Arbeiter:innenmacht

Die Türkei ein Jahr nach dem 15. Juli – Erdogans Gegenputsch triumphiert

Svenja Spunck, Infomail 954, 24. Juli 2017

Im Juli letzten Jahres fanden in der Türkei zwei Putsche statt, ein erfolgloser und ein erfolgreicher. Am Abend des 15. Juli verbreiteten sich rasend schnell Fotos in den sozialen Medien, die die Bosporus-Brücke zeigten, welche durch das Militär abgeriegelt wurde, und die Bombardierungen von Regierungsgebäuden in Ankara durch die Armee.

Bis heute ist nicht sicher, wer diesen Putsch geplant und durchgeführt hat. Glaubt man den Aussagen der AKP-Regierung und ihren AnhängerInnen, so waren es ganz eindeutig der in den USA lebende Fethullah Gülen und seine Hizmet-Bewegung, die ihren schon seit langem aufgebauten Staat im Staat auf diese Weise an die Macht bringen wollten. Um diese Bewegung zu diffamieren, wurde der Begriff „FETÖ“ ins Leben gerufen, was so viel wie „Fethullahistische Terrororganisation“ heißen soll.

Erdogans Putsch

Hunderttausende wurden unter dem Vorwurf – besser Vorwand – aus dem Staatsdienst entlassen, Mitglieder dieser Organisation zu sein – in erster Linie MitarbeiterInnen der Justiz und AkademikerInnen.

Und hierbei handelt es sich um den zweiten, den erfolgreichen Putsch, der bis heute ausgeführt wird. Die Webseite <www.turkeypurge.com> dokumentiert präzise, wie viele Entlassungen es seit dem 15. Juli 2016 gegeben hat, ebenso, wie viele JournalistInnen verhaftet wurden. Nicht nur die 274 inhaftierten JournalistInnen sollten dabei auffallen, sondern vor allem auch die nirgendwo offiziell registrierte Zahl von Medienschaffenden, die tagtäglich durch Hausdurchsuchungen, Internetsperren oder Ausreiseverbot drangsaliert werden.

So wie Erdogan und die AKP sich FETÖ als Zielscheibe für die Säuberung des Staatsapparates geschaffen haben, so liegt auch die Definitionsmacht darüber, wer zu dieser Organisation gehört, in ihren Händen. Es ist kein Geheimnis, dass die Gülen-Bewegung lange Zeit eine enge und gute Beziehung zur AKP und Erdogan pflegte und dabei half, die kemalistischen Eliten aus dem Staatsapparat zurückzudrängen. Sie wirkte auch tatkräftig bei allen Versuchen mit, die kurdische Bewegung zu zerschlagen und die Herrschaft des türkischen Staates im Osten zu stärken.

Die bekanntesten Beispiele dafür sind die Balyoz- und Ergenekon-Prozesse aus den Jahren 2010 bzw. 2013, so wie die KCK-Prozesse. Balyoz und Ergenekon sind Namen von mutmaßlichen Geheimorganisationen innerhalb des Militärs, die angeblich einen Putsch gegen die AKP-Regierung planten. Jedoch ging es hierbei vor allem um die Säuberung des Militärs von der Hegemonie der Kemalisten und die Ersetzung dieser durch Offiziere, die der AKP treu sind. Richter und Staatsanwälte in diesen Verfahren waren zum Großteil Anhänger der Gülen-Bewegung und wurden nun entlassen. Man könnte meinen, Erdogan bekomme langsam Angst vor der Position, die sich die Anhänger dieser Bewegung geschaffen haben. In den KCK-Prozessen ging es in erster Linie um die Vernichtung der Strukturen der kurdischen Bewegung. Zuletzt wurden im Mai 2017 gegen dutzende kurdische PolitikerInnen jahrelange Haftstrafen verhängt, jedoch einige Verurteilte konnten sich noch rechtzeitig ins Ausland absetzen.

Es muss betont werden, dass die Maßnahmen, die nun gegen (vermeintliche) Gülen-AnhängerInnen durchgeführt werden, für Linke und KurdInnen seit Jahren an der Tagesordnung sind. Die Absetzung und Inhaftierung demokratisch gewählter kurdischer BürgermeisterInnen wurde ab Mitte 2015 verstärkt, nachdem die AKP den Einzug ins Parlament mit einer absoluten Mehrheit verpasst hatte. Der Erfolg der HDP bei jenen Wahlen war es auch, der der Partei Erdogans zunächst einen Strich durch die Rechnung machte und die Einführung des Präsidialsystems blockierte.

Die Stimmen, die ihr dafür fehlten, sollten bei den Neuwahlen wieder reingeholt werden, auf die die Bevölkerung mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen vorbereitet wurde. Durch gefälschte und gestohlene Stimmen konnten sowohl die Wahlen im November 2015 als auch das Referendum im April 2017 gewonnen werden, wobei letzteres den wachsenden Unmut gegen die AKP in der Bevölkerung zeigte.

Rund zwei Millionen Stimmen mussten gefälscht werden, um den hauchdünnen Vorsprung der AKP zu sichern, Von einem „demokratischen Mandat“ kann hier wohl keiner sprechen. Die Proteste, die sich um dieses Referendum formiert hatten, sind nun leider wieder abgeebbt. Es fehlte vor allem an einer treibenden politischen Kraft, die diese bündeln und ihnen eine Perspektive aufzeigen konnte. Gerade solch eine Kraft zu finden, ist schwer in der heutigen Türkei.

Die Repressionswelle ist dafür ein Grund. Jede/n kann es wegen noch so kleiner „Vergehen“ treffen. Die Verurteilten müssen jahrelange Haftstrafen absitzen in Gefängnissen, wo sie Willkür erwartet und Folter droht. Erdogan bezeichnete den Putschversuch als ein Geschenk Gottes und wahrlich – er wurde „erhört“.

Die Gülen-Bewegung hatte Ende 2013 Korruptionsskandale um Erdogans Familie und weitere hochrangige AKP-PolitikerInnen veröffentlicht, für die er eigentlich hätte verurteilt werden müssen. In jedem Fall vertiefte sich der Graben zwischen der AKP und ihren einstigen Verbündeten. Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes konnte Erdogan noch vor der Einführung des Präsidialsystems alle Zügel in die Hand nehmen und sich mit diesem Rundumschlag sämtlicher Opposition weitgehend entledigen.

Unter dem Motto „Ein Volk, eine Fahne, eine Heimat, ein Staat“ versucht Erdogan, die Türkei unter großem Druck unter einem bonapartischen Regime zu vereinen, gegen sämtliche äußeren und vor allem inneren Feinde. Er präsentiert sich dabei als über den Gruppen stehende Verkörperung der „nationalen Einheit“ aller TürkInnen, aller MuslimInnen. Er stützt sich dabei auf eine reale Basis in Teilen der Bourgeoisie, vor allem aber auch des Kleinbürgertums in Stadt und Land. Der gescheiterte Putsch war für ihn der willkommene Anlass zur Säuberung des Staatsapparates und dazu, sich permanent diktatorische Vollmachten zu sichern, die Medien unter seine Kontrolle zu stellen, die bürgerlich demokratischen Rechte zu zerstören und „Demokratie“ als plebiszitäre, populistische Übung für die Absegnung der AKP-Politik zu verwenden.

Krise der Opposition

Rhetorisch und praktisch gibt es für ihn keinen Unterschied mehr zwischen friedlichen Oppositionellen und TerroristInnen. StudentInnen werden wegen Facebook-Posts zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Der Vorwurf lautet: Terrorpropaganda. AkademikerInnen, die entlassen wurden, fordern ihre Arbeit zurück und treten dafür sogar in den Hungerstreik. Die ArbeiterInnenbewegung, in der Türkei sowieso politisch und gewerkschaftlich schwach, bringt keine Proteste auf die Straße, geschweige denn finden politische Streiks statt. Die Repression gegen Gewerkschaftsmitglieder hält sich zwar in Grenzen, doch ein Großteil der Gewerkschaften steht seit Jahren sowieso unter der Kontrolle der AKP.

Die HDP, einst Hoffnungsträgerin der oppositionellen Kräfte und unterdrückten Minderheiten der Türkei, ist extrem geschwächt, nicht nur weil ihre Führung verhaftet ist, sondern weil ihre undemokratische Parteistruktur jeglichen Fortschritt und Einfluss linker und sozialistischer Gruppen lähmt. Vor allem hat sie es verabsäumt, bis heute eine politische und strategische Antwort auf die Bedingungen unter einem diktatorischen und zugleich populistischen Regime zu finden.

Die größte, kemalistische Oppositionspartei CHP, die erst der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zustimmte, ist nun selbst von solchen Maßnahmen betroffen. Sie mobilisierte mehrere hunderttausend AnhängerInnen zu dem „Gerechtigkeitsmarsch“ auf die Straße. Die Gerechtigkeit, die dort gefordert wurde, galt in erster Linie für sie selbst. HDP-AnhängerInnen wurde es untersagt, mit ihren Parteifahnen am Protest teilzunehmen, und so reiht sich die CHP brav ein in den Tenor der Regierung, die versucht, die kurdische Bewegung als das größte aller Übel zu brandmarken. Zwar erntete auch sie für ihren Marsch hämische Kommentare aus der Regierung, doch die AKP ist sich wohl bewusst über die Rolle, in die sie die CHP drängen kann – die Rolle der zahnlosen Alibi-Opposition, die eine Diktatur von einer Demokratie zumindest dem Anschein nach unterscheidet.

