Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021
Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen.1 Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“2, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.
Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus war die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet worden war. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekannten sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen aufzulösen. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag3 unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt. Auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.
Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderen bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – bis in die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980er Jahren zurück reichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken4. Nun aber zu Michael Löwy.
Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“ (S. 7). An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht. Aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ (S. 37) der ArbeiterInnen- und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“ (S. 28). Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.
Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und die immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert eine bedeutende Textstelle bei Engels selbst, die da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“5 Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass die marxistischen Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur im Engels‘schen Sinne, sprich dem Erkennen und Anwenden ihrer Gesetze.
Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“6 Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral’ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ (S. 33 f.) Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte, und damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“ (S. 139)
Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend den italienischen „Ökomarxisten“ Tiziano Bagarolo, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns [für den Entwurf eines ‚differenzierten‘ Fortschrittkonzepts] angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ (S. 25 f.) Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“7
Dass Löwy Marx‘ und Engels‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch. Immerhin bildet sie den Kern der materialistischen Geschichtsauffassung im Marxismus. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese Schlussfolgerung auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“8 Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!
Somit teilt Löwy ein gutes Stück die undialektische Interpretation eines Großteils der Sozialdemokratie und des Stalinismus vom Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. Demzufolge laufe in der Geschichte ein unilinearer Entwicklungsprozess der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ab, der auf einer bestimmten Stufe an die Schranke der Produktionsverhältnisse stoße. Somit wird der dialektische Charakter von Produktionsweisen, welche die Vermittlung des Gegensatzpaares von Produktivkräften (Inhalt) und Produktionsverhältnissen (Form) verkörpern, reduziert auf die Frage, ob die Produktivkräfte im quantitativen Sinn weiter wachsen können oder nicht, um den Übergang zu einer neuen Produktionsweise zu begründen. Es wird also nicht thematisiert, inwieweit der Gegensatz objektiv revolutionäre Möglichkeiten schafft, ja dieser gerade in der letzten aller Klassengesellschaften, dem Kapitalismus, mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit immer heftiger eklatieren muss. Vielmehr wird die Überlebtheit der jeweils aktuellen Produktionsweise, die notwendig die Überlebtheit bestimmter Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse beinhalten muss, verflacht so definiert, als ob die Produktivkräfte aufgehört haben müssen zu wachsen. Die Dynamik des Kerns der materialistischen Geschichtsauffassung wird somit eingeebnet. Leugnen die ÖkologInnen den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen und machen für die ökologische Katastrophe einseitig erstere verantwortlich, so entstellen AutorInnen wie Löwy und zumindest ein Teil der Öko-SozialistInnen den Marxismus ebenso wie die sozialdemokratischen und stalinistischen ApologetInnen. Für diese stellt sich die Frage der revolutionären Aufhebung einer Produktionsweise durch eine andere als eine objektivistische in Gestalt des Waltens und Wachsens der Produktivkräfte, nicht des subjektiven Faktors der revolutionären ausgebeuteten Klasse. Bagarolo fasst zudem den Widerspruch falsch als einen zwischen Produktivkräften und Produktionsweisen, nicht -verhältnissen. Die Sozialdemokratie, Stalinismus und Ökosozialismus letztlich gemeinsame einseitige Interpretation, die sie Marx und Engels unterschieben, ist streng genommen nur für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im engeren Sinne richtig. Weder auf den Übergang von klassenlosen zu Klassengesellschaften noch auf den zwischen vorkapitalistischen, auf dem Grundeigentum beruhenden Produktionsweisen ist diese enge Auslegung so ohne Weiteres anwendbar. Die Übergänge zwischen mykenischem Griechenland und den Stadtstaaten der klassischen Antike bzw. zwischen antikem Rom und europäischem Mittelalter waren oft mit langen Phasen des Rückgangs von Produktivkräften und Kultur verknüpft. Im weiteren und dialektischen Sinn bleibt natürlich die Aussage des Vorwortes hier richtig, weil gerade der Niedergang der Produktivkräfte zu anderen Produktionsverhältnissen führen muss, will sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Gemäß den revisionistischen Entstellungen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung müssten dagegen von der asiatischen Produktionsweise über die Antike bis zum Feudalismus sich die Produktivkräfte von Stufe zu Stufe stets gesteigert haben. Der Übergang zwischen diesen Produktionsweisen, so er denn überhaupt stattgefunden hat, muss nach diesem Konzept dann die Bremsen jeweils gelöst haben.
