Arbeiter:innenmacht

Frankreich: Macron geschwächt, RN erstarkt, zunehmende Klassenkämpfe

Copyleft, CC BY 4.0 , via Wikimedia Commons

Marc Lassalle, Infomail 1193, 20. Juli 2022

Frankreich hat eine lange Wahlsaison hinter sich. Sie begann im letzten Herbst mit dem Präsidentschaftswahlkampf, einschließlich der Vorwahlen in den großen Parteien, der ein fremden- und migrant:innenfeindliches Klima erzeugte. Während die Wiederwahl Macrons keine Überraschung war, bestätigten die anschließenden Parlamentswahlen mehrere wichtige Entwicklungen, die das politische Leben in Zukunft prägen werden. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wird die Partei des neu gewählten Präsidenten nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügen. In vielen Ländern mag dies normal sein, aber in Frankreich wurde es als brisant empfunden.

Präsidialverfassung

Die 1958 von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik hat eine Verfassung, die die Exekutivgewalt in den Händen des/r Präsident:in und nicht des Parlaments konzentriert. Der sozialistische Präsident François Mitterrand schrieb sogar ein Pamphlet, in dem er die Verfassung als „permanenten Staatsstreich“ anprangerte. Nachdem er selbst zum Präsidenten gewählt worden war, empfand er diese quasi-monarchische Macht natürlich als ganz praktisch. Da die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen manchmal Jahre auseinander lagen, sah sich der Präsident manchmal mit einem Parlament konfrontiert, das mehrheitlich aus Oppositionsparteien bestand, was zu der berühmten „Kohabitation“ zwischen einem linken Präsidenten und einem rechten Premierminister oder umgekehrt führte.

Im Jahr 2002 führte Staatspräsident Jacques Chirac eine Wahlreform durch, mit der die Wahlperioden von Parlament und Präsidentschaft synchronisiert wurden. Dies sollte einem/r neu gewählten Präsident:in eine komfortable Mehrheit sichern. In der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron war dies tatsächlich der Fall, und das Parlament spielte nur eine untergeordnete Rolle bei der Genehmigung der vom Präsidenten beschlossenen Maßnahmen.

Diesmal hat sich die Mehrheit der Wähler:innen, vor allem die der Arbeiter:innenklasse, jedoch anders entschieden. Macrons Bündnis fehlen 44 Abgeordnete zu einer funktionierenden Mehrheit. Die Arbeiter:innen hatten eindeutig die Nase voll von seinen zynischen Lügen. Im Jahr 2017 hatte er sich als Kandidat der Linken ausgegeben, und viele glaubten ihm. Sobald er jedoch an der Macht war, wurde sein wahrer Charakter als „Präsident der Reichen“ enthüllt. Er schaffte die Vermögenssteuer ab, setzte reaktionäre Reformen der weiterführenden Schulen und Universitäten durch und griff das Rentensystem, die Arbeitslosenunterstützung und den öffentlichen Sektor im Allgemeinen an. Diesmal beschlossen viele Wähler:innen, ihn zu stoppen, und zwar mit allen Mitteln.

NUPES

Dieser starke Druck von unten stand als Hauptkraft hinter dem Bündnis linker Parteien in der Nouvelle Union Populaire et Sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion, NUPES). Die NUPES wurde von Jean-Luc Mélenchon und seiner Bewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) angeführt, umfasste aber auch die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei, die Grünen und andere kleinere Gruppen. Nach wochenlangen Verhandlungen einigten sie sich auf ein linksreformistisches Programm mit 600 Maßnahmen unter dem Hauptslogan „Mélenchon als Premierminister“.

In den meisten Städten und vor allem in den Arbeiter:innenvierteln fiel die Stimmabgabe für die NUPES sehr hoch aus. Im Großraum Paris beispielsweise wurden fast zu gleichen Teilen Abgeordnete der NUPES und des Macron-Lagers gewählt. Le Pens Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung) (RN) erhielt keine Sitze, und für den traditionellen rechten (gaullistischen) Flügel blieb fast kein Platz. In Seine St. Denis, einer von Migrant:innen bewohnten und verarmten Präfektur nördlich von Paris, wählten alle Stimmbezirke Kandidat:innen der NUPES. Wichtige Persönlichkeiten aus der sozialen Bewegung, wie Rachel Keke, Anführerin eines erfolgreichen Streiks der Reinigungskräfte der Hotelkette Ibis, wurden auf der Liste der NUPES gewählt. Die daraus resultierenden 131 gewählten Abgeordneten sind jedoch weit von einer Mehrheit im Parlament entfernt, was Mélenchons Ziel war.

