Stefan Katzer, Neue Internationale 277, Oktober 2023
Dass sie in ihren LKWs übernachten müssen, gehört für die Fahrer, die sich seit Juli auf der Raststätte Gräfenhausen im Streik befinden, zum Alltag. Statt in ihren Kabinen übernachten sie nun allerdings auf Matratzen, die sie auf die Ladeflächen ihrer Fahrzeuge gelegt haben. Paletten wurden zu Tischen umfunktioniert, die Planen mit Sprüchen beklebt: „No money“ ist darauf zu lesen.
Die vor allem aus Georgien, Usbekistan, der Ukraine und der Türkei stammenden LKW-Fahrer, die seit Wochen auf dem Rastplatz ausharren, stellen eine zentrale Forderung: Sie verlangen von ihrer Spedition die Auszahlung ihrer Löhne. Unterstützt werden sie dabei von Edwin Atema, einem Funktionär des Niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV und der Europäischen Transportarbeitergewerkschaft. Er ist mit der Spedition und deren Auftraggeber:innen in Verhandlungen getreten, bisher allerdings ohne Erfolg.
Über eine halbe Millionen Euro schuldet die polnische Spedition Mazur den Fahrern, die unter anderem für IKEA, Audi, Red Bull, DHL, Porsche und Obi Waren quer durch Europa transportieren. Pro Arbeiter handelt es sich bei Tagessätzen von rund 80 Euro um mehrere Tausend Euro, die ihnen und ihren Angehörigen fehlen. Doch weder die Spedition noch die von ihr belieferten Unternehmen zeigen sich bisher bereit, die ausstehenden Löhne zu zahlen.
Da die Spedition auch nach Wochen des Streiks nicht auf die Forderung der Fahrer eingegangen ist, stattdessen sogar mit Anzeigen gegen sie reagiert hat, haben sich 30 von ihnen entschieden, in den Hungerstreik zu treten. Eine ganze Woche lang haben sie sich geweigert, Nahrung zu sich zu nehmen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen. Nach einer Woche haben sie den Hungerstreik auf Anraten eines Arztes allerdings wieder abgebrochen. Zu groß sei die Gefahr für ihre Gesundheit.
Doch ihr Kampf um die Auszahlung ihrer Löhne geht weiter. Denn während sich ihre Mägen langsam wieder mit Essen füllen, bleibt ihr Konto trotz geleisteter Arbeit vorerst leer. Wie lange die Fahrer noch durchhalten werden, ist allerdings ungewiss. Bei einigen schwindet bereits die Hoffnung, dass sie jemals ihren Lohn erhalten werden.
Die Tatsache, dass die Arbeiter bereit waren, in den Hungerstreik zu treten, bringt ihre Verzweiflung deutlich zum Ausdruck. Es zeigt außerdem, wie kaltblütig die Kapitalist:innen sind, wenn es darum geht, möglichst viel Profit aus „ihren Arbeiter:innen“ herauszupressen. Sie halten sich nicht an Verträge, umgehen Arbeitsvorschriften und verweigern die Auszahlung von Löhnen – alles, um den eigenen Profit zu steigern.
Die Speditionen wie Mazur bedienen sich dabei eines Systems der Scheinselbstständigkeit, was den Fahrern das Einklagen ihrer Löhne weiter erschwert. Die LKWs werden von der Spedition geleast, weshalb diese auch schon versucht hat, diese mit eigenen paramilitärisch agierenden Securities zu kapern, was allerdings verhindert werden konnte. Die Kund:innen der Speditionen waschen derweil ihre Hände in Unschuld. Sie kaufen schließlich nur die Transportleistung, überweisen den Betrag dafür an die Spedition und hätten keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen.
Auch die Gesundheit „ihrer“ Mitarbeiter:innen ist den Spediteur:innen (wie auch deren Großkund:innen) letztlich egal. Das ist auch der Grund, weshalb ein Hungerstreik nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Streik, der das bedroht, was den Kapitalist:innen wirklich am Herzen liegt: ihren Profit.
Die Gewerkschaften und Unterstützer:innen der Fahrer:innen konzentrieren sich bisher vor allem darauf, die Spedition und die Großunternehmen, die sie beliefern, durch öffentlichen Druck zum Einlenken zu zwingen. Im April war dies nach einem ersten Kampf gegen die Nichtauszahlung der Löhne erfolgreich. Damals besuchten Europaabgeordnete den Parkplatz in Gräfenhausen, die Kund:innen von Mazur übten wegen der schlechten Publicity Druck auf die Spedition aus.
Doch diese Methode wirkt offenbar nicht dauerhaft, weil dieses Geschäftsmodell längst zur Norm in wichtigen Teilen der Logistikbranche geworden ist. Daher werden Medienarbeit, Unterstützung bei Verhandlungen sowie materielle Unterstützung durch Gewerkschafter:innen vor Ort nicht ausreichen.
Zuerst wäre eine Verbindung mit ähnlichen Streiks in Europa nötig. So legten in diesem Jahr auch schon Beschäftigte von Mazur in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz die Arbeit nieder.
Die Ausweitung des Streiks mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen für alle im Transportsektor Beschäftigten zu verbessern, eine massive Erhöhung der Löhne und Inflationsausgleich durchzusetzen, ist dabei ein entscheidender Schritt. Er müsste aber auch verbunden werden mit dem Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Unternehmen, die sich weigern, die Löhne ihrer Mitarbeiter:innen auszuzahlen – und das sind faktisch alle in der Branche.
Dazu ist es aber auch notwendig, dass die Gewerkschaften mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen. Zweitens braucht es eine europaweite Kooperation mit einem gemeinsamen Kampfplan aller Branchengewerkschaften. Um das zu ändern, müssen die Gewerkschaften selbst umgekrempelt und unter die Kontrolle ihrer Mitglieder gebracht werden. Sie müssen wieder zu Waffen der Lohnabhängigen werden, mit denen sie Kämpfe auch tatsächlich gewinnen können. Symbolische Aktionen reichen nicht aus. Nicht diejenigen sollten hungern, die keine Löhne erhalten, sondern diejenigen, die keine Löhne auszahlen.
Lasst uns den Kampf der Fahrer nach allen Kräften unterstützen! Spenden und Solidaritätsadressen können dazu beitragen, den Kampfeswillen der Streikenden aufrechtzuerhalten.