Jannis Hutt, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons
Martin Suchanek, Neue Internationale 292, Juni 2025
„Wir sind die Hoffnung“ – mit diesem Satz beginnt der Leitantrag Der Linken, der mehr sein will als bloße Selbstvergewisserung und auf dem Bundesparteitag am 10. Mai verabschiedet wurde. Ein Satz, der noch vor einem Jahr kaum jemandem über die Lippen gekommen wäre – doch der Erfolg bei den Bundestagswahlen, die Umfragewerte von konstant 10 % und der massive Mitgliederzuwachs auf über 110.000 bilden die Grundlage des neuen Optimismus. Die Linke will die Hoffnung im Kampf für „eine Zukunft jenseits von Trump, Merz und Musk“ nicht nur „propagieren“, sondern auch „organisieren“.
In diesem Sinne ist der Leitantrag auch Ausdruck einer strategischen Selbstvergewisserung – und der Versuch, den Bruch mit Jahren innerer Lähmung zu markieren. Die Vision einer „sozialistischen Mitgliederpartei“ oder „organisierenden Klassenpartei“ mag nicht neu sein, doch sie wird mit einer Entschiedenheit vorgetragen, die lange gefehlt hat, da diese Orientierungen früher innerhalb Der Linken selbst umstritten waren. Doch was bedeutet der Leitantrag heute konkret – jenseits von Appellen und Symbolik? Und was folgt daraus für eine revolutionäre Praxis, die nicht in der Regierung aufgeht, aber auch nicht bei der reinen Opposition stehen bleibt? Was heißt es, Hoffnung zu organisieren – nicht nur zu verkünden? Welche Widersprüche bleiben bestehen – und welche Aufgaben ergeben sich daraus für revolutionäre Linke, innerhalb und außerhalb der Partei?
Die beschlossene Ausrichtung war in den letzten Jahren in der Linkspartei umstritten. Sahra Wagenknecht und ihre Gefolgsleute kämpften bis zum Bruch für eine zunehmend rechtspopulistische Ausrichtung – und nach der Abspaltung des BSW bewegte sich dieses stramm weiter zu Regierungsbündnissen mit SPD, Grünen oder CDU. Zweifellos stellte dieser Bruch eine Abspaltung des rechten Flügels dar. Doch von einer „Klassenpartei“ wollten natürlich auch die Regierungssozialist:innen, also der rechtssozialdemokratische Flügel der Partei, nichts wissen. Wie die Zustimmung zu den Milliardenausgaben für die Bundeswehr im Bundesrat zeigte, treibt dieser noch immer sein Unwesen und hat auch nicht vor, seine Posten zu räumen. Während die meisten davon politisch mehr oder weniger auf Tauchstation gehen, verbergen prominente Vertreter dieses Flügels wie Gysi oder Ramelow bei keiner Talkshow, dass sie im Grunde aus dem Niedergang der letzten Jahre nichts gelernt haben. Sie hoffen früher oder später auf weitere Koalitionen mit SPD und Grünen auf Landesebene, halten eine „moderate“ Aufrüstung in Deutschland für durchaus angemessen und träumen weiter von einer „echten“ Reformkoalition im Bund.
Innerparteilich halten sie sich jedoch zurück. Der politische Erfolg bei der Bundestagswahl stärkt bisher den linksreformistischen Flügel der Partei, für den die Vorsitzende Schwerdtner oder auch die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Heidi Reichinnek, stehen. Sören Pellmann steht diesem Flügel auch nahe, während Jan van Aken der rechteste unter den vier Spitzen der Partei sein dürfte. Diese Veränderung der inneren Dynamik der Partei drückte sich auch auf dem Parteitag aus. Der beschlossene Leitantrag trägt eine linksreformistische Handschrift. Zahlreiche Abgeordnete und eine Mehrheit des Parteivorstandes können zudem der Bewegungslinken zugeordnet werden, die sich als „organisierender“, bewegungspolitischer Pol der Partei versteht.
Im Folgenden wollen wir uns daher damit beschäftigen, ob und bis zu welchem Grad die Beschlüsse eine Veränderung darstellen, wo deren Grenzen liegen und welche Strategie und Taktik Revolutionär:innen gegenüber der Linkspartei und in ihr verfolgen sollten.
Im Abschnitt „Wo wir stehen“ konstatiert Die Linke zu Recht einen massiven Rechtsruck. „Die Bundestagswahl hat die politische Rechte gestärkt – Wahlergebnisse der AfD über 20 Prozent sind längst kein allein ostdeutsches Phänomen mehr. … Statt einer solidarischen Gegenagenda haben auch SPD und Grüne zu oft rechte Positionen übernommen.“
Und weiter wird, ebenfalls richtig festgehalten: „Gleichzeitig erleben wir eine starke Polarisierung“, wobei die Aufgabe der Linkspartei darin bestünde, dieser Ausdruck zu verleihen, sie zu organisieren, gesellschaftlich wirksam und durchsetzungsfähig zu machen. So weit, so gut.
Der Leitantrag konstatiert in diesem Abschnitt außerdem eine Reihe von bedeutenden Veränderungen und Phänomenen: einer immer ungleicheren Verteilung unter den Klassen, einer verschärften internationalen Konkurrenz, der weiter zunehmenden Konzentration der ökonomischen und politischen Macht in den Händen von Monopolen, Oligarchien und autoritären Staaten. Dies würde den Rechtsruck weiter befördern. Doch worin besteht eigentlich die Ursache dieser Entwicklung?
Davon erfahren wir im Leitantrag wenig bis nichts. Die verschärfte Konkurrenz wird benannt, ihre Ursachen, die strukturelle Überakkumulation des Kapitals im Weltmaßstab und fallende Profitraten in allen ökonomischen Zentren, tauchen nicht auf. Damit bleibt auch der entscheidende Grund für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den alten „westlichen“ und den neuen Großmächten, zwischen den USA und China, den EU-Mächten wie Deutschland, Russland und Japan außen vor, sowie der entscheidende Grund für die Verschärfung der Ausbeutung der Halbkolonien, des Ringens um Märkte und Einflussgebiete, die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika verschärfen oder heraufbeschwören. Dies ist mehr als problematisch und keine auf „analytischen Differenzen“ beruhende Frage. Wer die Zunahme der innerimperialistischen Konkurrenz sowie die zunehmende Krisenhaftigkeit nicht benennen oder verstehen will, kann auch deren Zusammenhang mit den verschärften Angriffen auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, der rassistischen Spaltung und Überausbeutung migrantischer Arbeitskraft sowie der Verschärfung der geschlechtlichen Unterdrückung nicht begreifen. Und natürlich bleibt auch die ökologische Dimension der drohenden Katastrophe und Zuspitzung unverstanden.
Der entscheidende Punkt ist, dass diese systemische Krise innerkapitalistisch nur durch die massive Vernichtung von „überschüssigem“ Kapital und durch eine Neuordnung der Welt unter der Hegemonie einer imperialistischen Macht oder Mächtegruppe „gelöst“ werden kann – eine „Lösung“, die ungeheure Opfer an Mensch und Natur und eine ständig steigende Kriegsgefahr notwendig beinhaltet.
Die herrschende Klasse ist unfähig, diese Probleme zu lösen, weil dies ein Zurückstellen ihrer eigenen Klasseninteressen erfordern würde. Die verschiedenen nationalen Bourgeoisien müssten ein imaginäres „globales“ gemeinsames Interesse über ihre eigenen stellen. Ein solcher Verzicht würde für das Einzelkapital den Untergang in der Konkurrenz bedeuten – und stellt somit eine Unmöglichkeit für die vielen konkurrierenden Unternehmen dar. Ganz genauso stellt der freiwillige Verzicht nationaler Gesamtkapitale und imperialistischer Staaten auf ihre Eigeninteressen eine Unmöglichkeit vom Standpunkt ihre herrschenden Klassen dar.
Daher kann es für eine kapitalistische Systemkrise nur zwei grundsätzliche Lösungen geben. Einerseits die Vernichtung unterlegener wirtschaftlicher Konkurrenz und die Neuordnung der globalen ökonomischen und politischen Ordnung. Diese wird letztlich nicht nur mit wirtschaftlichen, sondern auch mit politischen und militärischen Mitteln ausgefochten werden. In der Vorbereitung auf Letztere besteht letztlich auch der Sinn und Zweck der aktuellen Aufrüstungsprogramme und der zunehmenden Militarisierung.
Andererseits die Machtergreifung der ausgebeuteten Klasse, der Arbeiter:innenklasse, die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innenregierung, die das Kapital enteignet und den Kapitalismus durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt. Ein solches Regime könnte sich, wie die Erfahrung des stalinistischen „Sozialismus in einem Land“ zeigt, nur dann dauerhaft bewähren, wenn es einen Teil einer globalen Umwälzung, der sozialistischen Weltrevolution, bildet.
Eine solche revolutionäre Machtergreifung kann sich dabei nicht auf den Herrschaftsapparat des Kapitals stützen – sie muss vielmehr den bürgerlichen Staat zerschlagen und durch einen qualitativ anderen, vorübergehenden Staatsapparat ersetzen. Die Herrschaft der Arbeiter:innenklasse muss sich dabei auf Räte und bewaffnete Milizen stützen. Ansonsten ist der Übergang zum Sozialismus unmöglich.
Nicht so bei der Linkspartei. Der Leitantrag schließt hier nahtlos an sämtliche Grundsatzprogramme, Wahlaussagen und die politische Praxis der Partei an. In der historischen Krise des Kapitalismus besteht die Hauptaufgabe nicht in der Vorbereitung seines Sturzes, sondern dessen „Demokratisierung“:
„Politische Kernaufgaben der Partei und der gesellschaftlichen Linken sind die Verteidigung und der Ausbau der Demokratie, die Weiterentwicklung des Sozialstaates, der sozialökologische Umbau der Gesellschaft und eine Wirtschaftspolitik, die den Menschen dient und Solidarität in der Gesellschaft fördert. Wir brauchen auch Initiativen für mehr demokratische Kontrolle. Deshalb ist die Besteuerung großer Vermögen wichtig. Denn: Viel Geld bedeutet viel Einfluss. Sowohl im Sinne von Investitionsentscheidungen als auch durch Lobbyismus bei Entscheidungsträgern. Wenn Märkte und Politik von wenigen Milliardärsfamilien und Großkonzernen dominiert werden, entsteht eine Ungleichheit, die der Demokratie schadet.“
Diese und ähnliche Passagen könnten aus fast jedem x-beliebigen sozialdemokratischen Parteiprogramm des 20. Jahrhunderts abgeschrieben sein. Im Grunde geht Die Linke davon aus, dass der Kapitalismus durch die richtige Politik auch auf Grundlage der bestehenden Wirtschaftsordnung schrittweise immer gerechter gestaltet werden kann. Man müsse dazu nur den bürgerlichen Staat in Beschlag nehmen und die bürgerliche Demokratie stetig verteidigen und ausbauen. Und eines schönen Tages könnten wir dann sogar im Sozialismus aufwachen, denn das Grundgesetz, so hören wir, wäre ja auf keine Eigentumsordnung festgelegt, ganz so, als ob die herrschende Klasse ihre Eigentumsverhältnisse auch noch per Gesetz namentlich erwähnen wüsste, wo doch das Eigentumsrecht das höchste bürgerliche Recht darstellt. Für Die Linke existieren zwar Klassen und das wird auch zu Recht betont – aber „die Demokratie“ scheint über diesen zu schweben, ganz so, als hätte die bürgerlich-demokratische Ordnung keinen Klassencharakter, als wäre sie nicht untrennbar mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden.
Die Linke offenbart hier ihren reformistischen Charakter schlagartig und deutlich. Wie Lenin schon in „Staat und Revolution“ bemerkte, unterscheidet Reformismus und Kommunismus grundsätzlich nicht die Anerkennung des Klassenkampfes, sondern vielmehr die Frage, worauf dieser zugespitzt und wie er gelöst werden muss. An der Frage der Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse, oder in Marx’ Worten der Diktatur des Proletariats, unterscheiden sie sich grundsätzlich. Und das führt auch dazu, dass der Reformismus an der utopischen Vorstellung, den bürgerlichen Staat als Mittel zur sozialen Transformation zu nutzen, an der Vorstellung eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus trotz aller gegenteiligen realen Entwicklung eisern festhalten muss.
