Arbeiter:innenmacht

Antisemitismus und Antizionismus: Reaktionäre Gleichsetzung

Markus Lehner, Neue Internationale 226, Februar 2018

Als US-Präsident Donald Trump am 6. Dezember Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, hatte er damit nicht nur dem schon maroden Nahost-Friedensprozess („Oslo-Verträge“) den Todesstoß versetzt. Mit dem offenen Bruch völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Status von Jerusalem, der de facto Anerkennung der Okkupation Ost-Jerusalems und der Übereignung eines Mega-Symbols der islamischen Welt an Israel hat Trump die gesamte Region in Bewegung und Aufruhr versetzt.

In der Bundesrepublik beherrschte jedoch schon bald ein anderes „weltpolitisches Thema“ in diesem Zusammenhang die öffentliche Debatte: hatten doch bei zwei Demonstrationen in Berlin unter den hunderten empörten DemonstrantInnen einige wenige TeilnehmerInnen eine auf Papier gemalte Israelfahne verbrannt. Seitdem beherrscht die Sorge über „hasserfüllten Antisemitismus“ unter MuslimInnen in Deutschland die Szene. Umstandslos wird dies in einem Atemzug genannt mit tatsächlich widerlichen antisemitischen Attacken wie der eines Rechtsradikalen, der den jüdisch-stämmigen Restaurantbesitzer Yorai Feinberg in Schöneberg nicht nur unflätig beschimpft, sondern ihm auch gleich mit der Gaskammer gedroht hatte.

Kern der öffentlichen Debatte

Der Gipfelpunkt wurde schließlich in der Bundestagsdebatte zur Einrichtung einer/s Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung Mitte Januar erreicht. Dabei begründete AfD-Frontfrau von Storch die Zustimmung ihrer Partei zu dieser Einrichtung damit, dass Antisemitismus in Deutschland heute nur noch ein Problem sei, da es hierzulande so viele muslimische MigrantInnen gäbe. RednerInnen anderer Fraktionen wiesen dies zwar zurück – immerhin weisen sogar die offiziellen Statistiken nach, dass die Mehrzahl antisemitisch motivierter Straftaten von rechtsextremen Deutschen verübt wird. Aber von Storch trifft hier schon den ideologischen Kern der Debatte von Politik und MeinungsmacherInnen und ihrer Funktion im Rahmen einer allgemeinen Diffamierung von Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund.

In Politik umgesetzt wird die AfD-Polemik tatsächlich von CDU/CSU: Noch im Januar wollen die Unionsfraktionen im Bundestag einen Antrag einbringen, mit dem Antisemitismus-Vorwürfe als Abschiebegrund verwendet werden können. „Wer jüdisches Leben in Deutschland ablehnt oder das Existenzrecht Israels in Frage stellt, kann keinen Platz in unserem Land haben“, heißt es da. Wer Hass gegen Israel schüre, müsse mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden. Daher soll auf die Bundesländer eingewirkt werden, beim Entzug des Aufenthaltsrechtes bestimmte Verhaltensweisen „deutlich gravierender einzustufen“.

Damit wird tatsächlich der Eindruck erweckt, der muslimische Antisemitismus sei in Deutschland das vordringliche Antisemitismus-Problem bzw. alle, die gegen die Politik des Staates Israel protestierten, stünden in der Geschichtslinie des klassischen Antisemitismus. VerfassungsschützerInnen und akademische ForscherInnen sprechen hier gerne von „antizionistischem Antisemitismus“. Speziell in der muslimischen Welt habe sich aus diesem von Europa in den 1920er/30er Jahren importierten Antisemitismus in Verbindung einerseits mit dem aufkommenden Islamismus, andererseits mit der Radikalisierung im zugespitzten Israel/Palästina-Konflikt ein gefährlicher „Antisemitismus neuer Form“ herausgebildet, in dem Antisemitismus und Antizionismus aufs Engste verwoben seien.

