Arbeiter:innenmacht

Die Versprechen der Regierung Lula

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lula_and_Alckmin.jpg

Jonathan Frühling, Neue Internationale 271, Februar 2023

Vier Jahre lang war Brasilien im Griff des rechten Präsidenten Bolsonaro. Die Regenwaldabholzung hat unter ihm historische Höchstwerte erreicht, Corona knapp 600.000 Menschen getötet und die (militante) Rechte wurde massiv gestärkt. Nach einem knappen Rennen ist im zweiten Wahlgang wieder der Reformist Lula da Silva zum Präsidenten gewählt worden.

Allerdings trat dieser nicht nur als Kandidat der Arbeiter:innenpartei PT an, sondern hat eine Volksfront mit offen bürgerlichen, neoliberalen Parteien gebildet. Sein Vizepräsident ist der neoliberale Geraldo Alckmin, der lange Zeit als führendes Mitglied in der PSDB (Partei der Sozialen Demokratie) agierte, welches die wichtigste Oppositionspartei während Lulas letzten beiden Präsidentschaften war.

Rechte Gefahr

Wie der Putschversuch im Januar zeigte, ist die rechte Gefahr mit der Wahl keineswegs gebannt. Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung am deutlichsten repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Ferner setzen sie auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Die herrschende Klasse und die imperialistischen Länder kalkulieren damit, dass Lula und die PT in dieser politischen Zwickmühle leichter gefügig gemacht werden können. Angesichts der Wirtschaftskrise lehnen diese Reformen ab, sodass selbst die Versprechen der PT auf parlamentarischem Wege sicher nicht umsetzbar sein werden. Im Folgenden wollen wir sie näher betrachten.

Umweltpolitik

Besonders im Fokus stand während der Wahl in Brasilien der Amazonasregenwald. Lula versprach während der Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit die Rodungen vollständig zu beenden. Es sollen dafür Schutzprogramme aufgelegt und scharfe Kontrollen eingeführt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Lula die Umweltaktivistin Marina Silva als Umweltministerin ein, die bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 – 2008 diesen Posten bekleidete. Wie wenig wir den Versprechen von Lula trauen können, zeigen die Gründe für den Rücktritt von Marina Silva aus Lulas letztem Kabinett: Damals erlaubte Lula die Erschließung entlegener Regenwaldregionen für die Agrokapitalist:innen und Aluminiumindustrie.

Frauenrechte

Wenig Hoffnungen sollten wir auch in Bezug auf Frauenrechte hegen. Schon in seinen ersten zwei Amtszeiten hatte Lula kein Abtreibungsrecht durchgesetzt. Während des Wahlkampfs hat er sich sogar davon distanziert. Grund dafür war, die wachsende Anzahl rechtskonservativer evangelikaler Christ:innen nicht als Wähler:innenbasis zu verlieren. Ihr Anteil liegt mittlerweile bei 32 % an der Bevölkerung. Insgesamt wird es deshalb immer schwieriger, für Frauen- und LGBTQIA-Rechte Unterstützung in der Bevölkerung zu erreichen.

Arbeitsmarkt, Steuern und Renten

Ein weiteres großes Versprechen lautet, die Arbeits- und Rentenreformen rückgängig zu machen, die Michel Temer und Bolsonaro nach dem Sturz der PT-Präsidentin Rousseff durchsetzten. Dazu gehören die Abschaffung des Rechts der Landbevölkerung, früher in Rente gehen zu können, oder die Flexibilisierung von Arbeitsstunden und Urlaubstagen, die nur dem Kapital nutzt. Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmer:innen zahlen müssen, wurden gesenkt und Renten vom Mindestlohn und von inflationsbedingten Steigerungen entkoppelt. Auch wurden verpflichtende Zahlungen an Gewerkschaften und eine gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft. Bolsonaro hat diese Entwicklung später mit einer weiteren Neoliberalisierung vertieft, z. B. das Renteneintrittsalter massiv erhöht.

Hier fragt sich, wie weit Lula gehen wird, um einerseits den linken Teil seiner Wähler:innenbasis zufriedenzustellen, andererseits seine Koalition mit den wirtschaftsliberalen Parteien nicht zu gefährden. Auch hier sollte mit Alckmin als Vizepräsidenten nicht zu viel erwartet werden. Er selbst hatte 2016 für die Amtsenthebung von Dilma gestimmt, die für den ultraneoliberalen Michel Temer und seine wirtschaftsliberalen Renten- und Arbeitsmarktreformen Platz gemacht. Auch die von Lula versprochene Erhöhung der Reichensteuern droht, am Verhandlungstisch geopfert zu werden.