Auch wenn sich die Linkspartei heute als Oppositionspartei aufstellt und Mobilisierung verspricht und den Begriff der „sozialistischen Klassenpartei“ in Beschlag nehmen will, so führt ihre Strategie früher oder später notwendig zur Bildung einer bürgerlichen Reformkoalition. Doch davon spricht der Parteitag nicht.
Anders die Luxemburg-Stiftung. In dem Beitrag „Die Linke – ein Wintermärchen“ argumentiert Mario Candeias für eine Doppelstrategie zur Verhinderung einer Merz-Weidel-Regierung, einer zunehmenden „gesellschaftlichen Faschisierung“: „Angelehnt an Frankreich, die Bildung einer gesellschaftlichen Volksfront aller progressiven Kräfte (vgl. Balibar 2024; ein Parteienprojekt à la Rot-Rot-Grün ist mit der real-existierenden SPD und den Grünen undenkbar, sehr wohl aber mit enttäuschten Linken aus diesen Parteien), von Gewerkschaften über Sozialverbände, Umwelt- und Klimabewegung, Antifa und Antira bis zur kritischen Wissenschaft, die den sichtbaren Widerstand organisiert und ein überzeugendes Projekt mit gemeinsamen Minimalprogramm formuliert: rund um die Wiederherstellung einer resilienten sozialen Infrastruktur, den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und die Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.“
Da auch Candeias weiß, dass sich eine solche Regierung nur allzu leicht gegen ihre eigene Basis richtet, will er diese durch einen verbündeten und zugleich antagonistischen Bewegungspol unter Druck gesetzt wissen: „Es braucht einen offensiven und antagonistischen Pol der Hoffnung, eine Art ‚Transformationslinke’ (Candeias 2016), die einen Rückfall der Volksfront in Politiken eines progressiven Neoliberalismus und ökologischer Modernisierung verhindert, die zur düsteren Situation beigetragen haben.“
Candeias tischt hier einmal mehr das Konzept des „rebellischen Regierens“ auf – ganz so, als ob der bürgerliche Staat, würde die Regierung nur genügend unter Druck gesetzt werden, wirklich zum Ausgangspunkt einer Transformation gemacht werden könnte. Alle Erfahrungen mit bürgerlichen Arbeiter:innenregierungen (also jeder Regierung, die nur aus reformistischen Parteien bestand) und erst recht mit Volksfrontregierungen, also einer Koalition aus reformistischen und offen bürgerlich-kapitalistischen Parteien in Situationen zugespitzten Klassenkampfs, zeigen, dass diese nicht die Agenda der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten durchsetzen, sondern letztlich jene der herrschenden Klasse und deren System verteidigen – auch gegen „rebellische“ oder sogar revolutionäre Anstürme ihrer Basis.
Da für die Führung und Strateg:innen der Linkspartei die revolutionär-kommunistische Politik als Übel und Unding erscheint, das allenfalls am Beginn des 20. Jahrhunderts gerechtfertigt gewesen wäre, hält man umso unverdrossener an der reformistischen Utopie fest.
Dies wird besonders deutlich, wenn wir die Fragen der EU, von Krieg und Frieden und generell der internationalen Politik betrachten. So wie in Deutschland die bürgerliche Demokratie das A und O der Politik der Linkspartei darstellt, so auf europäischer Ebene die EU. Zu Recht wendet sich der Leitantrag gegen den zunehmenden Nationalismus, gegen den Rechtsruck, gegen weitere Konzentration der wirtschaftlichen Macht bei den Konzernen, gegen Putin und Trump, um dann zu einer eher verblüffenden Schlussfolgerung zu gelangen:
„Viele Großkonzerne und bürgerliche Parteien machen deutlich, dass sie bereit sind, sich einer rechtsradikalisierten Politik und gesellschaftlichen Ordnung anzupassen und mit ihr zum eigenen Vorteil zu arbeiten. Dagegen braucht es auf allen Ebenen konsequenten Antifaschismus und klare Kante. Wir kämpfen daher für eine soziale, klimagerechte und demokratisch souveräne EU.“
Warum gerade die EU als imperialistischer Block zur Vorreiterin von Klimagerechtigkeit, Sozialem und Demokratie werden soll, bleibt das Geheimnis der Linkspartei. Es passt aber dazu, dass im gesamten Antrag Deutschland und die EU als imperialistische Staaten oder Blöcke nicht vorkommen. Aggressive Weltmächte finden sich ausschließlich außerhalb der EU – Putins Russland und Trumps USA.