Zu fragen ist, was der in Europa und vor allem in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert entstandene politische Antisemitismus tatsächlich mit dem in der arabischen Welt verbreiteten Antizionismus zu tun hat.

Wurzeln des Antisemitismus

Der klassische Antisemitismus stützte sich auf einen alten reaktionär-christlichen Anti-Judaismus (die Juden als die ChristusmörderInnen, als BrunnenvergifterInnen, als KindermörderInnen,…) sowie auf jahrhundertelange Ausgrenzung und zwangsweise Beschränkung der jüdischen Bevölkerung auf bestimmte Berufszweige im Bereich von Handel und Finanzen. Beides mündete in eine lange Geschichte von Verleumdungen, Pogromen und Vertreibungen. Aufklärung und liberaler Frühkapitalismus führten zu gewissen Erleichterungen, ermöglichten einer kleinen Schicht den Aufstieg ins liberale Bürgertum bzw. lösten die jüdische Gesellschaft langsam in die entstehende bürgerliche Klassengesellschaft der jeweiligen europäischen Nationalstaaten auf.

Zwei Ereignisse änderten ab Anfang der 1870er Jahre diese Entwicklung schlagartig. Einerseits führte die mit dem Finanzkrach 1871 beginnende 20-jährige Stagnationsphase zu einer Diskreditierung der liberalen Eliten, was nicht nur zum Aufstieg der organisierten ArbeiterInnenbewegung beitrug, sondern auch Nährboden für populistische reaktionäre Bewegungen wurde – unter anderem wurden die „jüdischen Liberalen und Kapitalisten“ zu allgemeinen Sündenböcken für Bewegungen wie die Christsozialen in Österreich oder diverse deutschnationale Konservative in Deutschland. Zweitens setzte mit den anti-jüdischen Pogromen im Zarenreich in den 1880er Jahren eine massive Flüchtlingswelle osteuropäischer JüdInnen ein. Die Reaktion darauf war in den verschiedenen europäischen Ländern ziemlich dieselbe wie die anti-muslimische Hetze, die nach 2015 und der jetzigen sogenannten „Flüchtlingskrise“ einsetzte.

Im antisemitischen Rassismus verbinden sich Angst und Hass auf das „Fremde“, auf angeblich nicht „Integrationswillige“ mit Verschwörungs- und Unterwanderungstheorien, die mit einem „völkischen Abwehrkrieg“ zu beantworten seien. Speziell beim Antisemitismus wird durch die Verbindung der angeblichen „jüdischen Finanzmacht“ mit sagenhaften universalistischen und globalistischen Plänen der jüdischen Netzwerke eine Untergrabung aller „gesunden Nationen“ und ihrer „natürlichen“ Unterschiedlichkeit konstruiert. Insofern geht der Antisemitismus deutlich über „gewöhnlichen“ Rassismus hinaus und fordert in letzter Konsequenz die „Befreiung aller Völker“ von dieser globalen Bedrohung, wird also in letzter Konsequenz eliminatorisch.

Der Erfolg des Antisemitismus im frühen 20. Jahrhundert lässt sich jedoch nur im Kontext von Imperialismus und des Scheiterns der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung verstehen. Seit den 1890er Jahren hatte der liberale Kapitalismus sein Gesicht wesentlich verändert. Immer größere Bedeutung des Weltmarktes, immer größere international agierende Kapitale und darauf basierende aggressive Großmachtpolitik, eine Weltordnung, bestimmt durch wenige ImperialistInnen etc., führten zum Aufbrechen der traditionellen nationalstaatlichen Politik, zu wachsender Kriegsgefahr und raschem sozialen Wandel (schneller Aufstieg und ebenso schneller sozialer Abstieg).

