Arbeiter:innenmacht

Massenbewegung gegen Erdoğan: Wie kann sie siegen?

Dilara Lorin, Neue Internationale 290, April 2025

Seit der Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister von Istanbul, am 19. März gehen in der Türkei Hunderttausende Menschen auf die Straße, um die letzten Funken der Demokratie im Land zu verteidigen. Trotz landesweiten Demonstrationsverbots versammeln sich täglich Tausende, wenn nicht Zehntausende, die sich auch von massiver Polizeigewalt, dem Einsatz von Wasserwerfern und willkürlichen Verhaftungen nicht einschüchtern lassen. Die Festnahme des Präsidentschaftskandidaten der CHP könnte der Funke gewesen sein, der eine Massenbewegung auslöst, die die Herrschaft Erdoğans und der AKP erschüttern, ja zum Einsturz bringen kann. Denn die Entwicklung bringt nicht nur eine tiefe politische Krise zum Ausdruck, sondern sie findet auch vor dem Hintergrund massiver wirtschaftlicher Turbulenzen statt.

Was ist passiert?

Ekrem İmamoğlu gilt als aussichtsreichster Rivale von Erdoğan für die Präsidentschaftswahlen 2028. Er wurde im Rahmen von zwei separaten Ermittlungen festgenommen. Ihm sowie 99 weiteren Verdächtigen werden unter anderem die „Führung einer kriminellen Organisation“, „Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation“, „Erpressung“, „Bestechung“, „qualifizierter Betrug“, „rechtswidrige Erlangung personenbezogener Daten“ und „Manipulation von Ausschreibungen“ vorgeworfen. Zudem wurde sein Bauunternehmen beschlagnahmt.

Am Dienstag vor seiner Verhaftung, am 18. März, wurde ihm zudem sein Universitätsdiplom aberkannt, offiziell aufgrund eines Formfehlers. Da ein Hochschulabschluss in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur ist, würde ihm dies die Teilnahme an den Wahlen unmöglich machen.

Darüber hinaus laufen gegen İmamoğlu, den stellvertretenden Generalsekretär der Istanbuler Stadtverwaltung, Mahir Polat, den Bürgermeister des Bezirks Şişli, Resul Emrah Şahan, sowie fünf weitere Verdächtige Ermittlungen wegen „Unterstützung der PKK/KCK“ (Arbeiter:innenpartei Kurdistans/Union Kurdischer Gemeinden). Diese stehen vermutlich im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen 2023, bei denen die CHP in einigen Regionen gemeinsam mit der DEM-Partei (seit Dezember 2023 Nachfolgerin der HEDEP; Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker) Kandidat:innen aufstellte.

Trotz dieser Entwicklungen fand am Sonntag die Abstimmung der CHP zur Präsidentschaftskandidatur statt, bei welcher sie kurzfristig die Urnen auch für Nichtmitglieder öffnete. 15 Millionen Menschen gaben ihre Stimmen ab. Die CHP selbst zählt rund 1,7 Millionen Mitglieder. Die Beteiligung zeigt nicht nur, dass die Partei über eine große Anhänger:innenschaft verfügt, sie verdeutlicht auch, dass Millionen diese offenen Wahlen auch als Mittel des Massenprotests gegen Erdoğan nutzten.

Keine unerwartete Entwicklung

Neben İmamoğlu wurden auch die Istanbuler Bezirksbürgermeister der CHP, Resul Emrah Şahan und Mehmet Murat Çalık, vom Innenministerium abgesetzt. Anstelle von Şahan, der den Stadtteil Şişli regierte, hat die Regierung in Ankara bereits einen AKP-Beamten als Zwangsverwalter eingesetzt. Für Çalık, den Bürgermeister von Beylikdüzü, wird in den kommenden Tagen ebenfalls ein staatlicher Vertreter bestimmt werden.

Die Ermittlungen gegen İmamoğlu werden von der Istanbuler Staatsanwaltschaft geführt. Deren Vorsitzender, Generalstaatsanwalt Akın Gürlek, ist für zahlreiche politisch motivierte Verfahren bekannt. Die Opposition bezeichnet ihn wegen seines repressiven Vorgehens gegen Andersdenkende als „mobile Guillotine“. Gürlek war unter anderem der Richter, der das international kritisierte Hafturteil gegen den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fällte (HDP: Demokratische Partei der Völker).