Obige Passage stellt keinen zufälligen Ausrutscher dar, sondern der Abschnitt „Gemeinsame Haltung für den Frieden“ zeigt, wohin die Reise zu gehen droht, wenn kein klarer antimilitärischer und antiimperialistischer Gegenwind kommt:
„Auch setzen wir uns weiterhin für diplomatische Initiativen zur Eindämmung und Beendigung von Kriegen ein. Wir stellen uns aber auch den Fragen, was Verteidigungsfähigkeit (im Sinne struktureller Nichtangriffsfähigkeit) statt Kriegstüchtigkeit konkret bedeutet und wie wir glaubwürdige Antworten darauf finden, dass das Völkerrecht von den stärksten Mächten offen negiert wird.“
Hier wird mehr als eine Hintertür aufgemacht zur Frage der Aufrüstung und Militarisierung Deutschlands (oder der EU). Warum? Weil eine prinzipielle Ablehnung jeder deutschen Aufrüstung, ja der gesamten Bundeswehr, jedes Cents für den „Verteidigungsetat“ nur dann wirklich argumentierbar ist, wenn sie aus einer grundlegenden Ablehnung des „eigenen“ Imperialismus folgt, wenn antimilitarische und antiimperialistische Politik davon ausgeht, dass der Hauptfeind der Arbeiter:innenklasse im eigenen Land steht. Daher müssen wir die Ablehnung aller seiner militärischen Ziele und Ausgaben ablehnen, statt darüber zu spekulieren, was dessen „Verteidigungsfähigkeit“ bedeuten solle. Dies kann nur zum Sozialpatriotismus und zu geradezu kindischer Illusionsmacherei führen, wenn es heißt: „Wir wollen aus der EU eine Friedensunion machen, die in Zeiten von globalen Krisen für Völkerrecht, Entspannung und Menschenrechte eintritt.“
Statt dem Nationalismus und der imperialistischen EU den Kampf für ein sozialistisches Europa entgegenzusetzen, verbreitet die Linkspartei Phrasen, an die selbst die wenigsten ihrer Mitglieder glauben.
Sie stellt sich damit jedoch dem Kurs der CDU/CSU/SPD-Regierung nicht entgegen, sondern bildet so letztlich eine linke Flankendeckung der Parole, Europa „unabhängig“ zu machen.
Zugleich zeigte der Parteitag aber auch, dass es in der Linkspartei durchaus eine Suche nach einer grundlegenden Ablehnung von Aufrüstung und Militarisierung gibt, wie die Resolution „Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!“ zeigt, die mehrheitlich beschlossen wurde. Auch wenn dieser Text auf dem Boden des Pazifismus bleibt, so enthält er nicht nur eine klare Parole, sondern auch eine offene Kritik daran, dass die Mitglieder der Landesregierungen Bremen und Mecklenburg-Vorpommern der Partei geschadet haben, als sie die Zustimmung der Länder zu den Grundgesetzänderungen ermöglichten. Außerdem verpflichtet sich die Linkspartei – anders als früher üblich – in diesem Antrag zu einer Reihe von Konferenzen, Aktionen, Veranstaltungen und Medienkampagnen, um eine Mobilisierung gegen die Aufrüstung voranzubringen.