Der Imperialismus ist ein Nährboden für Herrenmenschenideologien, die zur Herrschaft geborene Nationen und „Arschloch-Nationen“ unterscheiden – und natürlich die „Parasiten-Völker“, die sich in gesunde „Herrenvölker“ einnisten. Letzteres wurde widerlich glasklar so von Friedrich Nietzsche über die JüdInnen formuliert: Sie seien ein Volk, das seinen natürlichen Untergang durch das Einnisten in Herrenvölkern überdauert habe, um diese mit ihrer universalistischen „Sklavenmoral“ letztlich zu unterwerfen (siehe Nietzsche, „Antichrist“). Diese Logik von der notwendigen Befreiung vom jüdisch-demokratisch-bolschewistisch-avantgardistischen Parasitentum findet sich dann immer politischer gewendet in den antisemitischen Kernschriften von Chamberlain bis Rosenberg, der sie bekanntlich als „Ostminister“ der Nazis dann auch in die Tat umgesetzt hat.

Zionismus und Kolonialismus

Der arabische Antizionismus ist in einem völlig anderen Kontext entstanden. HistorikerInnen sind sich weitgehend einig, dass ein spezifischer arabischer Anti-Judaismus bis in die 1930er Jahre hinein nicht allgemein feststellbar ist (mit sporadischen Ausnahmen wie den AlmohadInnen in Andalusien). Bis ins 18. Jahrhundert lebte sogar ein Großteil der JüdInnen weltweit in der muslimischen Welt – und die Umkehrung seitdem hatte mehr mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Europa und der beginnenden Liberalisierung dort als mit irgendwelchen Vertreibungen aus der islamischen Welt zu tun. Außerdem war, wie auch neuere israelische HistorikerInnen wie Shlomo Sand darlegen, anders als im Gründungsmythos des Staates Israel behauptet, die jüdische Diaspora in ihrer überwiegenden Mehrheit bis spät ins 19. Jahrhundert „anti-zionistisch“. Das heißt, trotz vergleichsweise geringer Hindernisse, ins muslimisch geprägte Palästina oder nach Jerusalem zu siedeln, war dies jahrhundertelang kein erstrebenswertes Ziel für jüdische Einwanderung.

Die rabbinischen Gemeinden bezogen sich spirituell auf Jerusalem und sahen als Bedingung für eine Rückkehr in das gelobte Land die Ankunft des Messias. Nur einige kleine Sekten wie die KaräerInnen (AnanitInnen) im 9. Jahrhundert brachen dieses Gebot. Diese Haltung begann, sich erst Ende des 19. Jahrhunderts langsam zu ändern. Dazu trugen zwei Entwicklungen wesentlich bei: Einerseits wurde die besagte Flüchtlingswelle seit den 1880er Jahren aus Osteuropa sowohl von den integrierten jüdischen Gemeinden als auch von den politisch Herrschenden in den westeuropäischen Nationalstaaten zu einem „Problem“ gemacht. Verschiedenste Einwanderungsgesetze versuchten, den Zustrom der „Ostjuden“ zu unterbinden beziehungsweise diesen weiterzuleiten. Dies betraf letztlich auch das „liberale“ England und später auch die USA. Palästina als Zielland der Auswanderung war durchaus naheliegend, aber damals noch Teil des osmanischen Reiches und daher eine Auswanderung dorthin weder leicht zu organisieren noch besonders attraktiv.

Die zionistischen Bemühungen dieser Zeit brachten nur einen ganz geringen Zuzug nach Palästina. In einem zynischen kolonialistischen Akt, der an die heutigen Deals der EU mit der Türkei oder Libyen erinnert, versprach der britische Kolonialminister Chamberlain 1903 dem Führer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, das „weitgehend menschenleere“ Gebiet Uganda als neue Heimstätte für das jüdische Volk. Herzl nahm dieses Angebot begeistert an. Nicht weil es irgendeine realistische Perspektive auf Umsetzung hatte, der wesentliche Punkt war, dass damit die zionistische Bewegung von einer imperialistischen Großmacht als Verhandlungspartnerin und als mögliches koloniales Projekt anerkannt wurde.