Wirtschaft

Die wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt und macht Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse schwierig. Die Inflationsrate liegt bei 10 %, die Arbeitslosigkeit ebenfalls. Die Coronapandemie hat ihre Spuren hinterlassen und viele Menschen in den Abgrund gestürzt. Sogar der Hunger ist für einen Teil der Bevölkerung wieder zurückgekehrt. Das Wirtschaftswachstum ist mit 3 % gegenüber 2021 gesunken, die Prognosen für 2023 sind mit 1 – 2 % nochmals deutlich geringer. Landwirtschaftliche Erzeugnisse (Soja, Rindfleisch, Zucker) und Rohstoffe (Eisenerz und Rohöl) machen den größten Exportanteil aus. Allerdings ist der Hauptabnehmer China selbst momentan wirtschaftlich geschwächt und kann die Wirtschaft Brasiliens nicht wie noch vor einigen Jahren beflügeln.

Besonders die massive Steigerung der Staatsschulden (momentan 89 % des BIP) belastet die Aussichten für Lulas Präsidentschaft. Um die Wirtschaft voranzubringen, will Lula Infrastrukturprogramme auflegen und staatliche Investitionen erhöhen. So soll der Deindustrialisierung entgegengewirkt werden. In den letzten 10 Jahren ist der Anteil der Industrieproduktion am BIP des Landes von 23,1 % auf 18,6 % gesunken (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169880/umfrage/anteile-der-wirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-brasiliens/).

Außenpolitik

Die EU und Lula da Silva visieren an, das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und der EU wiederzubeleben. Dies würde der Umwelt massiv schaden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Staaten vertiefen. Deshalb und da viele EU-Länder durch das Abkommen ihre eigene Landwirtschaft bedroht sehen, ist eine Ratifizierung des Vertrages aber weiterhin ungewiss.

Außenpolitisch wird sich Brasilien versuchen, blockfrei zu positionieren. Wichtigste Handelspartner sind nämlich China und danach die USA. Lula da Silva hat angekündigt, mit allen Wirtschaftsblöcken in normale, geregelte Beziehungen zu treten und die außenpolitische Isolierung des Landes unter Bolsonaro rückgängig zu machen.

Dazu nähert sich Lula z. B. Venezuela unter Maduro oder auch Kuba an. Das wichtigste außenpolitische Projekt könnte die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sein, welche besonders China anstrebt, um ein Gegengewicht zu den G7 zu schaffen. Die USA sieht diese Pläne natürlich als Gefahr an.

Erwartete Blockaden im Parlament

Selbst wenn Lula weitergehende Politik ernsthaft verfolgen würde, sind ihm alleine schon durchs Parlament die Hände gebunden. Dort sind nämlich von den 23 vertretenen Parteien die Rechten in der Mehrheit. Die stärkste ist mit 16,5 % und 99 Sitzen Bolsonaros Partido Liberal (PL). Lulas PT hat gerade mal 69 Sitze, das von ihm geführte Bündnis 82. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen könnte er sogar wie seine PT-Vorgängerin 2016 durch ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt werden, wenn ihm die neoliberalen Parteien die Unterstützung versagen.

Wie der Putschversuch vom Januar zeigt, stehen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten vor einem doppelten Problem. Einerseits droht die Gefahr von rechts, andererseits hängt die Volksfront mit Alckmin wie ein Mühlstein am Hals der Arbeiter:innenklasse.

Daher ist es für die Arbeiter:innenbewegung unerlässlich, die Lehren aus dem gescheiterten Putschversuch im Januar zu ziehen und sich die Frage zu stellen, wie das Kampfpotential genutzt werden kann, das bei den Demonstrationen am 9. Mai sichtbar wurde, als Hunderttausende gegen die Rechten auf die Straße gingen.

Lehren

Selbst die versprochenen Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und Stärke der Rechten in Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie Initiierung eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, massive Besteuerung der Reichen, entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness’, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

So wie Polizei und Armee als Garantinnen des Privateigentums fungieren, so Alckmin und andere offen bürgerliche Kräfte als Statthalter:innen der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit diesen wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und der PT einen Bruch mit den offen bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seiner wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden suchen. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken anwenden, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen wollen, ermöglichen, sich von den Illusionen in ihn und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu aufzufordern, weiter zu gehen, als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen. Aber solche Forderungen können als Basis für einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Reaktion dienen. Sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen andererseits sichtbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe und einen eventuellen Verrat „ihrer“ Regierung vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei verbunden werden.

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