Ansonsten beschränkt sich die internationale Politik der Partei vor allem auf Pazifismus. So heißt es im Leitantrag: „Die Linke ist und bleibt eine Friedenspartei, insbesondere in Zeiten zunehmender Militarisierung. Mehr globale Gerechtigkeit ist Voraussetzung für Frieden und Stabilität. Als Partei treten wir bedingungslos für die Menschenrechte, das Völkerrecht und den Schutz derjenigen ein, die unter den Kriegen dieser Welt leiden. Wir setzen uns für die Anerkennung von und den Respekt für internationale Organisationen wie den Internationalen Strafgerichtshof ein. Auch setzen wir uns weiterhin für diplomatische Initiativen zur Eindämmung und Beendigung von Kriegen ein.“
Die Verteidigung von demokratischen Rechten, von Geflüchteten, Opfern von Kriegen und Hunger gehört zu jedem linken Programm. Und natürlich verteidigen wir auch internationale Organisationen, wenn und wo deren Tätigkeit von den Imperialist:innen oder von rechts angegriffen wird. Aber die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt auch, dass die „internationalen Institutionen“ letztlich nichts anderes sind als ein Resultat des Kräfteverhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten.
Weder Russland noch Israel lassen sich bei völkerrechtswidrigen Kriegen vom Völkerrecht beeindrucken. Weder die beiden noch die USA und China erkennen den Internationalen Strafgerichtshof an. So wie die Zähmung des Kapitalismus in der Krise auf nationalem Boden eine Utopie darstellt, so erst recht auf internationaler Ebene mittels scheinbar über den Staaten und herrschenden Klassen stehender Institutionen.
Doch die ganzen Appelle an Diplomatie und „Frieden“ haben auch eine weitere, dramatische Kehrseite. Sie richten sich nicht nur gegen unterdrückende Staaten und Mächte, sondern vor allem auch gegen das Recht auf Widerstand der Unterdrückten. Dies zeigt sich besonders, wenn es um den Genozid in Gaza geht. Dieser kommt im Leitantrag nicht vor. Noch Anfang Mai bekräftigte die Parteispitze ihr Bekenntnis zum Existenzrecht Israels. Allerdings zeigte sich am Parteitag auch eine Opposition zu dem anpasslerischen Kurs der Führung, als entgegen den Interventionen von Jan van Aken und anderen Führungsleuten ein Antrag angenommen wurde, der sich gegen die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und deren faktische Anwendung durch Behörden, Bundestag und Kommunen als verbindliche Definition wendet. Außerdem lehnt der Beschluss auch die Bundestagsresolutionen „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ und „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen“ ab, die kein jüdisches Leben schützen, sondern vielmehr die Solidarität mit Palästina diffamieren und kriminalisieren sollen.
Die über den Leitantrag hinaus beschlossenen Resolution und kontroverse Debatten um Aufrüstung und Palästina verdeutlichen jedoch auch, dass nicht alles beim Alten geblieben ist. Natürlich ist Die Linke weiter eine reformistische Partei – ideologisch, strukturell und organisatorisch – und wir haben sehr deutlich gemacht, dass dies grundsätzlich zu kritisieren ist.
Aber die zehntausend neu eingetretenen Mitglieder können für eine andere Politik gewonnen werden, wenn es gelingt, ihnen in der Praxis und Theorie die Widersprüche und Grenzen des Reformismus deutlich zu machen. Dass dies möglich sein kann, zeigt auch der Antrag zur Antisemitismusdefinition, der gegen die Mehrheit des Parteivorstandes durchgesetzt wurde. Hinzu kommt auch, dass Die Linke eine Neuaufstellung der Partei verspricht. Um eine Wiederholung ihres Niedergangs zu verhindern, will sie zu einer aktiven Mitgliederpartei werden, die – ähnlich wie im Haustürwahlkampf 2025 – die alten und neuen Genoss:innen in Kampagnen und Aktivitäten bindet. Dazu werden mehrere Schwerpunkte neben der Aktivität in Ortsgruppen und Arbeitsgemeinschaften benannt.
1. So soll die betriebliche und gewerkschaftliche Praxis und Verankerung vorangetrieben werden, vor Ort und besonders dort, wo Die Linke schon stark ist, wie z. B. in den Krankenhäusern.
2. Will Die Linke eine bundesweite Kampagne für einen Mietendeckel starten, dazu Gesetzesanträge in den Bundestag bringen und eine Aktionskonferenz organisieren?