Imperialismus

Und genauso kam es später: Zum wesentlichen Erfolgsfaktor des Zionismus wurde, dass er zu einem Element der kolonialistischen Politik von Großmächten wie Britannien und den USA wurde. Als am Ende des Ersten Weltkriegs klar wurde, dass Palästina künftig von Britannien kontrolliert würde, machte der britische Außenminister Balfour der zionistischen Bewegung das Angebot, dort eine „Heimstätte“ zu finden. Schon lange vorher hatten die Kolonialstrategen des Vereinigten Königreichs erkannt, dass eine Kontrolle Palästinas ohne ein verstärktes jüdisches Siedlungsprojekt dort schwer möglich sei. Einige Kolonialbeamte sahen sogar vor, dass man die dort bisher lebende Bevölkerung in Reservate umsiedeln müsse, ähnlich wie in Nordamerika.

Das britische Mandatsgebiet Palästina wurde so nach einer ersten Einwanderungswelle Anfang der 1920er Jahre zu einer typischen britischen Siedlerkolonie. Linke und kritische ZionistInnen kritisierten zwar sehr wohl die Behandlung der arabischen Bevölkerung und die schleichend vor sich gehende Okkupation, die damit begann. Mehrheitlich war der Zionismus jedoch auch in seiner labouristischen Form von Anfang an nicht auf eine friedliche Koexistenz oder gar multi-ethnische Gesellschaft in Palästina ausgerichtet. Die arabischen Aufstände in den 1920er und 1930er Jahren waren eine logische Konsequenz der Kolonialpolitik und folgten dem überall in der Welt zu beobachtenden Muster von anti-kolonialistischen nationalen Aufständen. Heute werden daraus häufig antisemitische Pogromversuche gemacht, da sich die Aufstände auch zu Übergriffen auf jüdische SiedlerInnen ausweiteten. Damit soll auch gerechtfertigt werden, dass sich der Zionismus schon von Anfang an stark militarisiert hat mit der klaren Zielrichtung, jederzeit gegen „arabische UnruhestifterInnen“ vorgehen zu können. Wie andere weiße Siedlerbewegungen in Kolonialgebieten auch entwickelte der Zionismus ein System der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und letztlich auch repressiven Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung in der Region.

Antizionismus – legitim und notwendig

Die AraberInnen und PalästinenserInnen tragen keine Verantwortung für den Holocaust, Pogrome, industriellen Massenmord und die Vertreibung von Millionen europäischer JüdInnen durch die Nazis. Dass die große Einwanderungswelle nach 1945 in Palästina die demographischen Verhältnisse wesentlich verändert hat, hätte an sich noch nicht zu der Zuspitzung der Situation 1948 führen müssen. Die konstanten Vertreibungen von PalästinenserInnen, die Umsiedlungspläne, die mit dem Teilungsplan von 1947 einhergingen, und die Etablierung eines eigenen hochgerüsteten jüdischen Staates mussten in der arabischen Welt als weiteres Projekt für ihre koloniale Unterdrückung gesehen werden. Der Widerstand dagegen war berechtigt und kein anti-semitischer Akt in Verleugnung des großen Leidens der jüdischen EinwanderInnen. Die Niederlage der arabischen Armeen, die Etablierung eines zionistischen Staates auf der Grundlage einer Vertreibung von 700.000 PalästinenserInnen und seine enge militärisch-politische Anbindung an die USA machten Israel von Anfang an zu einem eindeutig rassistischen und imperialistischen Projekt. Es basiert einerseits auf der systematischen Ausgrenzung der in seinem Staatsgebiet lebenden arabischen Bevölkerung (ob mit israelischer Staatsangehörigkeit oder in den besetzten Gebieten), andererseits auf einem gewaltigen Militarismus.