Dieses Vorgehen ist politisch motiviert, aber keineswegs ungewöhnlich – ein Blick auf die überfüllten Gefängnisse der Türkei genügt. Vor allem kurdische, prokurdische und linke Aktivist:innen sind in den letzten Jahren verstärkt ins Visier genommen worden. Die Absetzung von Oberbürgermeister İmamoğlu ist für viele Kurd:innen keine neue Erfahrung. In der Türkei stehen zahlreiche Rathäuser unter Zwangsverwaltung.

Seit den Kommunalwahlen im März des vergangenen Jahres wurden 17 Bürgermeister:innen abgesetzt Mehrere befinden sich bereits in Haft. In den übrigen Fällen haben vom Innenministerium ernannte Beamt:innen, sogenannte Treuhänder:innen, die Amtsgeschäfte übernommen. Besonders betroffen sind Gemeinden, die von der DEM-Partei gewonnen wurden: Zwölf der zwangsverwalteten Kommunen standen ursprünglich unter ihrer Führung, vier unter jener der CHP. Dies verdeutlicht, wer seit Jahren im Fokus der Kriminalisierung steht.

Von Gezi bis heute

Die Proteste halten weiter an und leisten erbitterten Widerstand gegen die Polizeikräfte – und das, obwohl unmittelbar nach der Festnahme İmamoğlus in den größeren Städten der Westtürkei, darunter Istanbul, Izmir und Ankara, Demonstrations- und Versammlungsverbote verhängt wurden.

Zahlreiche Videos zeigen, wie Demonstrierende gegen Polizeisperren ankämpfen, Straßenblockaden errichten, aber auch, mit welch brutaler Härte die Polizei gegen die Menschen vorgeht. Tränengas wird aus nächster Nähe direkt in die Gesichter der Protestierenden gesprüht, Wasserwerfer durchnässen sie in der eisigen Nacht, und bewaffnete Polizist:innen feuern mit Gummigeschossen, während sie mit Schlagstöcken brutal auf Demonstrierende einschlagen.

Seit Beginn der Proteste wurden mehr als 1.100 Menschen festgenommen – unter dem Vorwand „illegaler Aktivitäten“. Äußerungen des Innenministers auf X, wonach man nicht zulassen werde, dass „die Straßen terrorisiert werden“, verdeutlichen, dass die staatliche Repressionsmaschinerie gezielt eingesetzt wird.

Allein in der vergangenen Woche wurden über 40 Menschen festgenommen – nur wegen Postings auf „Social-Media“-Plattformen, die vielerorts von der Regierung gesperrt wurden. Dies zeigt nur einen Bruchteil der staatlichen Überwachung. Auch die Pressefreiheit wird massiv eingeschränkt: In der Nacht von Sonntag auf Montag wurden zehn Journalist:innen inhaftiert – ein weiterer schwerer Schlag gegen die Meinungs- und Pressefreiheit.

Dies alles hält die Massen jedoch nicht davon ab, sich den Weg auf die großen Plätze der Städte zu erkämpfen und sich weiterhin zu versammeln. Vor allem Student:innen aus den Universitäten bilden die vorderste Front der Bewegung.

Allen voran riefen Studierende der METU-Universität (ODTÜ; Technische Universität des Nahen Ostens in Ankara), die für ihre traditionell linke Student:innenschaft bekannt ist, zu einem Streik auf, den sie ab Montag, dem 24. März 2025 und darüber hinaus durchsetzen wollen. Schnell schlossen sich weitere Universitäten an. Zudem wurden auf den Campusgeländen – teils in Zusammenarbeit mit Professor:innen – unabhängige Vorlesungen organisiert. Der Streikaufruf richtete sich jedoch nicht nur an Studierende, sondern auch an Arbeiter:innen und insbesondere die Gewerkschaften, verbunden mit der Forderung nach einem Generalstreik. Dabei sind es vor allem die Studierenden, welche radikalere und systemkritischere Forderungen auf die Straße tragen. In vielen Städten ist in unterschiedlichen Reden und auf Plakaten und Transparenten zu sehen, dass klargemacht wird, dass der Kampf auf der Straße und nicht an der Wahlurne geführt werden muss.

Dass Student:innen die vordersten Reihen dieser Proteste bilden, ist wenig überraschend. Es ist die junge Generation, die unter hoher Arbeitslosigkeit, fehlenden Zukunftsperspektiven und einer zunehmend verfallenden akademischen Bildung leidet. Das verdeutlicht auch die offizielle Quote für Erwerbslosigkeit, die für 15–24-Jährige im letzten Jahr bei 16,5 % lag. Doch auch große Teile der Arbeiter:innenklasse gehen massenhaft auf die Straße, denn ihre wirtschaftliche Lage hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert. Das trifft auch die Mittelschicht, die zunehmend sozial abrutscht. Dabei sind 2 von 10 Menschen in der Türkei arm, alleine in einem Jahr stieg die Anzahl an verarmten Menschen um 190.000. Hinzu kommt, dass jeder zweite Mensch in der Türkei verschuldet ist. Zusammen mit einer steigenden Inflation, welche aktuell bei 42,7 % liegt, beschleunigt das die allgemeine Verarmung.

Ziemlich schnell wurden die Stimmen und Slogans lauter und sie fordern längst mehr als nur die Freilassung von Ekrem İmamoğlu. Heute sind es Rufe nach dem Rücktritt der Regierung, dem Amtsverzicht Erdoğans sowie nach mehr demokratischer Teilhabe und Mitbestimmung, die die Menschen auf die Straßen treiben und auf Plakaten sowie in Slogans widerhallen.

Viele Protestierende ziehen eine direkte Verbindung zu den Gezi-Park-Protesten 2013. Das Momentum ähnelt in vielerlei Hinsicht der damaligen Bewegung: Was einst mit dem Widerstand gegen die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park begann, entfachte schnell eine Bewegung für Demokratie und Mitbestimmung. Ähnlich wie damals werden auch heute soziale Forderungen laut, und das dahinterstehende politische System wird grundlegend infrage gestellt. Zwar begann die aktuelle Protestwelle mit der Inhaftierung İmamoğlus, doch inzwischen wird der Ruf nach dem Sturz Erdoğans immer lauter.

Gleichzeitig wächst insbesondere unter Jugendlichen der Unmut gegenüber der CHP-Führung. In den sozialen Medien kritisieren viele das Verhalten der Partei im Umgang mit den Demonstrierenden. Der Vorwurf: Die CHP lasse die Protestierenden am Ende doch alleine. Nach kämpferischen Reden würden Parteivertreter:innen die Kundgebungen verlassen, ohne tatsächlich Seite an Seite mit den Menschen auf den Straßen und Barrikaden gegen die Polizei zu stehen.

Bewegung aufbauen, aber keine Illusionen in die CHP

Die Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu hat eine demokratische Massenbewegung entfacht, die enormes Potenzial hat. Zugleich dürfen wir aber unsere Augen auch vor deren Schwächen nicht verschließen, wollen wir eine Perspektive weisen. Ein zentrales Problem zeigt sich an der Frage der Beteiligung von Kurd:innen. Lautstarke Stimmen innerhalb der Bewegung schließen Kurd:innen, die sich mit den Protesten solidarisieren, aus – manche beschimpfen sie sogar als Provokateur:innen und Spalter:innen. Diese Haltung ist weit verbreitet und spiegelt sich auch innerhalb der CHP wider, die auf eine lange Tradition des türkischen Chauvinismus zurückblickt.

Am 23. März sorgte insbesondere Mansur Yavaş (CHP), der Oberbürgermeister Ankaras, mit einer Rede an die Demonstrierenden für Empörung. Er bezeichnete die kurdischen Fahnen, die am Freitag während der Newroz-Feierlichkeiten geschwenkt wurden, als „Lappen“ und versuchte bewusst, einen Keil zwischen die türkische und kurdische Bevölkerung zu treiben (Newroz: kurdischer Name für Neujahrs- und Frühlingsfest). Dabei spielte er auf einen Einzelfall an, in dem ein Polizist auf einer Newroz-Feier Zuckerwatte verteilte, während sie gleichzeitig türkische Jugendliche auf den Protesten brutal niederknüppelten – ein Vergleich, der die zahlreichen Inhaftierungen während der Feierlichkeiten völlig ignoriert. Diese Äußerung löste insbesondere unter Kurd:innen großen Unmut aus. So kam es am Sonntag bei der Newroz-Feier in Istanbul, an der Hunderttausende teilnahmen, zu lautstarken Protesten, als eine Grußbotschaft von CHP-Chef Özgür Özel verlesen wurde – die Menge buhte die Redner:innen aus.

