Resa Ludivien, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023
In weiten Teilen Chinas herrscht mal wieder ein strenger Lockdown. Ein Brand in einem Haus in Xinjiang hat das Fass zum Überlaufen gebracht. In der Viermillionenstadt Urumtschi mussten Anwohner:innen dabei zusehen, wie es in einem Mehrfamilienhaus brannte. Grund dafür war, dass wegen der im Zuge der Coronamaßnahmen errichteten Straßensperrungen für die Feuerwehr kein Durchkommen war. Auch an dem Haus angekommen, war eine reguläre Intervention „schwierig“. Bedenkt man, dass in vielen chinesischen Großstädten in jedem Viertel so viele Menschen wie in ganzen europäischen Großstädte leben, ist es kein Wunder, dass diese Bilder auch jene in Angst und Panik versetzt haben, die sich sonst wenig mit dem abgelegenen Westen des Landes beschäftigen. Noch wahnwitziger ist, dass die Ausgangssperre die Menschen am Verlassen des brennenden Hauses gehindert hat. Resultat: 10 Tote, die wahrscheinlich noch leben würden, wenn die Staatsdoktrin nicht so unflexibel wäre.
Doch der tragische Tod dieser Menschen führte auch dazu, dass sich die lange angesammelte Wut und Verzweiflung der Menschen Bahn brachen.
Seit dem 27. November gibt es landesweit Proteste. Sogar Rufe nach Xis Rücktritt sind zu vernehmen. So weit haben es die Forderungen in den letzten Jahrzehnten selten getrieben. Der Staat reagierte mit einer gestiegenen Polizeipräsenz und der undurchsichtigen Aussage: „Wir passen die Strategie an“. Nur wie und ob, steht im luftleeren Raum.
Bereits im Frühjahr hatten die Maßnahmen zu Protesten geführt (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/20/china-vor-dem-scheitern-des-nationalen-projektes-0-covid/), doch die Proteste der letzten Woche stellen wohl die größten öffentlichen politischen Proteste seit Jahrzehnten dar. Auch wenn sie massiv unterdrückt und infolgedessen auch kleiner wurden, so verweisen sie auf die tiefe soziale und politische Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen China unter KP-Diktat. In Urumtschi (Xinjiang), Changsha (Hunan), Chengdu (Tschengdu; Sichuan), Zhengzhou (Tschengtschau Schi; Henan), Wuhan (Hubei; Zentralchina), Guangzhou (Kanton; Guangdong; Südchina), Shanghai (Schanghai; Ostchina), Beijing (Peking; Nordchina) sowie weiteren Städten gingen und gehen die Menschen auf die Straße.
Urumtschi, der Ausgangspunkt der Proteste, ist die Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang. Gerade durch Großereignisse wie die Olympischen Spiele wurde die Unterdrückung regelmäßig noch einmal verstärkt, um „Störungen“ zu vermeiden. Das trifft vor allem die autonomen Regionen. So ist es in diesen Zeiten noch viel schwieriger, nach Xinjiang oder Tibet zu reisen, als ohnehin schon. Auch wenn die Coronamaßnahmen das ganze Land treffen, ist es in Krisenzeiten zusätzlich einfacher, bereits unterdrückte nationale Minderheiten mit noch mehr Repressalien zu schikanieren.
Laut Staatsdoktrin gibt es 55 anerkannte ethnische Minderheiten in China. Doch spielen sie in der öffentlichen Darstellung nur in zwei Fällen eine Rolle: Wenn sie „stören“ und man sie kommerziell vermarkten kann. An einem Tag werden dann Tourist:innen durch singende und tanzende Menschen in Tracht geführt und am nächsten sind alle von der Han-Mehrheit abweichenden Traditionen, Sprachen und Kultur der Führung ein Dorn im Auge.
Dass aus dieser von Repressalien gequälten Region eine Bewegung ausgehen könnte, hätte wohl niemand gedacht. Zu abgeschottet, zu überwacht und zu weit weg von dem Gedächtnis der Han-chinesischen Mehrheit, die sonst nur wenig zur chinesischen Umerziehungspolitik verlauten lässt. Doch nun könnte Xinjiang insofern ein Zünglein an der Waage sein, als vor allem die dort lebende muslimische Minderheit nichts mehr zu verlieren hat. Was könnte schlimmer sein als Verfolgung, Personen, die verschwinden und in „Umerziehungslager“ gesteckt werden?
Bisher nehmen die unwillkürlichen Festnahmen im Land weiter zu. Dies trifft nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ an Aktivist:innen oder Menschen, die sich ohne gültigen Aufenthaltsstatus (Hukuo) in Großstädten aufhalten. Sogar westliche Journalist:innen sind betroffen, wie ein Video zeigt, auf dem ein BBC-Vertreter festgenommen wird. Das Einzige, was er den Umherstehenden noch zurufen kann, war: „Informiert das Konsulat!“ Eine Exit-Strategie, die Chines:innen nicht haben. Kein Wunder also, dass gerade in dieser Zeit mehr und mehr sich nach einem politischen Umschwung sehnen.
Der Ruf nach Demokratie und Menschenrechten stellt nicht zufällig eine immer wiederkehrende Forderung von Protestbewegungen in China dar. Die Herrschaft der KP und die scheinbare Allmacht des obersten Führers, Xi Jinping, bedeuten auch, dass sich der Kampf um obige Forderungen direkt gegen diese Herrschaft richtet – und damit auch enorme Sprengkraft besitzt. Die Möglichkeiten chinesischer Bürger:innen und insbesondere von nationalen und ethnischen Minderheiten, aber auch der Arbeiter:innenklasse außerhalb der Großstädte, sind so begrenzt, dass unter der Oberfläche ein Vulkan brodelt. Es ist zugleich auch ein tiefer sozialer Widerspruch, denn schließlich profitierten der chinesische Kapitalismus, aber auch europäische und US-amerikanische Unternehmen von der Ausbeutung entrechteter Arbeitskraft.
Bewegungsfreiheit, ja selbst die Freiheit, sein Haus zu verlassen, gibt es in der chinesischen Variante des Lockdowns nicht. Die Straßen werden durch Polizei und Militär kontrolliert. Quarantäne bedeutet, in seinem Haus eingesperrt zu sein. Ganz zu schweigen von der dauerhaft fehlenden Versammlungs- und Pressefreiheit sowie Wahlen, bei denen nicht nur klar ist, dass sich nichts ändert, sondern auch welche immer gleichen Männer die Macht in ihren Händen halten werden.
Da wird schon ein weißes Blatt zum Politikum. Eben solch ein Blatt ist nun ein Zeichen des Protests, weswegen einige von der „white paper revolution“ sprechen. Es soll darauf aufmerksam machen, was alles nicht gesagt werden darf. Ob es tatsächlich eine Revolution wird, bleibt abzuwarten. Aber die von den Aktionen in Hongkong inspirierte kreative Protestform verdeutlicht, dass die Aktiven in verschiedenen Regionen voneinander lernen und verweisen auf entstehende, wenn auch noch schwache Verbindungen zwischen den Städten. Während der Proteste bleibt es nicht bei den unbeschriebenen Blättern. Wenn die Demonstrierenden diese in die Luft halten, skandieren sie: „Wir brauchen keine Diktatur, wir wollen Wahlen“.
Die Polizei reagiert mit Gewaltausbrüchen und Festnahmen. Insgesamt ist die Gewaltbereitschaft gestiegen, auch bei der Nichteinhaltung von Coronamaßnahmen. So gab es in Hongkong Angriffe der Polizei bei Maskenverweigerung. Allerdings sollte man nicht aus westlicher Arroganz heraus die chinesischen Proteste mit den reaktionären in Deutschland oder Österreich vermischen. Und auch das Nichttragen einer Maske in Zeiten eine Pandemie macht eine/n noch nicht zum/r Held:in.
Die Auswirkungen der Maßnahmen hierzulande sind auch nicht zu vergleichen mit denen in China. Denn trotz der immer mehr verarmenden Arbeiter:innenklasse in Europa gibt es zumindest in Ländern wie Deutschland formal einen Sozialstaat mit „Hilfsgeldern“ und Gewerkschaften als Interessenvertretung, die, auch wenn sie schlechte Abschlüsse in Tarifverhandlungen erzielen, zumindest einige Zugeständnisse erreichen können. Eben genau das, was es in China nicht gibt. Die soziale Lage ist untrennbar mit der wirtschaftlichen verbunden. Hier nur ein paar Beispiele:
Es wird auch in weiten Teilen Chinas langsam Winter. Wer kein Geld besitzt oder viel weniger als der Durchschnitt verdient, weil er oder sie nicht zur Arbeit kann, sondern zuhause eingesperrt ist, bekommt schlimmstenfalls gar nichts. Besonders diejenigen, die im großen Schattensektor der Großstädte ohne Arbeitserlaubnis arbeiten, betrifft dies. Kein Geld, kein Essen, keine Heizung.
Chinas Nutzen aus der Pandemie ist nicht mehr so stark wie zu Beginn, als sich seine Politik als die überlegene zeigte. Mittlerweile ist die westliche Welt durchgeimpft, zumindest alle, die es wollten, und immer mehr halbkoloniale Länder erhalten Zugang. China hingegen setzt auf Sinovac und Sinopharm, deren Wirksamkeit bei um die 50 % der modernen Impfstoffe liegt. 69 % der älteren Bevölkerung erhielten bisher eine vollständige Impfung. Die Infektionszahlen steigen dennoch oder gerade deswegen und die Regierung versucht, sie in den Griff zu bekommen. Vergebens. Eine großangelegte Impfkampagne oder die Zulassung der M-RNA-Impfstoffe sind nicht in Sicht.
Die ständigen Lockdowns zeitigen mittlerweile Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Produktivität sinkt, die jährliche Wachstumsrate auch. Letztere wird 2022 nur noch ungefähr 3,9 % betragen. Schon jetzt zeigt sich, dass Chinas Aufschwung und somit auch seiner Durchsetzungskraft im imperialistischen Konkurrenzkampf die Lockdowns im Weg stehen. Bereits jetzt machen sich aber auch die Proteste an den Börsen bemerkbar.
Ein weiteres Problem für Staatsführer Xi. Über kurz oder lang wird die Führung von der Null-Covid-Strategie in einem Land abrücken müssen. Denn es sind derzeit vor allem Investor:innen, die fernbleiben. Aber irgendwann setzt China auch die eigene Versorgung aufs Spiel. Wenn weite Teile regelmäßig nicht arbeiten können, hat das auch Konsequenzen für die Nahrungsmittel- oder Energieversorgung. Inwiefern in diesem Fall auch einfache Mitglieder des Militärs genug vom Eingesperrtsein, Trennung von der Familie und wirtschaftlicher Schwäche des Landes haben oder gar selbst die Gefahr von Versorgungsengpässen sehen und nicht mehr bedingungslos hinter der Führung stehen, bleibt abzuwarten. Schaden würde es nicht.
Besondere, längerfristige Bedeutung spielt die Rolle der Lohnabhängigen in der aktuellen Protestwelle. In Zhengzhou wurden Arbeiter:innen von Foxconn sogar an ihrem Arbeitsplatz zu Tausenden in Quarantäne gepfercht, nachdem es ein paar positive Tests gab. Einziger Vorteil daran, mit den positiv getesteten Kolleg:innen eingesperrt zu sein: Zum Organisieren weiterer Aktionen sind schon mal alle an Ort und Stelle. Auch hier kam es zu Protesten. Bisher scheinen sich aber noch keine Führungspersonen über lokale Aktionen hinaus herauskristallisiert zu haben.
Die Proteste sprießen mehr wie Pilze aus dem Boden, als sie koordiniert sind. Sie umfassen Jugendliche, Arbeiter:innen, aber auch die sog. „Mittelschicht“, die es vor allem in den Großstädten gibt. Oft spielen Studierende eine zentrale Rolle. Das spricht dafür, dass trotz der starken Überwachung der sozialen Medien nicht alles eingedämmt werden kann, birgt aber auch die Gefahr, dass diese Schwäche ausgenutzt wird. Eine Bewegung entsteht zwar dynamisch und „spontan“, eine richtungsweisende, fortschrittliche Führung und somit eine Strategie und Programmatik aber nicht.
Dieser besondere Moment muss genutzt werden. Wenn die Proteste so weiter gehen wie bisher, ist es wahrscheinlich, dass sie trotz ihres Elans und ihres Heroismus unterdrückt werden von einem zentralisierten Staatsapparat. Aber schon die Tatsache, dass die Regierung Versprechen zu Veränderungen ihrer Politik abgeben muss, verdeutlicht, dass sie diese Bewegung nicht bloß zerschlagen kann, weil ihr sehr bewusst ist, dass Tausende Demonstrierende nur die Spitze eines viel größeren Eisbergs an Opposition zum herrschenden Regime darstellen.
Zugeständnisse durch die Regierung, eine Modifikation ihrer Coronapolitik wären schon ein Teilerfolg, der zeigt, dass auch in China Widerstand nicht zwecklos ist. Schafft es der scheinbar allmächtige Xi in dieser Krise nicht, das Land wieder zu befrieden und die Wirtschaft anzukurbeln, könnte sich auch seine eigene Partei gegen ihn wenden. Aber die Menschen brauchen mehr als eine etwaige Reform von oben oder den Austausch von Führer:innen.
Wie auch immer die Bewegung weiter verlaufen wird, so wird sie einen prägenden Einfluss auf viele Aktivist:innen ausüben, weil sie grundlegende Fragen von Strategie und Taktik, Programm und Organisierung unter den Bedingungen des chinesischen Kapitalismus aufwirft. Dabei gilt es, den Kampf um demokratische Rechte mit dem der Lohnabhängigen zu verbinden, die Frage nach Meinungs- und Organisationsfreiheit mit der zu verbinden, welche Klasse das zukünftige China lenken soll.
Dabei wird die Verbindung der fortschrittlichen Teile der Studierenden mit der Arbeiter:innenklasse von entscheidender Bedeutung sein, denn letztlich kann nur sie die notwendigen Veränderungen erzwingen und durchsetzen. Dafür braucht es koordinierte Aktionen, Streikkomitees in Betrieben sowie in Stadtteilen und eine landesweite Vernetzung. Die aktuellen Proteste zeigen, dass wahrscheinlich demokratische Forderungen am Beginn der nächsten Welle von Aktionen stehen und größere politische Bewegungen rasch mit der Frage des Regimes konfrontiert werden. Außerdem dürfen all die mutigen Demonstrierenden im Osten des Landes, die mehr in der medialen Berichterstattung erscheinen, die Minderheiten im Westen sowie die Landarbeiter:innen nicht vergessen lassen. Die gezielte Spaltungspolitik der letzten Jahre muss überwunden werden. Dazu zählen die Abschaffung der Lager für Muslim:innen sowie des Hukuos, der Klassenzugehörigkeit qua Geburt aufrechterhält und zusätzlich die Arbeiter:innen auch geografisch spaltet.
Es braucht also einen gezielten Aufbau und eine Vernetzung der Kampfstrukturen auch über die großen Städte hinaus auf dem Land. Da rein legale Arbeit in China so gut wie unmöglich ist, muss ihr Aufbau, vor allem aber der einer revolutionären Partei auch mit illegaler Untergrundtätigkeit verknüpft werden.