Angesichts der Bedeutung des Nahen Ostens für Weltwirtschaft und Weltpolitik ist es klar, dass der Vorposten Israel für die imperialistische Kontrolle der Region von unschätzbarem Wert war und ist. Noch jeder US-Präsident hat vorgerechnet, wie viel mehr Israel für seine Interessen wert ist als die jährlichen Haushaltsmittel speziell für US-Militärhilfe. Inzwischen hat sich Israel natürlich weit über eine ökonomisch subventionierte „Siedlerkolonie“ hinaus entwickelt. Es ist eine der fortgeschrittensten kapitalistischen Ökonomien der Region, in der sich verschiedenste gesellschaftliche Bruchlinien, von der sozialen Frage bis hin zu vielerlei ethnischen Konflikten, aufgetan haben. Weiterhin bleibt aber die zionistische Unterdrückungspolitik gegenüber der arabischen Bevölkerung auf israelischem Territorium und in den besetzten Gebieten bestimmend für den Charakter des Staates.

Israel – ein Schutz gegen Antisemitismus?

Auch die Auffassung, dass Israel endlich das Instrument sei, mit dem JüdInnen eine langfristige Garantie für Selbstverteidigung vor anti-jüdischer Verfolgung haben werden, ist sehr fragwürdig. Ein Staat von 6 Millionen JüdInnen, der auf der Unterdrückung von (die palästinensische Diaspora mitgerechnet) 9 Millionen PalästinenserInnen beruht, mit denen sich etwa 350 Millionen AraberInnen solidarisch fühlen, bedarf eines beträchtlichen militärischen Aufwands, um sich unter Bedingungen kompromissloser Nicht-Friedenspolitik in der Region behaupten zu können. Sollte, aus welchen weltpolitischen Gründen auch immer, das Interesse der Großmächte an Israel verlorengehen, kann dies für die dort lebenden JüdInnen rasch zu einer sehr bedrohlichen Situation führen. Jedenfalls führt die kompromisslose zionistische Apartheidpolitik der letzten Jahrzehnte zu einer schiefen Ebene Richtung Rechtspopulismus und immer extremer werdenden anti-arabischen Rassismus. Inzwischen hören sich die Pläne der Regierungsparteien immer mehr nach denjenigen der Reservatspläne der vormaligen britischen Kolonialbeamten an. Die unbegrenzte Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und das Agieren der israelischen Sicherheitskräfte mitsamt der Beerdigung jeglichen Friedensprozesses lässt unweigerlich eine nächste Vertreibungswelle befürchten.

Der arabische Anti-Zionismus ist also an sich eine gerechtfertigte Reaktion auf nationale Unterdrückung und das imperialistische Ausbeutungsregime im Nahen Osten. Er hat an sich nichts zu tun mit einer Herrenvolkideologie, die mit der Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung ihre eigenen imperialen Abenteuer und Pogrome zu rechtfertigen versucht. Auch nach Deutschland geflüchtete PalästinenserInnen und AraberInnen haben natürlich das Recht, diese Protesthaltung zu zeigen, und nicht die Verpflichtung, die Schuld des eliminatorischen deutschen Antisemitismus als eine Art „Integrationsleistung“ gleich mit auf sich zu nehmen. Daher ist auch die Verbrennung einer Nationalfahne (und eine solche ist auch die Fahne des Staates Israel vornehmlich, so sehr der Davidstern auch religiös interpretierbar ist) in einer großen Demonstration an sich nicht ein Zeichen des Antisemitismus, sofern dies nicht mit der Herabwürdigung sonstiger Symbole des Judentums und pauschalisierender anti-jüdischer Hetze verbunden ist. Auch das Verbrennen türkischer Fahnen auf kurdischen Demonstrationen ist ja keine anti-muslimische oder generell gegen alle TürkInnen gerichtete Symbolik, sondern veranschaulicht nur die Entschlossenheit zum Widerstand gegen die Politik des türkischen Staates.