Dabei verbindet die Frage der Absetzung und Inhaftierung gewählter Bürgermeister:innen eigentlich beide Bewegungen – allen voran die kurdische, welche dies seit fast einem Jahrzehnt erlebt. Denn eines muss klar sein: Eine Bewegung, die für demokratische Rechte kämpft, aber Kurd:innen ausschließt, kann nicht gewinnen. Es ist daher unbedingt notwendig, in der Bewegung gegen jede Form des türkischen Chauvinismus anzukämpfen und mit diesem zu brechen. Das gilt vor allem für Arbeiter:innenorganisationen und alle Linken, die dabei eine zentrale Rolle spielen müssen. Sie müssen die Teilnahme kurdischer Aktivist:innen mit ihrer Sprache, ihren Fahnen und Symbolen ermöglichen und sie gegen etwaige Angriffe verteidigen. Die türkische Arbeiter:innenklasse sowie die Opposition müssen unter Beweis stellen, dass sie es ernst meinen – indem sie die Interessen der Kurd:innen mit auf der Straße verteidigen.

Der Druck, den Kurd:innen in den letzten Tagen ausübten, war so groß, dass sich CHP-Vorsitzender Özgür Özel letztlich gezwungen sah, sich in einer Pressekonferenz zu rechtfertigen. Auch wenn die Entschuldigung schwammig blieb, betonte Özel – was innerhalb der CHP eine Seltenheit ist – die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes. Dies wurde nicht nur in seinem Grußwort zum Newroz-Fest deutlich, sondern auch bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Abgeordneten der DEM-Partei am Montag, dem 24. März 2025, in Istanbul.

Im Kampf mit oder gar um die Staatsmacht dürfen wir jedoch nicht auf die bürgerliche CHP vertrauen, welche in ihrem Kern schon immer staatstreu, türkisch-nationalistisch und kapitalistisch gewesen ist. Auch wenn viele İmamoğlu unterstützen, um endlich Erdoğan loszuwerden, so würde er keineswegs ein Präsident für die Massen sein, sondern auch versuchen, die Türkei als Regionalmacht zu stärken und die Krise auf Kosten der Massen zu lösen. Und war es nicht die CHP, die 2016 mit ihren Stimmen die Aufhebung der Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter unterstützte und damit ihre Inhaftierung ermöglichte? War es nicht die CHP, die vor den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen eine Hetzkampagne gegen Geflüchtete führte? Und war es nicht die CHP, die der Arbeiter:innenbewegung immer wieder in den Rücken gefallen ist?

Revolutionär:innen sollten gegen die Zwangsverwaltung und Absetzung der Bürgermeister:innen auf die Straße gehen – aber keinerlei Illusionen in die CHP schüren. Denn sie verteidigt letztlich nur die Interessen eines anderen Teils der Bourgeoisie, nicht die der arbeitenden und unterdrückten Teile der Bevölkerung. Auch sollten wir keine Illusionen in die DEM-Partei haben, die selbst die vollkommen illusorische „Aussöhnungspolitik“ Öcalans mit dem „Demokraten“ Erdoğan unterstützt.

Generalstreik gegen die Angriffe auf demokratische Rechte

Die Inhaftierung İmamoğlus stellt einen massiven Angriff auf die demokratischen Rechte in der Türkei dar. Im Grunde handelt es sich um einen Willkürakt der Justiz zur präventiven Ausschaltung eines chancenreichen Oppositionskandidaten. Erdoğan, die AKP und die Regierungskoalition sind offenkundig nicht bereit, sich auf bürgerlich-parlamentarischem Wege abwählen zu lassen. Bisher galt diese Form der Repression vor allem den kurdischen und linken Parteien, jetzt signalisiert der Staatsapparat deutlich: Auch die bürgerliche, nationalistische Opposition wird ausgeschaltet, wenn sie zu einer elektoralen Herausforderung werden sollte.

Die türkische Demokratie, ohnedies eine große Farce, wird jetzt auch in den Augen von Millionen als das erkenntlich, was sie ist – eine Veranstaltung zur plebiszitären, pseudo-demokratischen Legitimation der bonapartistischen Herrschaft Erdoğans. Diese soll auch durch eine Verfassungsänderung, für die die AKP eine Dreifünftelmehrheit im Parlament braucht, zementiert werden. So könnte er 2028 noch einmal als Präsident antreten. Möglich wäre auch, dass Erdoğan nach Ausschaltung des aussichtsreichsten Konkurrenten die Wahlen vorzieht, um so seiner autoritären Herrschaft einen plebiszitären Anstrich zu geben.