Diese und andere Beispiele zeigen, dass Die Linke – ähnlich wie viele historische Parteien der Arbeiter:innenbewegung – aktive und stabile Strukturen als Basis aufbauen will, die eine organische Verankerung unter den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen stärken und weiter verbreitern sollen. So wenig „sozialistisch“ das Programm der Linkspartei aktuell ist, so sehr sie sich selbst als „organisierende Klassenpartei“ sehen will, bildet das einen qualitativen Fortschritt entgegen dem alten Verständnis der Bewegungspartei. Diesem Begriff fehlte nicht nur die Frage des verändernden Subjektes, in der Praxis wurde er dazu benutzt, dass Die Linke gegenüber sozialen Protesten sich eher als Infrastruktur stellende Serviceleisterin betrachtete, politisch wenig Programmatik hineintrug sowie darauf wartete, dass Bewegung irgendwo magisch aus dem Boden aufploppte, anstatt selbst die Kraft zu sein, die diese initiiert.
Mit anderen Worten: Die Partei will nun ihre soziale Verankerung in der Klasse gegenüber ihrer bisherigen Geschichte verstärken. Das ist an sich positiv – und wirft für alle Revolutionär:innen, die nicht im Abseits stehen wollen, die Frage auf: Wie können wir motivierte Aktivist:innen für sozialistische Politik gewinnen?
Statt abseitszustehen und sich mit der Selbstvergewisserung zu begnügen, dass man schon immer wusste, dass Reformist:innen Klassenverräter:innen sind, gilt es, aktiv die Debatte zu suchen in Zeiten, in denen um Strategie diskutiert wird. Denn Reformismus an sich ist – verkürzt geschrieben – eine ideologische Form, in der die Lohnabhängigen unter kapitalistischen Bedingungen ihre Interessen zum Ausdruck bringen, aber innerhalb der Systemgrenzen. Er ist die politische Reflexion ökonomischer Kämpfe, die das System selbst nicht in Frage stellen, sondern letztlich reproduzieren. Das ist einer der Gründe, warum er trotz über 100 Jahren Klassenverrats weiter verwurzelt ist. Das ist auch einer der Gründe, warum er sich nicht „von alleine“ entlarven wird, sondern in verschiedenen Formen immer wieder auftaucht, und warum wir daher konkrete Taktiken gegenüber dem Reformismus entwickeln und in Neuformierungsprozesse, die Zehntausende bewegen, eingreifen müssen.
Andererseits ist revolutionäre Orientierung innerhalb der Linkspartei nur dann sinnvoll, wenn der Reformismus konsequent kritisiert und praktisch bekämpft wird. Wer diese Illusion nicht durchbricht, bleibt in ihren Grenzen gefangen. Ohne eine solche Kritik ist ein revolutionäres Eingreifen in die Linkspartei unmöglich und im Voraus zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus darf sich niemand der Illusion hingeben, dass sich die Partei auf dem Weg zu einer revolutionären Partei befände. Im Gegenteil, der Reformismus ist nicht nur als Ideologie und in seiner täglichen parlamentarischen, kommunalen und gewerkschaftlichen Praxis tief verankert, die Partei wird – allen Wünschen nach mehr Kontrolle über ihre parlamentarischen Vertreter:innen zum Trotz – nicht von den Mitgliedern, sondern von einem durchaus weit verzweigten Apparat beherrscht. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dieser als Schicht oder in seiner Mehrheit für kommunistische Politik gewonnen werden könnte.