Doch der Geschichtsverlauf gleicht nicht einem mit zunehmender Geschwindigkeit stets vorwärts rollenden Fahrzeug, das ab und an abgebremst wird, um danach seine Fahrt umso zügiger fortzusetzen. Manchmal geht ihm der Sprit aus, wechselt es die Richtung, baut einen Unfall und die Besatzung wechselt es gegen ein anderes aus.
Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“ (S. 91 – 99), die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Dabei wird noch einmal der genannte Zusammenhang zur Revision der Marx‘schen Auffassung der Produktivkräfte deutlich: „Der Sozialismus und die Ökologie beinhalten beide qualitative soziale Werte, die nicht auf den Markt reduzierbar sind. ( … ) Diese Konvergenz der Empfindsamkeiten wird nur möglich, wenn die MarxistInnen ihr traditionelles Konzept der ‚Produktivkräfte‘ einer kritischen Analyse unterziehen – und wenn die ÖkologInnen mit der Illusion einer im Grunde natürlichen ‚Marktwirtschaft‘ brechen.“ (S. 94)
Die ökosozialistische Ethik müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ: „Die ökologische Krise, die das natürliche Gleichgewicht der Umwelt bedroht, gefährdet nicht nur Fauna und Flora, sondern auch und vor allem die Gesundheit, die Lebensbedingungen und das Überleben unserer Spezies. Der Kampf für die Rettung der Umwelt, der notwendigerweise zugleich ein Kampf für einen Zivilisationswandel ist, wird zum humanistischen Imperativ, der nicht nur diese oder jene Klasse betrifft, sondern die Gesamtheit der Individuen und jenseits davon auch die kommenden Generationen.“ (S. 95) „Ein Paradigmenwechsel wird benötigt, ein neues Zivilisationsmodell, kurz: eine revolutionäre Umwälzung.“ (S. 97) Hier verlässt Löwy nicht nur den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe. Mit dem Verweise auf die Betroffenheit „nicht nur dieser oder jener Klasse“ bereitet er implizit einer „ökologischen Volksfront“ den Boden, sprich einer klassenübergreifenden Strategie zur Abwendung der ökologischen Katastrophe.
Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém/Brasilien (2008)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökosozialistische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ (S. 169 f.) Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.
Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt. Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterInnenpartei formieren, zum politischen Subjekt werden, um die Mehrheit der Lohnabhängigen (und unter ihrer Führung auch Teile des KleinbürgerInnentums) für den Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse befördert werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu dessen Zielen.
Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Allerdings geht er dabei so weit, dass er die Übergangsdynamik vom Kapitalismus zum Sozialismus im Kampf für (ökosoziale) Reformen verortet: „Der Kampf für ökosoziale Reformen zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, des Übergangs von Minimalforderungen zu einem Maximalprogramm, unter der Bedingung, dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft ( …).“ (S. 37) Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, die den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft bezeichnen. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur solche versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind („dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft“), etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen und nicht mit der Intervention einer revolutionären Vorhutpartei zum Zweck der Lösung der Machtfrage verbunden werden. Aber lassen wir Trotzki im Namen der IV. Internationale selbst zu Wort kommen:
„Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. ( … ) Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; ( … ) wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.
Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. ( … )
Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal‘-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. ( … ) Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen ‚Minimal‘-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt –, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“9
Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für (ökosoziale) radikale Reformen, sondern zielen auf einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft, im Besonderen durch den Aufbau proletarischer Gegenmacht. Im Gegensatz dazu weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um Minimalforderungen, gepaart mit einem ökologischen Maximalismus, hinaus.
1 Dieser Beitrag ist eine Ausweitung und Überarbeitung des im Jahr 2019 erschienenen Artikels „Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy“ (siehe http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=3957). Insbesondere der Abschnitt zu den Produktivkräften wurde zugespitzt und jene zur ökosozialistischen Ethik sowie zur Übergangsmethode mit Zitaten versehen.
2 Löwy, Michael: Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, LAIKA Verlag, Hamburg 2016
4 http://marxismus-online.eu/display/dyn/paf1276a7-5407-4e3f-9299-eaedaed2660d/content.html
5 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, MEW 20; Berlin/O. 1962, S. 452 f.; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 67
6 Marx, Karl: Vorwort zu ders.: Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 9; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 69
7 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin/O. 1969, S. 69; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 70
8 Marx, Karl: Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW 23, Berlin/O. 1971, S. 54
9 Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938). In: Ders.: Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 – 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen o. J., S. 7 f.