Rassemblement National

In beiden Wahlgängen konzentrierten Macron und seine Partei ihre Angriffe auf die NUPES und nicht auf die RN. Dieses zynische Manöver, das darauf abzielte, die Zahl der NUPES-Abgeordneten zu minimieren, beendete die historische Politik der „republikanischen Front“, für jede/n „Republikaner:in“ zu stimmen, um RN und Le Pen zu stoppen. Infolgedessen hat die RN-Kampagne einen Durchbruch erzielt, von nur 8 Abgeordneten im Jahr 2017 auf jetzt 89.

Dieser Erfolg ist nicht nur das Ergebnis von Macrons zynischem Opportunismus, sondern spiegelt auch die zunehmende Verbreitung offen rassistischer Propaganda im Lande wider. Während des Präsidentschaftswahlkampfes war Éric Zemmour, ein weiterer rassistischer Kandidat, maßgeblich daran beteiligt. Die Theorie des „großen Austauschs“, d. h. die groteske Lüge, dass die französische Bevölkerung durch Migrant:innen ersetzt wird, ist heute in den Medien und sogar unter den etablierten Politiker:innen weit verbreitet.

Im Vergleich zu ihm erscheint Marine Le Pen verantwortungsbewusst und sogar seriös. Ein ernsthafter Blick auf ihr Programm zeigt jedoch, dass sie die gleiche Ideologie und die gleichen Ziele wie Zemmour verfolgt. Dass viele Arbeiter:innen für Le Pen gestimmt haben, um ihre Wut gegen Macron auszudrücken, ist das Ergebnis des Scheiterns des Reformismus sowohl im Amt als auch in der Opposition. Die Verbreitung rassistischer, fremdenfeindlicher und absolut reaktionärer Ideen in einer Zeit der Wirtschaftskrise und Instabilität stellt eine drohende Gefahr für die französische Arbeiter:innenklasse in den kommenden Jahren dar.

Nach den Wahlen

Wird Macron in der Lage sein, eine ganze Amtszeit zu regieren? Nach den Wahlen bestätigte er die Regierung von Élisabeth Borne, einer Technokratin und ehemaligen Unternehmerin, mit mehreren Minister:innen aus dem rechten Lager. In seinem Interview zum Bastille-Tag machte der Präsident deutlich, dass er sein neoliberales Reformprogramm fortsetzen wird: Verschiebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre, Kürzung der Leistungen für Arbeitslose, kurzum: mehr Arbeit, weniger Steuern. Nachdem er die Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“ oder einer Koalition abgelehnt hat, rechnet er damit, im Parlament Unterstützung zu erhalten, sicherlich von Les Républicains (der gaullistischen Rechtspartei) und möglicherweise von einem Teil der Sozialistischen Partei.

Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der Inflation, der hohen Staatsverschuldung, des Krieges in der Ukraine und möglicher neuer Pandemiewellen könnte ihm dies bei seiner bonapartistischen Rolle, sich über die Parteien zu erheben, sogar helfen. Sollte sich das Parlament als Hindernis erweisen, hat er als Präsident die Macht, es aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Das letztgenannte Szenario ist jedoch auf kurze Sicht recht wahrscheinlich.

Die Linke

Trotz des Erfolgs der NUPES befindet sich die französische Linke in einer sehr schwachen Position. Mélenchon behauptet zwar, die NUPES stehe für einen „Bruch mit dem Kapitalismus“, doch sein Programm enthält keinen solchen Bruch und ist nur ein Katalog zahnloser Reformen, die selbst weit rechts von Mitterrands „gemeinsamem Programm der Linken“ aus den 1980er Jahren liegen. Sein Vorschlag für die kommenden Monate steht ganz im Zeichen seiner populistischen Zielsetzung. Er schlägt „Volkskarawanen zur Unterstützung der Bürger:innen bei der Wahrnehmung ihrer politischen und sozialen Rechte“ und einen „großen Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten“ vor. Er erwähnt die „Familien des Volkes“, die Arbeitslosen, die Armen, die Vergessenen, aber nie die Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe.