Doch die Tatsache, dass die AKP-Regierung gegen die Bewegung vor allem auf die nackte Repression und einen zunehmend gleichgeschalteten Staatsapparat setzen muss, offenbart auch eine Schwäche. Ihre Unterstützung bröckelt, ihre soziale Basis wird unterhöhlt, weil sie trotz aller Regionalmachtambitionen und Träume von einem neuen „Osmanismus“ die Wirtschaft nicht in den Griff bekommt. Das führt zur Verarmung der Arbeiter:innen, zum Niedergang der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums, aber auch zur Unzufriedenheit bei der Bourgeoisie.

Das drückt sich auch im klassenübergreifenden Charakter der Bewegung und Proteste aus, der natürlich durch die Rolle der CHP verstärkt wird. Und daher ist es auch umso wichtiger, dass die Arbeiter:innenklasse und die Jugend nicht nur mobilisieren, sondern auch darum kämpfen, der Bewegung eine klassenkämpferische Ausrichtung zu geben. Daher ist es unerlässlich, dass sie der CHP, aber auch kleinbürgerlichen Kräften nicht die Führungsrolle überlassen.

Dazu gehört natürlich, die Mobilisierung auf der Straße weiter aufrechtzuerhalten. Der diktatorische Anschlag der Regierung wird jedoch durch Demonstrationen, durch den bloßen Kampf auf der Straße nicht gestoppt werden können. Um die Ausschaltung der Opposition durch staatliche Willkür zu brechen, die Freilassung İmamoğlus und aller anderen Gefangenen und die Einstellung aller Verfahren gegen die Opposition durchzusetzen, um also den präventiven Schlag gegen jede Opposition abzuwehren, braucht es eine Bewegung, die in den Betrieben verankert ist, einen Generalstreik sowie massive Besetzungen von Unis und anderen Institutionen.

Dabei kommt den Gewerkschaften eine wichtige Rolle zu. Sie müssen dazu aufgefordert werden, einen solchen landesweiten Generalstreik auszurufen und zu organisieren. Um diesen zu verbreitern und verteidigen oder auch gegen den Widerstand der Bürokratie durchzusetzen, braucht es Versammlungen in allen Betrieben und die Wahl von Streikkomitees, die diesen Kampf führen. Angesichts der Tatsache, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse in der Türkei überhaupt nicht organisiert sind, können so auch die Unorganisierten in die Bewegung aktiv einbezogen werden.

Solche Streikkomitees müssen landesweit koordiniert und, gemeinsam mit lokalen Aktionskomitees in den Stadtteilen, aber auch in kleineren Gemeinden, zu einer Aktionsführung zentralisiert werden. Gerade angesichts der Repression wird es notwendig, dass Selbstverteidigungseinheiten, embryonale Arbeiter:innenmilizen, zur Verteidigung des Generalstreiks gebildet werden und gegenüber den unteren Rängen der Polizei und Armee agitiert wird, den Einsatz gegen eine solche Bewegung zu verweigern.

Eine solche Bewegung würde nicht nur auf die Machtfrage, die Erdoğan durch die Verhaftungen der Opposition aufgeworfen hat, antworten, sie würde sie auch in der Türkei selbst stellen. Daher kann und darf sich die Bewegung nicht auf die unmittelbaren demokratischen Fragen beschränken, sondern ein Generalstreik muss die Frage des Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Nationen, allen voran der Kurd:innen, soziale und ökonomische Forderungen sowie den Kampf um Arbeiter:innenkontrolle aufgreifen. Vor allem aber muss bewusst werden, dass ein Generalstreik den Kampf revolutionär zuspitzt und die Frage aufwirft, welche Klasse herrschen und die Gesellschaft in ihrem Interesse reorganisieren soll. Daher muss er nicht nur mit dem Sturz Erdoğans, sondern auch mit dem Kampf um eine Arbeiter:innenregierung verbunden werden, denn sollte sich die Bewegung ausweiten und vertiefen, so kann in der Türkei rasch eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation entstehen. Dies bedeutet für die radikale, revolutionäre Linke und die gesamte Arbeiter:innenbewegung aber auch eine enorme Herausforderung – sie muss für ein revolutionäres Aktionsprogramm kämpfen, das zur sozialistischen Revolution führt, und sie muss jetzt den Aufbau einer politischen Kraft in Angriff nehmen, die dafür kämpft: eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.

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