jahrzehnte, war diese Hemmung nur eine relative: Wenn die Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sozialistischen Grundlagen hätte organisiert werden können, so wäre der Rhythmus ihres Wachstums unvergleichlich schneller gewesen. Diese These, theoretisch unbestreitbar, ändert nichts daran, daß die Produktivkräfte bis zum Weltkrieg im Weltmaßstab ununterbrochen weiter gewachsen sind. Erst im Laufe der letzten zwanzig Jahre ist trotz der modernsten Entdeckungen von Wissenschaft und Technik die Periode der unmittelbaren Stagnation und sogar des Niedergangs der Weltwirtschaft angebrochen (21).“
„Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der proletarischen Revolution ist schon seit langem am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren. Die neuen Erfindungen und die technischen Fortschritte dienen nicht mehr dazu, das Niveau des materiellen Reichtums zu erhöhen. Unter den Bedingungen der sozialen Krise des ganzen kapitalistischen Systems laden die Konjunkturkrisen den Massen immer größere Entbehrungen und Leiden auf. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit vertieft wiederum die finanzielle Krise des Staates und unterhöhlt die erschütterten Geldsysteme. Die Regime – die demokratischen wie die faschistischen – taumeln von Bankrott zu Bankrott (22).“
„Die Technologie ist jetzt unendlich mächtiger als am Ende des Krieges von 1914/18, wohingegen die Menschheit sehr viel mehr von Armut betroffen ist. Der Lebensstandard ist in einem Lande nach dem anderen gesunken (23).“
Wir sehen hier also, dass Trotzki keinen mechanisch-technischen Begriff der Produktivkräfte hatte, sondern einen gesellschaftlichen, worin der Arbeiterklasse und ihrer Entwicklung ein zentraler Platz eingeräumt wird.
Die Entwicklung des Kapitalismus bringt also immer wieder und in immer gewaltigeren Ausmaßen einen Zusammenstoß zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen hervor, zwischen den nach gesellschaftlicher Planung und internationalen Zusammenschluss drängenden Produktionsmethoden und -techniken auf der einen Seite und den beengenden Grenzen der einander abschottenden kapitalistischen Konkurrenz, der die gesellschaftliche Verbreitung neuer Erfindung unterdrückenden Monopolherrschaft und der Nationalstaaten auf der anderen Seite.
Der Fortschritt der Technik macht es heute möglich, weltweit Hunger und Arbeitslosigkeit abzuschaffen und die Folgen der Umweltzerstörung einzudämmen. Doch die Verwirklichung dieser Möglichkeiten setzt eine Gesellschaftsordnung voraus, die eben jene Fesseln der kapitalistischen Konkurrenz, Monopole und Nationalstaaten zerschlägt. Die Ausschöpfung des Potentials der Produktivkraftentwicklung bedarf einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der die technischen Errungenschaft durch eine weltweite sozialistische Planung unter der direkt-demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse im Interesse des breiten gesellschaftliche Fortschritts ausgeschöpft werden können.
In eben diesem Zusammenprallen zwischen den nach gesellschaftlichem Fortschritt drängenden Produktivkräften und den im historischen und aktuellen Sinne rückschrittlichen kapitalistischen Produktionsverhältnissen drückt sich die Notwendigkeit des Sozialismus aus. Daher die unausweichlichen wirtschaftlichen und politischen Explosionen, vor-revolutionäre und revolutionäre Situationen, mit denen der Fortschritt unüberhörbar an das Tor der Geschichte klopft oder – um die subjektive Seite dieses Prozess zu formulieren – in denen die Arbeiterklasse ihren Willen zum Überleben unter menschenwürdigen Umständen einfordert. Daher ist die Epoche des Imperialismus, des überlebten Kapitalismus, jene Epoche der sozialen Revolution, die Marx schon 1859 voraussah:
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein (24).“
Fassen wir die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammen. Die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion aus, aber nicht ausschließlich. Sie drückt sich ebenso auch im allgemeinen Entwicklungsgang der Gesellschaft (Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung) und der Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit aus.
In anderen Worten: es existiert ein eindeutiger Zusammenhang, eine Verbindung zwischen der Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte und der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion. Sie hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch! Da Maschinen und Technik Teil der Produktivkräfte sind, ist die Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion ein wichtiger Indikator für die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte. Er ist jedoch nicht der einzige Indikator. Weitere Indikatoren sind die Entwicklungsdynamik der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse und der Menschheit, Arbeitslosigkeit und Armut und Formen der Zerstörung von Produktivkräften (z.B. durch Kriege oder Umweltkatastrophen).