Doch so gespalten die Opposition jetzt ist, so wichtig wäre ein entschlossener Widerstand gegen das Regime der islamistischen AKP. So allmächtig sich Erdogan auch gerne gibt – sein Regime steht auf eine unsicheren wirtschaftlichen und sozialen Grundlage. Es ist absehbar, dass die Türkei von einer wirtschaftlichen Krise getroffen wird, beispielsweise wenn die Immobilienblase platzt, auf der ein Teil des ökonomischen Erfolgs der AKP aufbaut. Ebenso kann sich der Kampf um die kurdischen Regionen weiter zuspitzen oder auch die Lage in Syrien verändern, in dessen Norden die türkischen Truppen demnächst einmarschieren wollen.

Dennoch reicht es nicht, auf die Krise und einen spontanen Aufstand zu warten, sondern in erster Linie müssen jetzt grundlegende demokratische Rechte zurückgefordert werden wie die Aufhebung des Ausnahmezustandes, Aufklärung über den Betrug während des Referendums, Freilassung aller verhafteten Abgeordneten, JournalistInnen, StudentInnen usw. Ein zweiter wichtiger Aspekt für den Aufbau einer politischen Massenmobilisierung könnte die Forderung nach Offenlegung des Geflechts aus Korruption, Vetternwirtschaft und privater Bereicherung rund um Erdogan, seine Familie und andere Teile der AKP und der KapitalistInnenklasse sein.

Dazu braucht es nicht nur international bekundete Solidarität, sondern eine internationale, sozialistische Organisation, die gemeinsam ein politisches Programm entwickeln kann, mit dem in der Türkei eine ArbeiterInnenpartei aufgebaut und die Herrschaft der AKP beendet werden kann.

Türkei und die imperialistischen Staaten

Heute ist die Türkei auf dem Weg in eine Diktatur, der man sich nicht nur mit moralischen Belehrungen oder Pazifismus entgegenstellen kann. De facto werden täglich Menschen verhaftet, von zu Hause oder ihrem Arbeitsplatz abgeholt und verschwinden jahrelang hinter Gittern. Manchen wird sogar verwehrt, mit einem Anwalt zu sprechen. Bei diesen Zuständen reichen keine hohlen Verurteilungen deutscher PolitikerInnen, die wesentlich zum Aufstieg Erdogans beigetragen und seine Armee mit Waffen beliefert haben. Während sie Moral einmahnen, werden kurdische Oppositionelle und Organisationen wie die PKK weiter als „TerroristInnen“ verfolgt und die EU-Außengrenzen in Zusammenarbeit mit der Türkei weiter für Millionen abgeriegelt. Der deutschen Regierung und der EU geht es nicht um Demokratie und Menschenrechte. Das ist reinste Heuchelei. Die Forderungen nach Sanktionen gegen die Türkei, nach einem „Kurswechsel“ der EU-Politik, also einem Aussetzen der Beitrittsverhandlungen, dienen vor allem dazu, die längerfristigen wirtschaftlichen und geo-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus und der EU zu verfolgen. An Erdogan stört sie nicht, dass er zu diktatorischen Maßnahmen greift, sondern dass sich die Türkei gegenüber den herrschenden Mächten der westlichen Welt und v. a. gegenüber Deutschland und der EU unbotmäßig verhält. Die Drohung mit Sanktionen dient dazu, einer Regionalmacht zu zeigen, wo der Hammer hängt.

Umgekehrt versucht das türkische Regime, zwischen den konkurrierenden imperialistischen Mächten wie Russland, Deutschland, den USA zu manövrieren. Die reale Einbindung in die existierende globale wirtschaftliche und politische Ordnung wird das zwar nicht antasten, den Spielraum kann es jedoch erhöhen. Hinzu kommt, dass das Regime Erdogan jede Opposition nicht nur als AnhängerInnen von TerroristInnen aller möglichen Couleur hinzustellen vermag, sondern auch noch als von „außen“ gesteuerte, volksfeindliche Kräfte.

Die internationale Linke und ArbeiterInnen dürfen auch daher ihre Solidarität mit der Opposition in der Türkei, mit den Verfolgten, mit dem unterdrückten kurdischen Volk nicht im Schlepptau der imperialistischen und bürgerlichen „Türkei-Kritik“ betreiben. Im Gegenteil, sie müssen sich von der heuchlerischen und durch eigene, imperialistische Interessen diktierten Politik der deutschen Regierung oder der EU klar absetzen und die Forderung nach Sanktionen zurückweisen. Vielmehr sollte sich eine Solidaritätsbewegung um folgende Forderungen gruppieren:

– Offene Grenzen und Asyl für alle, die aus der Türkei flüchten! Öffnung der Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle Geflüchteten!

– Keine Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Türkei! Abzug der Bundeswehr wie aller NATO-Truppen!

– Aufhebung des Verbots der PKK wie aller anderen kurdischen und türkischen Organisationen!

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