Sein Ziel besteht darin, die Arbeiter:innenklasse in einen „Volksblock“ nach dem Vorbild von Podemos aufzulösen. Märsche, Karawanen und andere Mobilisierungen dienen eindeutig nur seinem Ziel, an der Spitze dieses neuen Volksblocks mit parlamentarischen Mitteln an die Macht zu kommen. Von diesem langjährigen Mitglied und Senator der Sozialistischen Partei, der 1997 in der neoliberalen Regierung von Lionel Jospin eine Nebenrolle spielte und ein großer Bewunderer von François Mitterrand ist, ist nichts anderes zu erwarten.

Welche Art von politischer Verwirrung hat also die Führung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) zu folgender Analyse veranlasst?

„Heterogen und dem Druck der parlamentarischen Verhandlungen und dem Selbsterhaltungstrieb jedes ihrer Bestandteile ausgesetzt, ist die NUPES nicht stabil, aber sie könnte einen Schritt im Prozess der Neuzusammensetzung der Linken tun. Wir möchten eine aktive Rolle bei der Schaffung eines einheitlichen Rahmens für die Kämpfe und eines Programms zum Bruch mit der neoliberalen Ordnung spielen, wobei wir unsere politische und organisatorische Unabhängigkeit bewahren wollen.

Überall, wo es möglich ist, müssen wir vorschlagen, weiterhin einen Rahmen von vereinten Kämpfen für die Forderungen der Arbeiter:innen, der Volksschichten, für ökologische Ziele, zur Verteidigung der öffentlichen Dienste, gegen die extreme Rechte zu schaffen und eine Alternative zum Kapitalismus zu diskutieren.“ (Anticapitaliste 07/07/2022).

Die Verzweiflung über die eigene Zukunft der NPA und der tief liegende Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit einer revolutionären Lösung hat die Mehrheit dazu gebracht, einen gemeinsamen Block mit Mélenchon als einzige Perspektive zu akzeptieren und ihn „Neuzusammensetzung der Linken“ zu taufen. In den letzten Jahren haben mehrere Abspaltungen der NPA nach rechts diese Linie bereits in die Praxis umgesetzt und sind nun in der NUPES-Koalition vertreten.

Während die NPA zu Recht darauf besteht, dass „Kämpfe entscheidend sind“, kritisiert sie nie Mélenchons gefährlichen Populismus. Sie erwähnt nie, dass Mélenchon nie einen außerparlamentarischen Kampf initiiert oder angeführt, sondern nur mitgemacht und ihn dann für seine parlamentarischen Ambitionen ausgenutzt hat. Man beachte auch, dass die NPA, die als antikapitalistische Kraft geboren wurde, jetzt nur noch von einem „Bruch mit der neoliberalen Ordnung“ spricht und die Alternative zum Kapitalismus nur noch als Diskussionsgegenstand darstellt.

Klar ist, dass die NPA selbst sowohl heterogen ist (fast die Hälfte ihrer Mitglieder lehnt den Führungskurs ab) als auch immer wieder ihrem unbedachten Selbsterhaltungstrieb um jeden Preis nachgibt. Weitere Krisen und Spaltungen sind in den kommenden Monaten wahrscheinlich.

Trotz der Schwäche ihrer Führung antwortet die Arbeiter:innenklasse auf die Angriffe mit neuen Kämpfen. In den letzten Monaten sind zahlreiche Streiks ausgebrochen, vor allem im privaten Sektor: Eisenbahn-, Flughafen- und -linienpersonal, große Privatunternehmen wie Total (Erdöl) und Thales (Rüstungsindustrie), aber auch Versicherungsgesellschaften, Flugzeuge, Agrarindustrie usw. Die meisten dieser Kämpfe, die durch Inflation und niedrige Löhne ausgelöst wurden, haben die Bosse zu erheblichen Zugeständnissen bei den Löhnen gezwungen.

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Inflation könnte weitere Kämpfe auslösen und die Bedingungen für eine landesweite Protestwelle schaffen, die den privaten und den öffentlichen Sektor im Kampf gegen die Bosse und die Angriffe der Regierung vereint. Es ist dringend notwendig, dass die radikale Linke ein Kampfprogramm vorschlägt, das nicht durch die politischen Ziele der NUPES und der Gewerkschaftsbürokratie eingeschränkt ist und die Arbeiter:innenklasse gegen die rassistische Ideologie vereint, die sie spalten und schwächen soll.

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