Arbeiter:innenmacht

Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

https://pixabay.com/de/illustrations/search/stimmzettel/

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.

image_pdfimage_print

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vom Widerstand zur Befreiung

Für ein freies, demokratisches, sozialistisches Palästina!

Broschüre, A4, 48 Seiten, 3,- Euro

Aktuelle Veranstaltungen

Mai
1
Mi
10:00 Gewerkschaften und Lohnabhängige... @ Berlin
Gewerkschaften und Lohnabhängige... @ Berlin
Mai 1 um 10:00
Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze @ Berlin
Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze Aufruf des Klassenkämpferischen Block Berlin zum 1. Mai, Infomail 1251, 16. April 2024 In den letzten Wochen fanden bundesweit zahlreiche Streiks statt, zum[...]

Lage der Klasse – Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Südamerika - Politik, Gesellschaft und Natur

Ein politisches Reisetagebuch
Südamerika: Politik, Gesellschaft und Natur
Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen