Arbeiter:innenmacht

Staatsstreiche bedrohen Frankreichs Kontrolle über ehemalige afrikanische Kolonien

TUBS, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Dave Stockton, Infomail 1232, 20. September 2023

Am 26. Juli nahm die Präsidentengarde in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, unter Führung des Brigadegenerals Abdourahamane Tchiani den Präsidenten Mohamed Bazoum fest und verschleppte ihn. Gerüchte besagen, dass der Auslöser für diesen Putsch Bazoums Plan zur Ersetzung der Kommandostellen in Präsidentengarde und Armee war.

Der Rest der Armee unterstützte sofort den Staatsstreich, der auf den Straßen auch von Demonstrant:innen begrüßt wurde. Einige der Demonstrationen waren  vom M62-Bündnis politischer und sozialer Bewegungen organisiert, das während der letztjährigen öffentlichen Proteste gegen die gestiegenen Spritpreise gebildet worden war. Die Demonstrant:innen schwenkten nicht nur die Fahnen Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“. Redner:innen forderten den Einsatz der Truppen der russischen Wagnersöldner:innen in Niger wie schon im benachbarten Mali, wo diese 2020 den putschenden Führer:innen halfen, den Rückzug der französischen Streitkräfte aus dem Land zu beschleunigen.

Der Staatsstreich im Niger steht in einer Reihe mit gleichartigen Vorfällen im Südsaharagürtel Afrikas – Guinea, Burkina Faso, Tschad, Sudan und nun, knapp einen Monat nach Niger, Gabun in Äquatorialafrika. Alle außer dem Sudan waren früher französische Kolonien, in denen Frankreich starke Wirtschaftsverbindungen und oft Militärpräsenz unterhielt unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Terrorismus“. Gabun ist wiederum Mitglied des britischen Commonwealth.

Ein antikoloniales Erbe unter rangniederen Offizier:innen in westafrikanischen Streitkräften reicht zurück bis zu Leuten wie Thomas Sankara, der in Burkina Faso von 1983 – 1987 herrschte, und Jerry Rawlings in Ghana. Sie waren beide von panafrikanischen Idealen beseelt und von der kubanischen Revolution beeinflusst. Doch wenig spricht dafür, dass die jetzigen Putschist:innen von diesem Radikalismus angetrieben sind. Sie gehören eher einer anderen Tradition an, dem „Prätorianismus“, d. h. Revolten der privilegierten Präsidentengarde gegen ihre Vorgesetzten.

Heuchelei auf allen Seiten

Gewiss waren die „demokratischen“ Präsidenten, die sie aus dem Weg räumten, oft korrupt und ihre (Wieder-)Wahl mit schweren Makeln behaftet. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Putschist:innen sich als weniger korrupt erweisen werden oder gar demokratischer als die Figuren, die sie ersetzt haben. Die Idee, dass die Wagnergruppe, Putins Russland oder chinesische Investor:innen den Staaten der Region zu größerer Unabhängigkeit verhelfen werden, ist völlig abwegig.

Genauso falsch sind die Behauptungen Frankreichs, der Europäischen Union oder USA, dass sie dagegen die Schöpfer:innen bedeutsamer Demokratie seien und jemals den extrem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung dieser Länder heben würden. Niger weist einen der niedrigsten sozialen Entwicklungsindizes (HDI) in der Welt auf. 41 % der Einwohner:innen darben in absoluter Armut, nur 11 % haben Zugang zu medizinischer Versorgung und 17 % leben mit Strom.

Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich hat diesen Staatsstreich verurteilt, nicht allein, weil Bazoum ihr Schützling war, sondern weil Niger vorgesehen war als Zentrum für eine neu geordnete französische und US-amerikanische Dominanz in der Region nach den Rückschlägen in Mali und den Nachbarstaaten. Präsident Emmanuel Macron drohte damit, dass „kein Angriff auf Frankreich und seine Interessen geduldet werden wird“. Frankreich ist im Niger noch mit einer Truppenstärke von 1.500 Kräften vertreten, die USA hat 1.100, und sie haben sich geweigert, Brigadier Tchianis Verlangen nach ihrem Rückzug anzuerkennen.

Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) hat sofortige Sanktionen verhängt, Flugverbotszonen und Grenzschließungen erlassen. Ihr dominierender Staat, Nigeria, hat die Energiezufuhr unmittelbar unterbunden, Grenzen geschlossen und Lebensmitteltransporte blockiert. Die Preise für Hauptnahrungsmittel wie Reis schossen innerhalb von wenigen Tagen der Blockade schlagartig in die Höhe. Ziel ist, die Bevölkerung auszuhungern, um die Wiedereinsetzung von Frankreichs Protegé herbeizuführen.

Die Verteidigungsminister:innen der Ecowas-Länder haben auf ihrer Zusammenkunft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja auch eine militärisches Eingreifen angedroht, falls Bazoum nicht ins Amt zurückkehrt. Dieses würde von der nigerianische Armee angeführt, die den Großteil der Ecowas-Truppen stellt. Diese Aussicht wiederum hat Mali, Tschad und Burkina Faso veranlasst, Niger zu Hilfe zu eilen, falls die Ecowas-Verbände einmarschieren. Damit könnte ein Krieg in der gesamten Region entbrennen. Französische Minister:innen haben diesem Vorgehen zugestimmt, doch die Verantwortlichen der US-Administration gehen vorsichtiger zu Werke und scheinen Verbindungen zwischen den Militärregierungen der Region herstellen zu wollen, um russische Fortschritte aufzuhalten.

Ein Krieg in der Region wäre ein Geschenk für die verschiedenen dort operierenden  islamistischen Organisationen. Darunter befinden sich die Jama’a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin (Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime; JNIM), der Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der Islamische Staat in der Größeren Sahara (ISGS), al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM), Murabitunmiliz (Westafrika), Ansar Dine (Unterstützer des Glaubens), Katiba Macina (Befreiungsfront Macina; MLF)und Boko Haram (Übers. etwa: Verwestlichung ist ein Sakrileg). Sie haben sich bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber regionalen Armeen und deren französischen Ausbilder:innen erwiesen. Diese Gruppen terrorisieren Teile der ansässigen Bevölkerung, erhalten aber auch Unterstützung von anderen Teilen der Einwohner:innen. Die Brutalität der „antiterroristischen“ Einheiten hilft ihnen, arbeits- und perspektivlose Jugendliche zu rekrutieren.

Koloniale Ausbeutung

Der Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht allein die brutale koloniale Erfahrung zugrunde, selbst nicht die wiederholten militärischen Interventionen in den früheren Kolonien, um die „Ordnung zu bewahren“ oder „französische Bürger:innen zu retten“, sondern vielmehr die ökonomische Ausbeutung der reichen natürlichen Ressourcen der Region in Verbindung mit dem Scheitern, eine sichtbare Wirtschaftsentwicklung in Gang zu bringen.

Frankreich unterhält gegenwärtig etwa 30 Firmen oder Niederlassungen in Niger, darunter das Orano-Konsortium, das in der riesigen Tamgak-Mine nach Uran schürft. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Rohstoffe sind seit langem lebenswichtig für Frankreichs Nuklearindustrie, die 68 % des Stroms für das Land erzeugt. Es gibt auch größere Lithiumvorkommen, die immer wertvoller für die schnell wachsende Elektroautoindustrie werden. Doch dennoch oder gerade deswegen rangiert Niger immer noch auf Platz 189 unter 191 Ländern laut HDI der Vereinten Nationen von 2022.

Der Machtwechsel in Niger ist ein weiterer Schlag für Frankreich, und im weiteren Sinne auch für die USA, Großbritannien und Staaten wie Deutschland und Italien, die französische Truppen in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt und damit zugleich den Hass gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu angefacht haben, denn sie haben weder die versprochene Sicherheit gebracht noch die Armut gelindert. Diese Umstände haben die Infiltration der Wagnergruppe in der Region begünstigt. Die russische Söldnertruppe operiert bereits im benachbarten Mali wie auch in der Zentralafrikanischen Republik, wo sie auch an der Ausbeutung der dortigen Goldminen beteiligt ist. Das Wagner-Kommando befehligte 5.000 Einsatzkräfte in 12 Ländern innerhalb Afrikas. Der Anführer Jewgeni Prigoschin begrüßte noch kurz vor seinem Tod den Putsch im Niger.

Nigers Ex-Präsident Bazoum war ein besonders enger Verbündeter Frankreichs. Deswegen ist sein Sturz ein eminent harter Schlag für Emmanuel Macron. Nach der erzwungenen Auflösung von „antiterroristischen“ Gemeinschaftsoperationen mit fünf Nationen und der demütigenden Vertreibung seiner Truppen aus Mali hatte er das Land als neues Zentrum einer Operation geringeren Ausmaßes ausersehen, die mit Unterstützung von westafrikanischen Militärpartner:innen, ausgebildet von französischen Spezialist:innen vorgehen sollte.

Diese neue Strategie sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, die auf ihrem Höhepunkt 3.500 französische Soldat:innen im Einsatz sah. Frankreich hatte sich in einen neunjährigen militärischen Konflikt mit islamistischen Guerillas verwickelt und auch tausende Truppen in Niger und Burkina Faso stationiert. Ihre Präsenz erzürnte die Bevölkerung vor Ort. Unter wachsenden Streiks und Protesten waren die französischen Einheiten gezwungen, Mali zu verlassen, und ebenso eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen.

Das ganze Staatensystem der Region ist ein halbkolonialer Ersatz für Teile des französischen Imperiums und erlangte Anfang der 1960er Jahre nominelle Unabhängigkeit, genannt Françafrique, d. h. Frankreichs „Hinterhof“. Seine Bestandteile sind in den vergangenen 5 Jahren wie Dominosteine gefallen. Doch Frankreichs Banken und Minenkonzerne beherrschen immer noch die Ökonomien der westafrikanischen Länder. Diese äußerst schwachen Staaten sind trotz wiederholter Anstrengungen nicht in der Lage gewesen, ein gemeinsames Währungssystem unabhängig von der Banque de France aufzubauen. Der CFA-Franc ist weiterhin die gemeinsame Währung für 14 afrikanische Staaten, auch Gabun, und das bedeutet, dass jedes Mitgliedsland die Hälfte seiner Devisenreserven in Paris deponieren muss.

Dieses unverhüllt ausbeuterische halbkoloniale System und die wirtschaftlichen Entbehrungen, die es den Ländern auferlegt, erklärt etwas die anfängliche Begeisterung für den Staatsstreich. Aber die Hinwendung zum russischen oder chinesischen Imperialismus wird der Region keine Lösung für die Unterentwicklung bieten, die Hunderttausend in das Wagnis treibt, die Wüste und das Mittelmeer zu überqueren, um Europa zu erreichen.

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Tötung Prigoschins und des Führungskerns der Wagnergruppe und ihre Ersetzung durch russische Generäle sie weniger wirkungsvoll machen wird als bisher. Auch die neuen Militärregierungen werden nicht widerstandsfähiger sein gegen Korruption und Bestechung durch westliche, russische oder chinesische Regierungen und Unternehmen. Keines dieser rivalisierenden Lager kann diesem Teil Afrikas Entwicklung oder gar Unabhängigkeit bescheren.

Was tun?

Im Verlaufe einer französischen, US- oder Ecowas-Militärintervention sollten Arbeiter:innen und Jugendliche ihre Länder verteidigen, indem sie sich einem bewaffneten Kampf anschließen, und danach streben, an die Spitze einer nationalen Befreiungsbewegung zu gelangen. Doch sollten sie der Militärherrschaft der Putschführer:innen keine politische Gefolgschaft leisten, die sich dem russischen Imperialismus andienen und keine Freund:innen der Arbeiter:innenklasse sind.

Ein solcher Befreiungskampf könnte zur Schaffung von Arbeiter:innenräten führen, die Demokratie, Frauen- Gewerkschafts- und Minderheitenrechte verteidigen und als Organisatoren von Wahlen für  souveräne verfassunggebende Versammlungen mit abrufbaren Delegierten auftreten. Aber freie Wahlen allein werden nicht ausreichen, um die krasse wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zu lösen. Dafür müssen die großen ausländischen Firmen, die die Rohstoffindustrien und Handelsfirmen kontrollieren, unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und in einen Entwicklungsplan aufgenommen werden.

Damit dies eine realistische Perspektive wird, muss die Arbeiter:innenklasse  in Niger und ganz Westafrika revolutionäre Parteien aufbauen, die für das Ziel einer sozialistischen Föderation der gesamten Region kämpfen. Das heißt, Einheit herzustellen über die künstlichen Grenzen der Kolonialzeit hinweg und quer durch die französisch- und englischsprachigen Teilungen. Der Kampf muss aufgenommen werden für die Kontrolle über die gewaltigen natürlichen und industriellen Ressourcen dieser Länder und deren Einplanung in eine massive Hebung des Lebensstandards der Bevölkerungen. Kurzum, eine echte antiimperialistische Revolution muss unausweichlich zu einem Kampf für den Sozialismus auf Grundlage von Arbeiter:innendemokratie in Stadt und Land und bei den einfachen Soldat:innen geraten.

Gerade jetzt brauchen die Arbeiter:innen der afrikanischen Sahelzone die Hilfe und Solidarität der Arbeiter:innenschaft Europas und der USA. In diesen Ländern müssen Sozialist:innen gegen jede Ecowas-Invasion des Niger, gegen jede Beteiligung französischer, EU- oder US-Truppen auftreten und müssen für die Aufhebung aller Sanktionen von dieser Seite eintreten.

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