Zusammengefasst meinen Marxisten, wenn sie heute von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, folgende Entwicklungen:
• Weitgehende Unfähigkeit des Kapitalismus, technologische Neuerungen und wirtschaftliches Wachstum in gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit umzuwandeln. Im Gegenteil, der Kapitalismus untergräbt zunehmend die Möglichkeiten des Fortschritts für die Menschheit.
• Sinkende Wachstumsdynamik sowohl der Warenproduktion als auch der Kapitalakkumulation.
• Zunehmende Instabilität und Krisenhaftigkeit des Weltkapitalismus auf ökonomischer und politischer Ebene.
Erst wenn die Schranken der Produktivkräfte – die Bourgeoisie und ihre Gesellschaftsordnung – endgültig gesprengt werden, und somit technische Neuerungen nicht mehr im Interesse des Kapitals, sondern im Interesse der gesamten Menschheit stattfinden, können die Produktivkräfte ihr gewaltiges Potential voll entfalten und wirklich in den Dienst der Menschheit gestellt werden. Deshalb: Kein Fortschritt ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Revolution!
(1) So z.B. unter anderem die bürgerlichen Ideologen der Zeitschrift Economist, Business Week oder Ökonomen von Goldmann Sachs. Aber auch im linken Lager gibt es eine Reihe von Akademikern, die – wenn auch oft mit „marxistischer“ Phraseologie getarnt – die Krisenhaftigkeit und Niedergangstendenzen des Kapitalismus leugnen (z.B. Leo Panitch und Sam Gindin).
(2) Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 408
(3) Friedrich Engels: Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859); in: MEW 13, S. 476. Aus dieser Grundlage der „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ergibt sich das Phänomen der Warenfetischismus, „dieser Religion des Alltagslebens“ im Kapitalismus. (siehe dazu Karl Marx: Kapital Band I, MEW 23, S. 85-98 sowie Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 838f.)
(4) Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; in: MEW 19, S. 227f.
(5) Nikolai Bucharin: Theorie des historischen Materialismus (1921), S. 125
(6) Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 181. Auch an einer anderen Stelle bezeichnet Marx den Menschen als „die Hauptproduktivkraft“ (Grundrisse der politische Ökonomie, in: MEW 42, S. 337)
(7) Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode (1920), S. 91
(8) Die Arbeit wurde unseres Wissens nach nie auf deutsch oder englisch übersetzt. Das Zitat haben wir folgendem Artikel entnommen: Michael Löwy: Die nationale Frage und die Klassiker des Marxismus; in: Nairn/Hobsbawm/Debray/Löwy: Nationalismus und Marxismus, Berlin 1978, S. 114
(9) Franz Jakubowski: Der ideologische Überbau in der materialistischen Geschichtsauffassung (1935), Frankfurt a.M. 1968, S. 30. Franz Jakubowski war trotz seiner jungen Jahre nicht nur theoretisch versiert, sondern wurde 1935 auch Führer des trotzkistischen „Spartakusbundes“ im deutschen Freistaat Danzig. 1936 wurde die Organisation von der Gestapo ausgehoben und Jakubowski zu drei Jahren Haft verurteil. Trotzki schrieb über den Prozeß einen Artikel. („Der Danziger Trotzkisten-Prozeß“ (29.4.1937); in: Schriften über Deutschland Band II, S. 711ff.)
(10) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 366.
(11) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 368.
(12) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 673ff.
(13) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 60
(14) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 424.
Das Marx und Engels zu diesem Zeitpunkt das Entwicklungspotential des Kapitalismus zu früh als ausgeschöpft sahen und diesen Standpunkt später korrigieren mußten, ist eine Tatsache, auf die auch Trotzki in seinem Essay „90 Jahre Kommunistisches Manifest“ hinwies. Sie tut der analytischen Logik der Argumentation jedoch keinen Abbruch.
(15) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 529
(16) Karl Marx: Das Kapital, II. Band, MEW 24, S. 393f.
(17) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 327
(18) Karl Marx: Das Kapital, Band 3; in: MEW 25, S. 260
(19) Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: MEW 13, S. 617
(20) Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit (April 1939), Wien 1987, S. 11, im Internet: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm
(21) Leo Trotzki: Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest (1937); in: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a. M. (1981), S. 333
(22) Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm (1938), S. 5, im Internet:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm
(23) Leo Trotzki: Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution (1940); in: Leo Trotzki: Schriften zum imperialistischen Krieg, Frankfurt a. M. (1978), S. 138
(24) Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: ; in: MEW 13, S. 9