Ebenso ist auch die beliebte Zuschreibung von „sekundärem Antisemitismus“ (Schuldentlastung über: „Die JüdInnen sind ja auch RassistInnen und FaschistInnen“) für diejenigen Deutschen, die sich mit palästinensischem Protest solidarisieren, verallgemeinernd und falsch. Natürlich ist es für die deutsche Solidaritätsbewegung notwendig, klar zu machen, dass sich die Kritik gegen die Politik des israelischen Staates richtet, und jegliche generalisierende Behauptung in Bezug auf „die JüdInnen“ und ihre Verantwortung für diese Politik zurückzuweisen. Schließlich kommt es ja auch auf die israelische Linke, die sozialen Bewegungen und letztlich die israelische ArbeiterInnenklasse an, den Irrweg des Zionismus zu überwinden und gemeinsam mit den PalästinenserInnen eine Gesellschaft des gleichberechtigten Miteinanders von AraberInnen und JüdInnen in Palästina, das Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und einen gemeinsamen multi-ethnischen Staat zu erkämpfen.

Historisches

Das bedeutet keineswegs zu negieren, dass sich auch unter AraberInnen ein Antisemitismus entwickelt hat, der mit dem Erstarken des militanten Islamismus stärker geworden ist. Während der religiös bestimmte Anti-Judaismus in der langen Geschichte der muslimischen Welt im Vergleich zu der des Christentums relativ gering ausgeprägt war, gruben die Islamisten alle erdenklichen Schmähungen Mohammeds aus dem Koran über die JüdInnen aus und vervollständigten sie richtiggehend zum System. Mohammed selbst hatte eine pragmatische Beziehung zum Judentum. Immerhin ist der Gründungsmythos von den Söhnen Abrahams, von denen Isaak der Stammvater der JüdInnen und Ismael derjenige der AraberInnen sei, auf eine Koexistenz der beiden Religionen ausgelegt.

Auch übernahm Mohammed viele der Lehren und Gebräuche der jüdischen Stämme von Medina (ein bedeutender Teil der jüdischen Diaspora). So ist denn auch der Begriff „Scharia“ eine unmittelbare Übersetzung der jüdischen „Halacha“, aus der auch viele der Gebote und rechtlichen Regeln übernommen wurden. Andererseits war Mohammed, wie viele Staatengründer dieser Epoche, unerbittlich, als die jüdischen Stämme ihm die Gefolgschaft verweigerten. Aus ihrer Vernichtung nach der Schlacht von Chaibar stammen auch die übelsten Verse über JüdInnen im Koran, die sie mit Schimpfwörtern wie „Schweine“, „Verräter“, „Verfälscher“ etc. bezeichnen. Gerade diese Verse werden von modernen IslamistInnen zur Lehre Mohammeds über „die Juden“ gemacht und zur Begründung tatsächlich eliminatorischer Phantasien verwendet. Sprüche wie „Chaibar, Chaibar, ihr Juden, Mohammeds Armee wird zurückkehren“ sind daher ein deutliches Zeichen, wer in einer Demonstration den Ton angibt.

Islamismus

Entgegen auch vielen pragmatischen und mehr oder weniger liberalen Rechtsschulen im Islam haben sich über die Jahrhunderte immer wieder fundamentalistische und gegenüber Nicht-MuslimInnen unterdrückerische Strömungen entwickelt, wie z. B. die WahabitInnen seit dem 18. Jahrhundert, bei denen sich nicht nur reaktionäre Scharia-Vorstellungen, sondern auch die These vom permanenten Dschihad gegen Ungläubige findet (die WahabitInnen dominieren heute nicht nur das Saudi-Regime). Die Geschichte des modernen Islamismus wird jedoch im Allgemeinen mit der Gründung der Muslimbrüderschaft in Ägypten in den 1920er Jahren festgemacht. Sie entstand einerseits aus einem anti-kolonialen Impuls, aber gleichermaßen in Ablehnung der liberalen und sozialistischen Bewegungen, die sich teilweise ebenso in der anti-kolonialen Opposition befanden. Insofern ist der moderne Islamismus eine anti-westliche Utopie von einer natürlich unmöglichen Rückkehr zu den „seligen Zeiten islamischer Größe“, zur Einheit des Islam im legendären Kalifat.

