Jona Everdeen, Infomail 1275, 28. January 2025
Seit Monaten erschüttern die Proteste der Studierenden Serbiens das Land. Seitdem am 1. November 2024 das frisch renovierte Vordach der Bahnhofs der Stadt Novi Sad einstürzte und dabei 15 Menschen starben, findet eine der größten Protestwellen der Geschichte des Landes statt, die sich gegen die für das Unglück verantwortlich gemachte Korruption, und die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić generell, richtet.
Eine besonders aktive Rolle in der Bewegung spielen die Studierenden, die den Kampf schnell zu einem grundlegenden gegen das gesamte politische System des Landes machten. Sie bildeten die Speerspitze der Proteste, die mittlerweile gerade in den städtischen Zentren wie Belgrad und Novi Sad immer größere Massen der Bevölkerung umfassen. Und sie sind es auch, die vielleicht einen Weg aus dem Elend zeigen können!
Und der Druck auf die Regierung nimmt offenbar zu, so dass der Ministerpräsident Serbiens, Miloš Vučević, am 28. Januar 2025 wegen Korruptionsvorwürfen zurücktrat. Ganz offenkundig will Präsident Vučić damit Dampf aus dem Kessel lassen, denn die anhaltenden Proteste unterhöhlen auch seine Machtbasis. Längst verzichtet das Regime darauf, regierungstreue Manifestationen in den Großstädten abzuhalten. So organisierten Vučić und seine Anhänger:innen am 24. Januar eine eigene Kundgebung in Jagodina (früher: Svetozarevo; Bezirk Pomoravlje, Mittelserbien) zu der auf Staatskosten Busse aus dem ganzen Land organisiert wurden. Lt. Regierung sollten 100.000 Menschen gekommen sein, andere Beobachter:innen sprechen von 15.000.
Der Rücktritt Vučevićs verdeutlicht, dass das Regime angezählt ist. Die Frage bleibt nun, ob, wie und durch wenn es überwunden und ersetzt werden kann.
Der massive Aufstand der serbischen Studierenden begann an der Fakultät für Kunst und Schauspiel in Belgrad. Dort versammelten sie sich am Freitag, dem 22. November, drei Wochen nach der Katastrophe von Novi Sad, um eine Schweigeminute für die Opfer abzuhalten. Doch dabei wurden sie von, vermeintlichen, Passant:innen körperlich angegriffen. Als Reaktion begannen sie daraufhin, ihre Fakultät zu blockieren und forderten die Identifizierung und Bestrafung der Angreifer:innen. Andere Studierende im ganzen Land schlossen sich an und schließlich wurden 62 der 80 Fakultäten Serbiens besetzt. Statt Vorlesungen und Seminaren fand nun Organisierung statt, was von großen Teilen der Studierendenschaft unterstützt wird.
Die Forderungen waren zunächst relativ einfach: Offenlegung der Unterlagen für den Neubau des Bahnhofs in Novi Sad; Verfolgung und Bestrafung der Angreifer:innen auf Proteste, von denen viele über Bilder im Internet identifiziert wurden (die meisten entpuppten sich als aktive Mitglieder der Regierungspartei); Freilassung aller Inhaftierten der Proteste und Einstellung aller Strafverfahren.
Doch neben diesen direkten Sofortforderungen richteten sich die Proteste immer mehr auch gegen das politische System um den autokratischen Präsidenten Vučić. So fordert man das Ende der Korruption, die in Serbien stark ausgeprägt ist, sowie die „Einhaltung der Gesetze“. Zu verstehen ist das letztendlich als Verteidigung demokratischer Rechte, die Vučić in seiner Amtszeit immer weiter eingeschränkt hat. So wurde auch spätestens bei der jüngsten Wahl 2023 endgültig klar, dass diese durch die Regierungspartei offenkundig manipuliert worden war. Der Staat wird immer mehr so umgebaut, dass die Macht alleine in den Händen von Präsident Vučić und seiner Partei liegt.
Die Studierenden verweisen auf diese Entwicklung zum Autoritarismus, wenn sie sagen: „Serbien ist keine Demokratie“. Gleichzeitig schaffen sie in ihren Fakultäten eigene demokratische Formen der Basisorganisation. So finden Vollversammlungen statt und alles Wesentliche wird an der Uni von den Studierenden selber entschieden und dann auch umgesetzt, von der Gemeinschaftsküche bis zu politischen Forderungen. Dabei besteht auch eine Arbeitsteilung zwischen den Fakultäten. So prüften Studierende der Architekturfakultät die Unterlagen des Neubaus in Novi Sad, die die Regierung veröffentlicht hatte, um Druck abzubauen – wohl in der Hoffnung, das würde die Massen, die wenig Kenntnisse vom Thema haben, zufriedenstellen. Allerdings stellten die Studierenden fest, dass diese Unterlagen nicht ausreichend wären, um den Bauprozess und, wo die Schuld am Unglück zu finden ist, nachzuvollziehen. Deshalb fordern sie das Herausrücken sämtlicher Unterlagen. Auch ist die Rechtsfakultät im Einsatz, um die Bewegung bei juristischen Fragen zu beraten und zu prüfen, ob Handlungen von offiziellen Behörden rechtmäßig sind.
Die Fakultäten stehen dabei seit Beginn der Besetzungen unter Kontrolle der Studierenden und sind zu Basen der Bewegung geworden. Möglich ist das auch dank der Hochschulautonomie in Serbien, die verhindert, dass Studierende an der Uni direkt von staatlichen Repressionen betroffen sein können. Anders als in Berlin, wo der „Demokrat“ Kai Wegner Unis räumen lassen darf, kann der Autokrat Vučić in Belgrad nicht einfach seine uniformierte Schläger:innentruppe auf den Campus schicken.
Repressionen gibt es allerdings trotzdem zuhauf, nicht direkt in der Uni, aber dafür umso mehr auf der Straße. Friedliche Proteste, die v. a. aus stillem Gedenken bestanden, wurden mit Tränengas beschossen. Demonstrationen wurden von zivilen Schläger:innenbanden, die im Dienste der Regierungspartei stehen, gewaltsam angegriffen. Die Polizei verhaftete daraufhin nicht die Schläger:innen, sondern diejenigen, die sich gegen sie zur Wehr setzten. Verhaftungen und Anklagen gegenüber Protestierenden fanden fast immer auf komplett willkürlicher Basis statt. Inhaftierungen für 48 Stunden ohne irgendeine echte Anklage sind an der Tagesordnung. Auch wurde mehrfach belegt, dass die Polizei wenn sie Protestierende in Gewahrsam nehmen konnte, Abhörgeräte in deren Handys einpflanzte.
Doch mit Gewalt gelang es Vučić nicht, die Proteste zu brechen, weshalb er es mit Zugeständnissen versuchte und 13 mögliche Verantwortliche für das Unglück festnehmen ließ, darunter auch den ehemaligen Verkehrsminister. Nun soll das nächste Bauernopfer Vučević die Bewegung beruhigen. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass der Prozess neutral geführt werden wird, sondern wahrscheinlich, dass die Parteifreund:innen des Präsidenten allenfalls milde Strafen erhalten oder das Ganze einfach ausgesessen werden soll. Die Proteste sind jedoch schon jetzt viel tiefgreifender, weshalb sie sich bisher nicht mit symbolischen Zugeständnissen befriedigen ließen. Immer mehr wollen das Ende von Vučićs gesamtem System erreichen.
Über die Studierenden breitete sich der tiefere, grundlegendere Protest auf viele Schichten der serbischen Gesellschaft aus. Zur größten Mobilisierung in Belgrad waren 100.000 auf der Straße, in Novi Sad 23.000. Und immer wieder gelingt es, Zehntausende für Veränderungen in Aktion zu bringen. So auch die Schüler:innen, die ebenfalls begannen, sich an den Protesten zu beteiligen. Um dem entgegenzuwirken, verlegte die Regierung kurzfristig die Winterferien (über das orthodoxe Weihnachten am 6. Januar) nach vorne. Dies hielt viele Schüler:innen jedoch nicht auf. Sie gingen trotz Ferien an ihre Schulen, um diese als Bühne für ihren Protest zu nutzen. Und auch Gewerkschaften und Berufsverbände wurden mit der Zeit immer stärker in den Protest involviert. Dieser breitete sich von den großen Städten des Landes wie Belgrad, Novi Sad und Niš auch auf die ländlichen Regionen aus. Immer wieder wird auch die Forderung nach einem Generalstreik in den Raum geworfen.
Genau diesen braucht es! Die Studierenden müssen sich zusammenschließen mit den Arbeiter:innen sowie mit der großen Bewegung gegen die Rio-Tinto-Lithiummine (Jadarprojekt), die, nachdem diese 2022 scheinbar verhindert wurde, nun nach einer Revision 2024 doch errichtet werden soll.
So wie die Studierenden an ihren Fakultäten Strukturen aufgebaut haben, müssen auch die Arbeiter:innen Versammlungen in den Betrieben abhalten, Aktionskomitees wählen und die Minen und Fabriken im Land unter ihre Kontrolle stellen.
Die autoritäre korrupte Regierung Vučićs, das als Ganze für die Katastrophe von Novi Sad und die generelle ökonomische Perspektivlosigkeit im Land verantwortlich ist, muss weg. Stattdessen braucht es eine neue Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Selbstorganisation der Studierenden, Arbeiter:innen und Bäuer:innen stützt, die in den Protesten ebenfalls eine wichtige Rolle spielen! Dazu muss jedoch die Arbeiter:innenklasse nicht nur voll in den Kampf einbezogen werden, sie muss auch die führende Rolle spielen. Die Studierenden bildeten bislang die Speerspitze der Bewegung und haben die Regierung in die Defensive gedrängt. Um sie zu stürzen und eine gesellschaftliche Alternative nicht zur Regierung, sondern auch zur Ursache von Korruption und Misswirtschaft – also zur kapitalistischen Ausbeutung – durchzusetzen, muss die Arbeiter:innenklasse zur führenden Kraft der Bewegung werden. Und das erfordert, in der Hitze des Kampfes gegen die Regierung, dass sich die bewusstesten Teile der Lohnabhängigen und der Studierenden zu einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vereinen.
Eines muss jedoch klar sein: Serbien ist ein halbkoloniales Land, das relativ hilflos zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten, v. a. der EU und China, hin- und hergezerrt wird. Auch dadurch ist die Regierung Vučić gezwungen, so zu handeln, und wird es auch jede andere bürgerliche Regierung sein. Die Abhängigkeit kann nur gebrochen werden, wenn Serbien aufhört, ein bürgerliches Land zu sein, den Kapitalismus durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt. Doch auch dann ist internationale Solidarität unumgänglich, denn in einer feindlichen Umwelt kann ein isoliertes kleines Land nicht überleben. Und auch der Kampf gegen ein autokratisches Regime wird umso schwerer, je stärker das Interesse von Großmächten ist, dieses aufrechtzuerhalten.
Daher ist es nötig, dass wir uns nicht bloß national, sondern international organisieren! Den Studierenden in Serbien war das wohl durchaus klar, weshalb sie bereits am 21. Dezember 2024 einen Aufruf veröffentlichten an Kommiliton:innen auf der ganzen Welt, sich dem Kampf anzuschließen und ebenfalls ihre Fakultäten zu besetzen, um gegen Unrecht zu kämpfen. Sei es im Bildungssystem oder in politischen Fragen: Tatsächlich fanden, und das ist besonders positiv zu bemerken, an vielen Universitäten anderer Balkanländer Solidaritätsaktionen statt. Es scheint, als teile die junge Generation nicht den nationalistischen Hass, der in den 1990er und frühen 2000er Jahren zu einer Reihe von brutalen Kriegen auf dem Balkan führte. Stattdessen teilen sie internationale Solidarität, zählt es mehr, dass sie alle Studierende sind und von korrupten und maximal semidemokratischen Systemen beherrscht werden, als ob sie zuerst Kroat:innen, Mazedonier:innen oder Serb:innen sind.
Doch nicht nur in der Region, sondern auch und gerade in den imperialistischen Zentren, die diese beherrschen, gilt es, sich solidarisch mit den Studierenden in Serbien zu zeigen! So auch in Deutschland. Deutsche Studierende sollten sich offen solidarisieren, auf die Lage und den Kampf in Serbien aufmerksam machen, sollten serbische Studierende an ihre Universitäten einladen und selber Delegationen organisieren, um in Serbien den Kampf zu unterstützen. So kann eine Studierendenbewegung entstehen, die Grenzen überschreitet und den Kampf gegen das Unrechtssystem, das uns alle – mal mehr, mal weniger offensichtlich – beherrscht, international führt!