Die 60.000 neu eingetretenen Mitglieder stehen selbst sicher auf unterschiedlichen Flügeln der Partei und haben insgesamt sicher die Hoffnung, dass Die Linke wirklich hilft, den Rechtsruck zu stoppen und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Dieser Prozess kann und wird nicht widerspruchslos erfolgen, sondern unvermeidlich bei vielen Fragen – Antifaschismus, Kriegsfrage, Aufrüstung, Palästina, Haltung zur Gewerkschaftsbürokratie usw. – auch Konflikte in der Partei hervorbringen, die es zuzuspitzen gilt. Inhaltliche Schwerpunkte sollten dabei die Bereiche sein:
Ziel hierbei muss sein, dass ein breites Antikrisenbündnis aufgebaut wird, das a) gegen die kommenden Angriffe der Regierung mobilisiert sowie b) für konkrete Verbesserungen der Klasse kämpft, wie beispielsweise einen höheren Mindestlohn oder eine Verkürzung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit. Dabei muss aufgezeigt werden, dass zum einen der Rechtsruck nicht allein aufgehalten werden kann, indem ökonomische Verbesserungen erkämpft werden, sondern auch aktiv antirassistische Lösungen und eine internationalistische Ausrichtung in solche Bewegungen integriert werden müssen – um die bereits entstandene Spaltung durch gemeinsame Kämpfe überwinden zu helfen. Zum anderen wirft das Ganze eine andere, unmittelbare Frage auf: Wenn wir gegen die Merz-Regierung sind, für was sind wir eigentlich – und wie kommen wir dahin?
Der Kurs der Linkspartei, dass „jedes Linksparteimitglied auch Gewerkschaftsmitglied“ sein sollte, ist mehr als begrüßenswert. Es reicht jedoch nicht, die eigene Mitgliedschaft in die Gewerkschaft zu schleusen oder die SPD in ihrer Stellung als dominante Kraft im Gewerkschaftsapparat abzulösen, aber letzten Endes die gleiche staatstragende Politik zu betreiben, die dafür sorgt, dass Millionen von Kolleg:innen Reallohnverluste erleiden, oder das Potenzial sozialer Bewegungen nicht auszuschöpfen, weil man Angst hat zu streiken. Stattdessen braucht es ein konsequentes Programm für die Demokratisierung der Gewerkschaften, dessen Grundzüge wir in unserem Aktionsprogramm dargelegt haben.
Es bedeutet, Die Linke als Kampffeld zu nutzen – nicht als Endziel und Bewusstsein zu schaffen für die Grenzen reformistischer Politik und die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs. Das bedeutet: Aufbau einer revolutionären Fraktion in der Partei, die offen Kritik am Parteiapparat übt, gleichzeitig aber die Basis für sozialistische Politik organisiert. Dabei ist das Ziel nicht, 10 Mitglieder für die eigene Kleinstorganisation zu gewinnen, sondern Kämpfe auf einer Ebene zu führen, bei der die Frage revolutionärer Strategie auf höherer Stufe diskutiert wird – mit dem Ziel, die Kämpfe tatsächlich voranzubringen. Das ist nur möglich, wenn man sich auf mehreren Ebenen zusammenschließt und eingreift:
a) Programmatisch: Entwicklung und gemeinsames Auftreten für ein sozialistisches Aktionsprogramm auf Basis von Übergangsforderungen.
b) Organisatorisch: Aufbau überregionaler Strukturen von Genoss:innen mit revolutionärer Perspektive – z. B. als Strömung oder Plattform.
c) Taktisch: Klare Positionierung in Konflikten (z. B. Palästina, NATO, Verstaatlichung) – inkl. von Anträgen, Änderungsinitiativen und Gegenentwürfen zu Parteitagsbeschlüssen.
d) Verankerung: Anbindung an reale Kämpfe wie antifaschistische Mobilisierungen, Streiks, Mieter:innenproteste, Beteiligung an den Projekten der Partei selber bzgl. der Mieter:innenfrage oder der Initiative im BuG-Bereich, der Aufbau von Streik- und Aktionskomitees an Schulen, Unis und in Betrieben.
Das Zeitfenster, solche Debatten zu führen, ist dabei nicht unendlich lang. Auch wenn aktuell viele der Mitglieder vom Erfolg und Zusammenhalt der „neuen“ Linkspartei beeindruckt sind und tiefer gehende Auseinandersetzungen als Zeitverschwendung abtun werden – spätestens bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen oder gesellschaftlichen Kämpfen wird die Frage aufgeworfen, was der Kern der Partei ist: kapitalistische Mitverwaltung oder sozialistischer Umsturz? Für Sozialist:innen ist es Aufgabe, dort zu kämpfen, wo das Leben ist – und aufzuzeigen, wie Letzterer tatsächlich umgesetzt werden kann.
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