Tatsächlich sahen die Führer der Muslimbrüderschaft die Nazis und italienischen Faschisten als ihre Verbündeten im Kampf gegen die britischen Kolonialherren und übernahmen auch ungefiltert wesentliche Teile von deren antisemitischen Hetzschriften. Unsäglicherweise ist seitdem „Mein Kampf“, aber besonders das Fake der „Protokolle der Weisen von Zion“ auf Arabisch übersetzt. Die Charta der Hamas (die aus dem Ableger der Muslimbrüder in Palästina entstand) zitiert immer wieder aus den „Protokollen der Weisen von Zion“, um zu begründen, warum „die Juden“ die Wurzel allen Übels seien und aus Palästina vertrieben werden müssen. Bekanntlich suchte der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, Unterstützung bei den Nazis und fand nach seiner Flucht aus Palästina in Nazi-Deutschland Unterschlupf, von wo er den arabischen Aufstand mit antisemitischer Hetze zu befeuern versuchte. All das hat sicher dazu beigetragen, dass der moderne Islamismus einen primitiven Weltverschwörungs-Antisemitismus als eines seiner Kernelemente enthält. Teile dieses Islamismus wie z. B. der sog. „Islamische Staat“, die sich gewalttätig organisieren und auch alle anderen Strömungen im antiimperialistischen Kampf bis aufs Messer bekämpfen, müssen inzwischen sicherlich als ein neuer Typus eines (islamistischen) Faschismus bezeichnet und bekämpft werden.

Dies kann jedoch nicht von allen IslamistInnen gesagt werden wie der Hamas oder den ägyptischen Muslimbrüdern – also von Gruppen, von denen sich die radikalen IslamistInnen zumeist abgespalten haben. Der Islamismus konnte in den letzten Jahrzehnten ja nur durch das Versagen und die Niederlagen von säkularen Bewegungen wie dem pan-arabischen Nationalismus groß werden. Von daher wurden viele „zivile“ Elemente von diesen Bewegungen übernommen und zum Teil pragmatische Übereinkommen mit ihnen getroffen. Insofern haben sich diese Teile des Islamismus in eine mehr bürgerlich-nationalistische Richtung entwickelt – ohne ihre Gefährlichkeit für demokratische und linke Kräfte zu verlieren.

Internationalismus und Anti-Zionismus

Vollkommen falsch wäre es jedoch, arabischen und palästinensischen Menschen im Allgemeinen den Antisemitismus der IslamistInnen als Allgemeingut zu unterstellen. Die Muslimbrüder waren lange in den arabischen Ländern eine verschwindende Minderheit. Erst mit der Erfolglosigkeit der anderen „westlichen“ Konzepte kam die Stunde der IslamistInnen. Der Aufstieg der Hamas begann erst in den 1990er Jahren, zunächst sogar von der israelischen Regierung als Gegengewicht zur PLO gefördert.

Der teilweise Erfolg solcher Gruppen bedeutet nicht automatisch, dass ihr Programm und ihre Ideologie tatsächlich tiefe Verbreitung haben. Auch die Strategie der Hamas und ihrer korrupten Führung hat zu weitgehender Desillusionierung ihr gegenüber geführt. Zu behaupten, weil die Hamas (noch) eine Führungsposition in Gaza einnimmt, seien alle EinwohnerInnen Gazas eliminatorische AntisemitInnen und deswegen ihre Zerbombung durch die IDF gerechtfertigt, ist nicht nur zynisch, sondern auch direkt rassistisch und pro-imperialistisch. Selbst wenn die Hamas eine widerliche antisemitische Ideologie vertritt, ist jeder Vergleich mit Nazi-Deutschland Unsinn: Es steht hier ein Hungerreservat mit ein paar lächerlichen Kassam-Raketen einer der schlagkräftigsten und hochgerüstetsten Armeen der Welt gegenüber. Israel braucht die üblich gewordenen Solidaritätsdemonstrationen mit Merkelreden bei den Gazakriegen nicht – trotz „terroristischer Bedrohung“ und ungeziemer Solidaritätsdemos schafft es die israelische Armee ganz alleine, Gaza in Grund und Boden zu bombardieren. Es ist die palästinensische Bevölkerung, der die vollständige Vertreibung droht.

Auch der Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, wie notwendig eine alternative, sozialistische Führung jenseits des Islamismus und der vom Westen abhängigen korrupten Herrschaftsapparate in der arabischen Welt ist. Mit der Niederlage der Revolutionen sind viele damals aktiv Gewordene und oftmals zur Flucht Gezwungene jetzt auf der Suche nach neuer Orientierung. Für viele gehört der Protest gegen die neuen/alten Diktaturen, die sich radikalisierenden IslamistInnen genauso zur Grundorientierung wie der Protest gegen die für die Region immer unheilvoller werdende Politik des rassistischen israelischen Staates. Der Kampf gegen antisemitische und faschistische Strömungen im Islamismus muss von den MigrantInnen selbst geführt und von uns unterstützt werden. Die Instrumentalisierung des pauschalen Antisemitismusvorwurfes gegen alle muslimischen MigrantInnen und sein Verwenden als Repressionsmittel ist dabei nicht nur nicht hilfreich. Er ist im Kern selbst rassistisch, dient zur Diffamierung und Stigmatisierung von MigrantInnen und MuslimInnen, die gegen die Unterdrückung ihre Stimme erheben, und zur Rechtfertigung der Politik des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte. Und natürlich wird er vor allem gegen politisch aktive linke MigrantInnen verwendet werden – gerade um jede fortschrittliche Perspektive mundtot zu machen.

Reaktionärer Zweck

Schließlich sind Solidarität mit Israel, die Unterstützung seines „bedingungslosen Kampfes gegen den Terror“ und die Zurückweisung des „Anti-Amerikanismus“, der natürlich auch gleich mal gerne in Verbindung zum Antisemitismus gesetzt wird, Kernelemente der deutschen Staatsräson. Wer die bestehende Ordnung im Nahen Osten mitsamt dem aggressiven zionistischen Militarismus in Frage stellt, attackiert ein Kernelement der globalen Ordnung. Insofern sind die pauschalisierten Vorwürfe des Antisemitismus gegen Linke und MigrantInnen Teil des neo-konservativen globalen „Kriegs gegen den Terror“ der USA, an dem sich auch die Bundesrepublik beteiligt.

Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus ist historisch falsch, politisch jedoch zweckmäßig – für die herrschenden Mächte der Welt. Die Gleichsetzung verharmlost nicht nur den realen, bedrohlichen Antisemitismus. Sie hat auch gar nicht zum Ziel, ihn zu bekämpfen. Unter den engsten FreundInnen Israels und seiner Unterdrückungspolitik finden sich nicht zufällig zahlreiche echte AntisemitInnen, sei es in der Trump-Administration, aber auch bei rechten PolitikerInnen in der Bundesrepublik und der EU. Das ist kein Zufall. Schließlich dient die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus vor allem dazu, die Kritik an einer repressiven, nationalistischen Ideologie und einem rassistischen Unterdrückerstaat mundtot zu machen und den Widerstand der Unterdrückten gegen die UnterdrückerInnen zu bekämpfen.

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